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Die Eiskalten und das Emilbäumchen

(Schluss)

 

Genosse Wegener litt nicht an zu großem Durst, sondern an seinem weichen Gemüt. Ich hatte ihn der Kreisleitung zur Verfügung gestellt, für die Überprüfung von privaten Geschäftsleuten. Damals waren von 15.000 Industriebetrieben 13.000 in privatem Besitz, Privatleute überwogen im Einzelhandel, im Handwerk, im Bauwesen. Um angesichts der wachsenden Kriegsgefahr die nötigen Mittel zusammenzubekommen, zogen wir die Steuerschraube an, trieben rigoros Steuerrückstände ein.

„Ich kann das nicht mehr! Gib mir 'nen anderen Parteiauftrag." Genosse Wegener sah aus wie Hans Albers, war aber weich wie Butter.

„Was ist denn los?"

Er erzählte, daß seine Arbeitsgruppe vergangene Woche eine Kohlenhandlung überprüft hatte. Alles in Ordnung. Dann fanden sie doch noch eine nicht inventarisierte Schreibmaschine. Steuerhinterziehung! Enteignung!

„Die Olle hat jeweent. Ne olle Frau, Witwe, Mensch! Die beeden Kerle, ihre Kohlenträger, waren völlig geklatscht. Weene nich, Mutter Reschke, hat der eine jesacht. - Ich kann das nicht!"

„Aber daran erinnerst Du Dich doch wohl, wie die Händler uns behandelt haben, im Krieg und in den ersten Jahren danach, wenn wir was wollten? Zehn Kohlen wolln se haben? Ham se Zijaretten? Ich kann mich noch gut erinnern, wie mich der Kerl in dem Butterladen, dort, wo ich wohnte, angepfiffen hat, wenn ich in seinen Laden kam und 'Tag' sagte: 'Heil Hitler heißt dett!' wurde ich angeschnauzt!" ,   „Is ja alles richtig. Aber ich kann das nicht. Die Olle tut mir leid."

„So ist das immer. Wir sind für den Sozialismus und die Enteignung der Ausbeuter. Aber wenn der Ausbeuter ne olle Frau ist, werden wir weich. Wer wird denn mit uns Mitleid haben, wenns mal anders kommt, wie viele hoffen?"

„Is ja richtig, nee, ich weiß nich, ob's ganz richtig ist ... Die Olle und ihre beiden Kerle... Gib mir 'nen andern Parteiauftrag."

Ich hatte beobachtet, wie Genosse Wegener mit leuchtenden Augen den Motor eines Flugzeugmodells betrachtet hatte, das der eben gegründeten GST-Gruppe der Lehrwerkstatt übergeben worden war. „Guck mal, ein kleiner Diesel", hatte er sich gefreut.

„Kümmere Dich um die GST, um die Lehrlinge!"

Genosse Wegener war glücklich. Unsere GST wurde zu einer der besten im Kreis Treptow.

Zu meinem Erstaunen verurteilten fast alle Arbeiter unser Vorgehen gegen die privaten Händler. Die bekamen nämlich ab März 1953 keine Lebensmittelkarten mehr. Sollten sie eben zu hohen Preisen in der HO einkaufen!

Damals gab es ein doppeltes Preissystem, die Lebensmittelkarten begrenzten nicht mehr den Bezug von Lebensmitteln, sie waren zu Anrechtscheinen für den Kauf einer bestimmten Menge von Waren zu sehr niedrigen Preisen geworden. Wollte man mehr Butter, Brötchen, Wurst, konnte man das zu höheren Preisen im Staatlichen Einzelhandel kaufen. Damit war der Schwarze Markt erledigt. Aber die Preise waren gepfeffert: eine Bockwurst auf Marken neunzig Pfennige, in der HO fast fünf Mark!

Ich hatte einen Haß auf die Händler. Wie hatten sie uns behandelt, wenn wir demütig vor dem Ladentisch standen und ihnen unsere Karten hinreichten, damit sie die Marken der jeweiligen Woche abschneiden konnten! Sie hatten nie gehungert, der Bäcker hatte was für den Fleischer, der was für den Drogisten, der für den Schneider. Auch waren die meisten Nazis gewesen, kleine zwar, die wir 1945 nicht bestraft hatten, sonst hätten wir Millionen Deutsche bestrafen müssen. Doch das dankten uns nur wenige. Die Arbeiter aber erklärten rundheraus, es sei Quatsch, den Händlern die Lebensmittelkarten zu entziehen.

„Woher wer'n se denn ihre Butter neh'm? Denkste, die kaufen se in de HO? Quatsch! die schneiden sie von unsere Butter ab, Mensch! Die sind doch nich dämlich!"

Dem konnte ich nichts entgegensetzen. Es lag auf der Hand. Sah die Parteiführung das nicht?

Es kam noch schlimmer. Die Händler befürchteten, daß sie alle enteignet werden würden. Besonders in Berlin türmten viele nach Westberlin. Die Läden blieben geschlossen, das Einkaufen wurde immer beschwerlicher. Die Unzufriedenheit wuchs. Sie wuchs noch mehr, als wir den Lebensstandard der Arbeiter direkt senkten. Die verbilligten Arbeiterwochenkarten für öffentliche Verkehrsmittel wurden abgeschafft. Die Marmeladepreise heraufgesetzt. Marmelade spielte damals eine ganz andere Rolle als heute. Sie war, zusammen mit Kunsthonig, der Brotaufstrich schlechthin. „Marmelade, Marmelade, gibt Kraft für 1.000 Jahre", hatten wir während des Krieges gesungen. Und „Marmeladinger" hatten die Österreicher ihre norddeutschen Brüder genannt.

Sehr schwierig wurde es, als das ND die Erhöhung der Marmeladenpreise als Verbesserung des Lebensstandards hinstellte. „Wat soll denn dett!" Darauf wußte ich auch keine Antwort.

Darum ginge es auch nicht, sagte ich. Wir müssen jetzt alle Mittel zusammenkratzen, auf manches verzichten, um erst mal die Schwerindustrie aufzubauen, dann werde es schnell besser gehen.

Die Arbeiter respektierten meine Haltung. Aber sie stimmten mir nicht zu. Sie waren bedrückt. Der Plan, der langsam gewachsen war, bröckelte wieder ab. Die Debatten wurden schärfer, ehemalige Nazis brachten in die Diskussionen ihr Gift ein. Unsere Genossen hatten einen schweren Stand. Trotzdem wuchs die Parteiorganisation, der Zusammenhalt der Genossen wurde fester, weil sie klare Aufgaben erhielten, die sie erfolgreich bewältigen konnten und weil die Parteiorganisation keiner Frage der Belegschaft auswich. Natürlich wurden bei weitem nicht alle unsere Argumente akzeptiert. Aber unsere Meinung war bekannt. Keiner konnte sagen, wir drückten uns um etwas herum. Und wir halfen, wo wir konnten.

Da kam ein Schlosser zu mir, fragte, ob er nicht mehr Geld verdienen könne, er käme mit seinem Lohn nicht aus. Ich hütete mich zu sagen, wer tut das schon, sondern fragte, woran das liege, er verdiene doch nicht schlecht?

Er erzählte, daß seine Frau geistesgestört sei und er für Pflegekosten in der Psychiatrie teilweise aufkommen müsse. Damals waren noch keineswegs alle medizinischen Leistungen umsonst. Außerdem müsse er zweimal in der Woche eine Frau bezahlen, die die Wäsche mache und für seine drei Kinder sorge. Wochenheime und Kindergärten gabs erst wenige, das Leben eines Schichtarbeiters in solcher Lage war sehr schwer. Ich fragte, was denn passiert sei, bei der Heirat sei seine Frau doch sicher noch gesund gewesen?

„Wir sind aus Breslau. Als wir raus mußten, haben die Polen zuletzt auch noch die Nähmaschine von unserem Handwagen geholt. Das hat meiner Frau den Rest gegeben."

Ich dachte lange nach. Dann sagte ich vorsichtig: „Das kann ich verstehen, daß Deiner Frau das so nahegegangen ist. Aber habt Ihr auch mal daran gedacht, daß die meisten Polen weitaus mehr als eine Nähmaschine verloren haben? Sechs Millionen wurden ermordet!"

„Ja, aber dafür kann ich doch nichts! Ich hab in Breslau im Reichsbahnausbesserungswerk gearbeitet..."

„Und in den Waggons wurden Juden und Polen nach Auschwitz ins Gas und unsere Soldaten zum Verheizen an die Front transportiert!"

Der Schlosser schwieg.

„Ich weiß, daß Du nichts dafür kannst. Oder richtiger: wir alle können dafür, weil wir das nicht verhindert haben. Mehr Lohn für Deine Arbeit können wir Dir nicht zahlen. Aber ..." Ich überlegte. Der Mann war als guter Facharbeiter bekannt. Politisch war er eine Null. Aber er war zum Parteisekretär gekommen, wahrscheinlich hatten Kollegen ihm das geraten! Was sollte ich tun? Im Betrieb gab es keine Stelle, an der er mehr verdienen konnte als jetzt, noch dazu ohne Schichtarbeit. „Ich werde den Obermeister der Lehrwerkstatt fragen, ob er Dich haben will. Dort fehlen Ausbilder."

Der Schlosser war zufrieden.

Der Obermeister sagte mir, daß er sich große Mühe gebe. Bei ihm lernten die Jungens was! Und auch Ordnung und Disziplin! An seinen Werkbänken fände man nach Feierabend keinen Metallspan und keinen Tropfen Öl! Die Maschinen seien blank wie Messemuster. Politisch sei er völlig passiv, aber „da sind wir ja auch noch da, die Genossen und die FDJ!"

Wir brauchten unbedingt einen neuen Meister für die mechanische Werkstatt. Der jetzige soff, hatte keine Autorität, der Ausschuß wurde nicht weniger.

Nachdem mir Max Trosin erklärt hatte, wozu er den Rechenschieber brauchte, hatte ich mir bei Konrad Simmert seine Personalakte angesehen. Maxe war bei Heinkel in Rostock Obermeister gewesen! In der Parteileitung diskutierten wir, ob man den alten Meister ablösen müsse und wen man an seine Stelle setzen könne. Der Kaufmännische Direktor, der zuvor über die Materiallage berichtet hatte, war noch geblieben und verteidigte den alten Meister. Man müsse auch ein bißchen tolerant sein, so schlimm sei es mit dem Saufen nicht.

„Tollerant! Du bist nicht tollerant!" Max regt sich auf. „Du bist bloß zu bequem, pich auseinanderzusetzen! Ja, Du gehst allem aus dem Wege, und das nennst Du dann tollerant!"

Der Kaufmännische kriegt einen roten Kopf.

„Max hat recht. Gleichgültigkeit hat nichts mit Toleranz zu tun."

„Sicher", sagt der Werkdirektor, „aber diese Erkenntnis schafft uns noch keinen neuen Meister, oder weiß jemand einen?"

„Ja", sage ich, „Max Trosin. Der war nämlich Obermeister bei Heinkel".

Max blickt wie ein Uhu. „Du bist ja ein ganz gemeiner Hund!"

„Ich hab' aber nichts verraten, Max", sage ich. Ich begriff, daß er erkannte, daß ich mich nach dem Gespräch über den Rechenschieber für seine Vergangenheit interessiert haben mußte

„Das nich, aber Du hast Mißbrauch jetrieben damit!"

Die anderen verstanden unseren Streit nicht, aber das war auch unwichtig. Der Meister war entdeckt, Max konnte sich nicht weigern, auch wenn er seine letzten Jahre am liebsten an seiner Fensterbank verbracht hätte. Er ging mit großer Energie an die Arbeit.

„Jetzt hört die Pfuscherei auf! Was, das geht nicht? Dat kannst Du wohl nicht, das isses! Das macht man so, und nun los!"

Nur Emil Unterberger konnte von gleich zu gleich mit ihm reden. „Das ist auch ein Könner!"

Wir hatten einen neuen Werkleiter bekommen, den Genossen Jürgen Kreuziger, einen Diplomingenieur. Sein Vater war einer der bekanntesten Berliner Sozialdemokraten gewesen, Max Kreuziger, der zusammen mit dem Kommunisten Ernst Wildangel die Demokratische Schulreform in Berlin durchgeführt hatte. Genosse Kreuziger hatte Dieselmotoren gebaut, während Goetze Elektromonteur gewesen war. Kreuziger arbeitete sich schnell in die Probleme des Baus von Kompressoren ein und hatte größeren Einfluß auf Rohde, der nun nicht mehr unkontrolliert schalten und walten konnte.

Dennoch gelang es 1952 nicht, den Plan zu erfüllen. Ein paar Prozent fehlten, obwohl wir noch Sonderschichten eingelegt hatten. Dafür hatte ich aus der Parteikasse Geld für Agitationszwecke genommen und in der HO echten Tee sowie Zucker und Zitronen gekauft. Kreissekretär Überfeld billigte das. „Gute Argumente", meinte er, „aber quatsch' es nicht rum, sonst kriegen wir beide was auf den Deckel."

Das ND behandelte die Lage im Kühlautomat und warf der Parteiorganisation vor, sich ungenügend um die Planerfüllung gekümmert zu haben. Das stimmte. Aber ich war der Meinung, daß es zunächst wichtiger gewesen war, den politischen Kontakt mit der Belegschaft zu festigen. Geschah das nicht, könne man sie nicht zum Kampf um die Planerfüllung gewinnen! Damit kam ich schlecht an. Da ich jedoch meine Versicherung, daß wir jetzt stark genug geworden seien, um auch die Planerfüllung zu schaffen, bald beweisen konnte, fand meine Arbeit doch die Billigung der Berliner Landesleitung.

Gerüchte liefen durch den Betrieb. Stalin ist tot! Der RIAS hat es schon gebracht! Kreuziger und ich gingen durch den Betrieb, in jede Abteilung.

„Stimm das? Warum bringt unser Sender nichts?"

„Ich weiß es nicht. Aber wir müssen uns darauf einstellen. Wenn die Sowjetunion es bestätigt, werden wir es senden. Wir können doch nicht die Meldungen des RIAS aufgreifen!" Ich ging auch bei Lange vorbei. Ein Gespräch kam nicht zustande. Er war noch finsterer und abweisender als sonst.

„Stalin ist gestorben! Der Berliner Rundfunk hat's eben gemeldet!" Die Sekretärin des Werkdirektors hatte uns endlich gefunden.

Ich berief sofort eine Belegschaftsversammlung ein. Unübersehbar: besorgte Gesichter. Unruhe, ja Angst, auch bei Kollegen, die uns nicht nahestanden. Es war Sorge um den Frieden, Angst, daß die USA eine Schwächung der Sowjetunion ausnutzen könnten, einen Atomkrieg zu entfesseln. Ob Freunde der Sowjetunion oder nicht - daß ihre Stabilität eine Garantie für den Frieden war, diese Meinung wurde von den meisten geteilt, gleich, ob sie nun unseren neuen Weg der gesellschaftlichen Entwicklung bejahten oder nicht. Man mußte den Menschen etwas sagen, was Mut machte. Man konnte nicht auf Anleitung, auf Direktiven warten, sofort mußte das Wort der Kommunisten kommen, bestimmt, verständlich, eindeutig.

„Die internationale Arbeiterbewegung hat einen unermeßlichen Verlust erlitten", sagte ich. „Aber sie ist so stark, daß sie auch der Tod einer so überragenden Persönlichkeit wie die Stalins nicht schwächen kann, sie keine Sekunde davon abhält, den Sozialismus weiter aufzubauen und um die Erhaltung des Friedens zu kämpfen. Darin gerade besteht die Kraft der sozialistischen Parteien, daß sie Dank des Marxismus-Leninismus eine Weltanschauung besitzen, die sie in die Lage versetzt, ihre geschichtliche Aufgabe zu vollbringen."i

Ich überlegte. Dann sagte ich etwas, was, wie sich später zeigte, so nicht stimmte, aber im Prinzip dennoch richtig war, denn auch die bösen Verletzungen der Kollektivität durch Stalin, von denen wir damals nichts wußten, hatten dieses Prinzip zwar beschädigen, aber nicht aus der internationalen Arbeiterbewegung eliminieren können:

„Darin besteht ja gerade die Größe Stalins, daß er nicht allein die Partei führte, sondern eine Parteiführung geschaffen hat, die in der Lage ist, unsere Sache zum Nutzen der friedliebenden Menschen in aller Welt fortzusetzen. Laßt uns an die Arbeit gehen. Mit der Erfüllung des Plan ehren wir am besten das Andenken Stalins."

Sehr bald zeigte sich, wie gut es gewesen war, daß wir diese Versammlung gemacht hatten. Die Belegschaft hatte die Genossen nicht ratlos, nicht zerfahren gesehen, sondern in Stunden, in denen unsere Feinde auf Verwirrung und Depression gehofft hatten, geschlossen und kampfbereit.

Am nächsten Tag erklärte der Werkdirektor, er habe vom Minister die Weisung, vor der Belegschaft zum Tode Stalins zu sprechen. Ein Text dazu sei ihm zugegangen.

Halten die uns denn für blöd? dachte ich. „Was soll das? Wir haben unsere Versammlung doch schon gestern gemacht?"

„Ich kann's nicht ändern, sagte Jürgen Kreuziger, „ich muß mich an die Weisung

halten."

Ruhig und diszipliniert hörten sich die Leute die Ansprache an. Ich dachte, wieviel Boden wir wohl in den Betrieben verloren hatten, in denen die Parteiorganisation sich nicht sofort, auf eigene Verantwortung, mit eigenen Worten an ihre Kollegen gewandt hat! Denn noch am gleichen Tag setzte eine beispiellose Hetze des Gegners ein. Das Ziel war, Unsicherheit darüber zu verbreiten, ob die DDR Bestand haben werde.

Gewaltig war der Zug der Berliner, die am Stalindenkmal in der Stalinallee vorbeizogen. Trauer, tiefe Sorge um den Frieden hatte diese Menschen erfaßt. Auch viele Kollegen aus dem VEB Kühlautomat waren gekommen. Tags darauf sah ich in der Wochenschau, wie immer wieder Menschen mit Blumen und Kränzen an das Denkmal herantraten. Ein Mann brach in Tränen aus und schlug die Hände vor das Gesicht. Ich erkannte ihn. Es war mein Freund Ewald Bach.

Es folgte eine merkwürdige Zeit. Unsicher war alles geworden, schwer durchschaubar. Ging es noch um die Schaffung der Grundlagen des Sozialismus? Oder hatten wir dieses Ziel aufgeschoben? Einerseits war der Koreakrieg fast beendet, ein Kriegsherd gelöscht. Andererseits verschärfte sich die Lage in Europa. Die antikommunistische Hetze, die Diffamierung der „Soffjetzone" nahm unerhörte Ausmaße an. Die neuen Machthaber im Kreml, so der RIAS, hätten nach dem Tode Stalins erst mal damit zu tun, die inneren Verhältnisse der Sowjetunion zu stabilisieren. Dazu brauchten sie außenpolitisch Luft, sie würden die DDR preisgeben, damit die USA sie in Ruhe ließen. Die DDR stünde zur Disposition! Man könne es auch an den Mailosungen der KPdSU erkennen: Es leben die Volksdemokratien! Es lebe die DDR! Die DDR gehörte nicht so ganz dazu.

Die Unsicherheit wuchs, die Unzufriedenheit mit dem wieder schlechter werdenden Leben nahm zu. Nazis und Kriminelle trauten sich, das Maul aufzureißen. Unter den Transportarbeitern gab es einen üblen, verkommenen Kerl, dem es gelungen war, die Jungen der Transportkolonne auf seine Seite zu ziehen. Von dieser Gruppe ging der Widerstand gegen unsere Werbung für die Volkspolizei aus. Beleidigungen, Verleumdungen der KVP krochen durch das Werk, doch man wußte nicht, wer die Urheber waren.

„Der behauptet, daß der KVP-Posten ein Mädchen in seinen Postenstand gelockt und vergewaltigt hat!" Endlich hatte es einem der jungen Transportarbeiter gereicht. Er erzählte, was der Brigadier so alles verbreite. Das war kein Pauli, der im Suff Unfug trieb. Der Reviervorsteher kannte keine Nachsicht, als ihn der Betriebsschutz informierte. Ich informierte die Belegschaft.

Solche Informationen, meist handelte es sich allerdings um Planerfüllung, um die Politik, gab ich in der Mittagspause, im Speisesaal. Ich sprach dort kurz zu allen Fragen, die die Leute interessierten, Wiederbewaffnung der BRD, zur Politik der Ziethenstraße und andere Themen, bevor die Kollegen abends die Darstellung des RIAS hören konnten. An den Reaktionen während meiner kurzen Ausführungen konnte ich beobachten, wie die einzelnen zu uns standen. Die meisten hörten beim Essen zu. Manche blieben teilnahmslos, einige, die sich möglichst weit von der Stelle, von der aus ich redete, wegsetzten, demonstrierten Desinteresse, redeten unter sich. Wenn sie das zu laut taten, passierte es, daß andere sie mahnten, leiser zu sein. Sie wollten hören, was der Parteisekretär zu sagen hatte.

Der Einfluß der Parteiorganisation war so gewachsen, daß wir es nicht mehr nötig hatten, stundenlange Debatten darüber zu führen, ob das denn nun stimme, was der RIAS sendete oder was im Telegraf stand. Auch wenn die Parteiorganisation, die Lehrwerkstatt eingeschlossen, vielleicht nur 8 Prozent der Belegschaft ausmachte, besaß sie beachtliche Autorität.

In der Schweißerei kam ich mit einem neuen Kollegen ins Gespräch. Schon nach einigen Worten merkte ich, daß ich es mit einem unverbesserlichen Nazi zu tun hatte. Wir redeten so herum, tasteten uns ab. Die Kollegen hörten gespannt zu, sie hatten den Kerl noch nicht durchschaut. Da machte er einen Fehle.r Er hielt es nicht für möglich, daß viele parteilose Arbeiter zur SED standen, und er unterschätzte den Parteisekretär. Er war Westberliner und behauptete, in Westberlin dürfe er nicht die Wahrheit sagen. Ich erwiderte, was er in Westberlin nicht sagen dürfe, könne er gewiß hier bei uns sagen.

„Na gut Also, an allem Unglück sind die Juden schuld."

Ich war verblüfft Ich hatte nicht erwartet, daß einer so direkt mit Naziparolen operieren würde. Auch waren die Juden, vor allem bei den Jüngeren, kein Thema meh.r Ich betrachtete die Kollegen. Es waren gerade meist die Jüngeren, denen die Naziparolen nicht mehr viel sagten. Aber ich wußte, worauf der Lump abzielte. Nach den Juden kamen die Russen dran und dann die SED. Ich glaubte es nicht mehr nötig zu haben, mit diesem Kerl ernsthaft zu diskutieren und sagte:

„Ja, Du hast recht. Der alte Jude Göring und die Juden Krupp und Siemens, die haben den Krieg gemacht und uns ms Unglück gestürzt!"

Die Kollegen grinsten. Sie hatten inzwischen gelernt, daß das deutsche Monopolkapital für die Verbrechen verantwortlich war. Als ich das sah, schlug ich zu:

„Wenn Du hier arbeiten willst, weil Du in Westberlin keine Arbeit findest - bitte, aber halte Deine verdammte Nazischnauze und laß die dämlichen Reden!“

Der Neue tat empört Man könne nicht seine Meinung sagen, das sei undemokratisch, aber er wolle lieber ruhig sein, etwas gegen den Parteisekretär zu sagen sei gefährlich.

„Red' nicht so'n Quatsch", sagte einer der Jüngeren „Mit unserem Parteisekretär kannste über alles reden, aber Deine Nazisprüche wollen wir nicht hören!"

Der Neue kam am nächsten Tag nicht wieder. Ich sprach dann noch mal mit den Kollegen, sagte, daß es ein Unterschied sei, ob jemand ehrlich seine Meinung sage - da konnten wir immer diskutieren, oder ob einer antikommunistische Hetze verbreite.

„Das brauchst Du uns nicht mehr zu erklären, mit solchen Leuten muß man Schluß machen. Aber wie war das nun mit den Juden? Mein Vater sagt auch, daß sie alle reich waren Wir wohnen nämlich in Weißensee, waren mal auf dem Friedhof, da kannste Grabdenkmäler sehen - mein lieber Mann, Tausende haben die gekostet, die müssen die Leute ganz schon beschissen haben!"

Ich sagte, daß alle Bankiers und Fabrikbesitzer, ob Juden oder nicht, die Leute ausgebeutet hatten, klar. Aber die Juden hatten es den Leuten nur schwer recht machen können. Waren sie reich, bewies das, daß sie betrogen, waren sie arm und schmutzig und konnten sich keinen Grabtempel leisten, bewies es das Gegenteil: der Jude ist faul und will nicht arbeiten Und ich brachte Michael Golds „Juden ohne Geld" mit, eine Geschichte armer jüdischer Einwanderer, die aus Bjelorußland die Traditionen der frommen Juden mit nach New York brachten und dort allmählich lernten, daß der jüdische Konfektionär ebenso ein Ausbeuter ist wie der italienische Spaghettifabrikant und daß der katholische italienische Arbeiter ebenso ausgebeutet wird wie der jüdische.Näher. Seitdem war ich Golds Buch los. Ich bekam es nicht wieder. Aber es war nicht von einem verkappten Nazi aus dem Verkehr gezogen worden, sondern aus gelegentlichen Bemerkungen entnahm ich, daß es von Hand zu Hand ging. Ich verzichtete gern auf Rückgabe.

Das war nicht die einzige Auseinandersetzung mit faschistischem Denken. Im Werkzeugbau arbeitete ein ehemaliger Leutnant, ein sogenannter Kriegsoffizier, also einer, der wegen Tapferkeit aus dem Mannschaftsstand, ohne Abitur, zum Offizier befördert worden war Er bestritt, daß es Kriegsverbrechen gegeben habe, wollte von Auschwitz nichts hören, russische Lügen waren das.

Ich brachte ihm eine illustrierte Broschüre mit, die die Amerikaner 1945 herausgegeben hatten. Die Fotos zeigten das KZ Buchenwald am Tage des Eintreffens der amerikanischen Truppen. Eisenhower selbst hatte es besichtigt, er war auf den Fotos zu sehen, wie er mit finsterer Miene die Leichenhaufen betrachtete und sich mit den Skeletten ähnelnden Überlebenden unterhielt. Buchenwald mußte die Amerikaner sehr beeindruckt haben. Sie befahlen, daß alle Erwachsenen Weimars das Lager zu besichtigen hatten, sonst hatten sie keine Lebensmittelkarten bekommen.

Auch die Werkzeugmacher waren beeindruckt. Max Trosin sorgte dafür, daß der ehemalige Leutnant das Heft auch las. Er hielt danach die Klappe, aber verschloß sich uns gegenüber. Es war manchen Leuten unbequem, die Wahrheit über das Naziregime zu erfahren, auch wenn sie selbst keine Verbrechen begangen hatten. Es paßte ihnen nicht, wir gingen ihnen auf die Nerven, verlangten Einsichten, Schlussfolgerungen. Wir gingen nicht immer einfühlsam zu Werke. Wir verabreichten die Wahrheit wie Lebertran - ist gesund, schmeckt aber nich.t Manche schluckten sie und wurden gesund, andere spuckten sie aus, sie gingen nach dem Westen, wo man sie in Ruhe ließ. Bis auf den Dreher, der seine Kaninchen züchtete, versperrten sich die mir bekannten Sozialdemokraten jedem Gespräch, obwohl wir sie als Genossen ansprachen und behandelten.

Eine offen gegen uns auftretende Gruppe gab es nicht. Die Autorität der Parteiorganisation war groß, auch viele parteilose Arbeiter unterstützten uns offen, so daß verkappte Nazis sich duckten. Nur einmal waren wir gezwungen, gegen eine Reinemachfrau vorzugehen. Sie hatte behauptet, die Rosenbergs waren verdammte jüdische bolschewistische Atomspione, die hingerichtet werden müssten. Die Frau war dumm, es hatte eigentlich nicht gelohnt, sich mit ihr zu befassen, aber sie drohte uns bei den Gewerkschaftswahlen Schwierigkeiten zu machen.

Diese Wahlen hatten wir sehr gründlich vorbereitet. Mehrmals hatten wir in der Parteileitung gemeinsam mit Erich Lichy über die Kandidaten für alle Funktionen beraten. Bis auf die Direktoren und die Abteilungsleiter sollten alle Genossen eine Funktion übernehmen und hatten sich der Wahl zu stellen. In der Parteiversammlung hatte ich Lenins „Die Rolle der Gewerkschaften in der NÖP" behandelt. Gute Gewerkschaftsarbeit, intensive Mitwirkung auf allen Gebieten des Gewerkschaftslebens betrachteten wir als wirksamste Form des Zusammenwirkens mit den Kollegen.

Dabei spielte der Frauenausschuß eine wichtige Rolle. Diese Ausschüsse wurden damals gebildet. Sie sollten die spezifischen Interessen der Frau wahrnehmen, die sich im allgemeinen noch wenig an der gesellschaftlichen Arbeit beteiligten. Die Kollegin Hanna Drechsler interessierte sich dafür.

„Na los", sagte ich, „bilde einen Frauenausschuß!"

Sie verlangte nach Anleitung, aber ich weigerte mich.

„Was soll ich denn machen?"

„Das weiß ich doch nicht. Hol' die Frauen zusammen, die das interessiert. Überlegt. Schreib auf, was zu tun ist. Zum Beispiel: Außer Frau Sieber und den Sekretärinnen gibts doch keine einzige Frau mit einer Berufsausbildung! Ich rede jetzt nicht von den Lehrlingen. Soll das so bleiben?"

Hanna brütete tagelang. Dann wollte sie mir ihr Referat zeigen.

Ich weigerte mich. „Das wißt Ihr alles alleine besser. Macht mal!" Ich ging auch nicht zu der Versammlung, auf der der Frauenausschuß gewählt wurde, ich wollte, daß die Frauen völlig unbeeinflußt zusammenfanden. So entstand im Kühlautomat ein Frauenausschuß ausschließlich aus parteilosen Arbeiterinnen und Angestellten, der intensiv arbeitete, guten Kontakt mit der BGL und der Parteileitung hielt - weil er die speziellen Interessen der Frauen wahrnehmen konnte!

Auch die Mehrheit der Kandidaten für die Gewerkschaftsfunktionen waren Parteilose, alles Leute, die Ansehen genossen ohne einem Streit aus dem Wege zu gehen, und mit der Parteiorganisation zusammenzuarbeiten bereit waren. Selbstverständlich kandidierte auch Erich Lichy wieder.

Obwohl wir davon ausgehen konnten, daß die Kandidaten gewählt werden würden, konnten wir dennoch kein Risiko eingehen, gab es doch auch Leute im Betrieb, die uns gegenüber feindlich eingestellt waren. Wir wollten nicht, daß mehr Kandidaten für die BGL aufgestellt wurden, als zu wählen waren. Denn das hätte bedeuten können, daß Erich nicht gewählt worden wäre. Der BGL-Vorsitzende konnte nicht allen Kollegen nur Gutes tun. Er hatte sich auch mit ungerechtfertigten Forderungen auseinandergesetzt, Querköpfe zurechtgewiesen, hatte sich unvermeidlich auch den Zorn Unvernünftiger zugezogen, die eigentlich nichts gegen die BGL hatten, aber nun, bei Wahlen, möglicherweise Erich einen Denkzettel verpassen wollten. Dagegen war zu erwarten, daß Kandidaten, die längst nicht soviel wie Lichy geleistet und sich nie mit jemandem gestritten hatten, keine Gegenstimmen erhielten, so daß Lichy womöglich nicht gewählt würde, weil er weniger Stimmen bekäme. Irgendwo hatten wir nicht aufgepaßt. Die Reinemachfrau geriet auf die Kandidatenliste! Die Gefahr, daß sie mehr Stimmen als Lichy bekam, war gering, aber wir durften kein Risiko eingehen. Ich war gezwungen, schweres Geschütz gegen diese Frau aufzufahren. In einer Versammlung griff ich sie scharf an, nicht wie üblich, wenn Arbeiter gedankenlos die Lügen des RIAS nachschwätzten: Die Welt kämpft um das Leben der Rosenbergs, alle anständigen Menschen wollen sie vor dem elektrischen Stuhl retten, und sie redet den Mördern, den amerikanischen Atomwaffenstrategen, die Hiroshima und Nagasaki vernichtet haben, das Wort!

Das wirkte, die Frau blieb in Westberlin.

„Warum hast Du das gemacht", fragten mich Kollegen. „Die war doch nicht gefährlich, bloß doof. Die hätte bestimmt die wenigstens Stimmen bekommen!"

„Möglich. Kann aber auch sein, daß Lichy unten auf der Liste gelandet wäre. Und so dumm die Frau auch war, sie hatte was mit dem Transporterbrigadier. Wir hätten eine Vertreterin der unbelehrbaren Nazis in der BGL haben können!"

Die Meinungen blieben geteilt, aber auch die, die mich kritisierten, taten das von unserm Standpunkt aus, vom Nutzen für die Gewerkschaft und des Ansehens der Parteiorganisation. So führte meine Härte gegen die Frau nicht zu einer Lockerung des guten Verhältnisses zu den parteilosen Kollegen.

Besonders bei den Frauen ging es voran. Es gelang, auch Frauen, die sich nicht für die Arbeit des Frauenausschusses interessierten, in das gesellschaftliche Leben einzubeziehen.

Dabei war Frau Sieber sehr wichtig. Hildegard Sieber war, so erzählte sie mir völlig unbefangen, BDM (Bund Deutscher Mädchen - entspricht der HJ) -Führerin gewesen und sah immer noch ein bißchen so aus: Langes blondes Haar, Mittelscheitel, Knoten. Blaue Augen. Kräftige, nun schon etwas füllige Figur. Frau Sieber war eine jener Frauen, die die soziale Seite der Nazidemagogie angesprochen hatte. Für sie, Tochter eines vogtländischen Fabrikanten, war BDM-Dienst Sport und Spiel, Gesundheit, Dienst am Nächsten, Hilfe für Ausgebombte, Arbeit in Kinderlandverschickungslagern gewesen. Hildegard Sieber war von Natur ein sozialer Mensch, sie mußte sich kümmern, an sie wandten sich die jungen Frauen, wenn sie Rat und Aussprache brauchten, egal ob es um die Liebe oder um den Ärger mit dem Chef ging. Sie verbreitete eine Atmosphäre von Fleiß und Verläßlichkeit, konnte Ärger und Streit schlichten. Sie war geschieden, zog Sohn und Tochter allein auf. Beim Anstehen vor der Essenausgabe in der Kantine erzählte sie mir, daß sich ihr Sohn brennend für Biologie interessiere, er habe eine Mitschurin-Birne gezüchtet, wie es der berühmte sowjetische Forscher beschrieben habe. Sie übernahm so manche Aufgabe in der Gewerkschaft, worüber sie oft mit mir sprach. Im gleichen Atemzug erzählte sie mir, daß sie im BDM Sportwart gewesen sei.

„Ist ja prima", sagte ich, da können Sie doch mal ein Sportfest für die Frauen organisieren!"

Frau Sieber sagte ohne weiteres zu. In kürzester Frist, mit den bescheidensten Mitteln wurde es durchgeführt, Weitsprung, Laufen, Werfen, eine Stafette. Ich war nicht hingegangen, ich dachte, der Parteisekretär muß nicht überall rumstehen und zugucken. Aber ich hörte, daß die Frauen sich amüsiert hatten.

Frau Sieber, die im Konstruktionsbüro als Teilkonstrukteur arbeitete, griff überall mit zu. Einmal, der ganze Betrieb freute sich, nähte sie dem protestierenden Hrncir einen Knopf an die alte Wehrmachtsuniformhose Sie hatte nicht mit ansehen können, wie verlottert das böhmische Genie herumlief.

Mit der Normerhöhung waren wir im wesentlichen durch. Fast in allen Abteilungen hatten wir nach gründlichen Diskussionen die Kollegen davon überzeugt, daß das richtig war. Wer es immer noch nicht einsehen wollte, konnte sich der Mehrheit schwer entgegenstellen. Allein im Pressenbau gab es Schwierigkeiten. Sie gingen vom Genossen Konzok aus.

Mit dem Pressenbau war es überhaupt schwierig. Es war eine neue Fertigung im VEB Kühlautomat. Wir verfügten über ungenutzte Produktionsfläche in einer großen Halle, die mit einem schweren Kran ausgestattet war. Dort wurde eine Montagegrube ausgehoben und mit dem Bau mittelschwerer Pressen begonnen Die Maschinenbauer waren alle neu eingestellt. Sie gehörten auch nicht so recht zu uns, waren, wie seinerzeit die Kältemonteure, reserviert, teilweise feindlich eingestellt. Wir kamen bei ihnen nicht voran, weil sich der Genosse Konzok, der damit prahlte, daß er Hans Jendretzky, den 1. Sekretär der Berliner Landesleitung, schon aus der Zeit vor 1933 kenne, gegen uns stellte. Da war der Streit um den Tarif. Was sie machten, erklärte Genosse Konzok, sei Schwermaschinenbau. Also müßten er und seine Männer Schwermaschinenbautarifbekommen!

„Was ist das für ein Unsinn", sagte ich, „demnach müßten unsere Tischler Leichtindustrietarif und die Sekretärinnen den Tarif von Handel, Banken und Versicherungen erhalten! Wenn Du seit 1924 in der KPD bist, müßtest Du wissen, was 'Ein Betrieb - ein Verband' bedeutet. Hier ist allgemeiner Maschinenbau, und das gilt!"

Der Genosse Konzok war nicht zufrieden.

„Dann geh zu Bergmann-Borsig oder zu Abus-Wildau. Da bekommst Du Schwermaschinenbautarif. Das ist der Sinn der Sache: die Schwermaschinenbaubetriebe sind entscheidend für den Fünfjahrplan, da sollen die Besten hin. Wenns Dir hier nicht paßt, bewirb Dich dort!"

Aber das paßte dem Konzok auch nicht. Emil Unterberger, Max Trosin und Hermann Seiler sagten ihm Sachen, daß ihm die Ohren brannten, aber die Pressemonteure blieben mürrisch und unzugänglich. Damit isolierten sie sich selbst.

In anderen Betrieben, so hörte ich bei Zusammenkünften der Sekretäre der Betriebsparteiorganisationen in der Kreisleitung, hatten unsere Genossen einen schweren Stand. Der Sekretär der Schaltgerätefabrik in den Elektro Apparatewerken berichtete Alarmierendes über die Tätigkeit des AGL-Vorsitzenden Seppl Polster. Nach dem, was der Sekretär erzählte, war das ein Ostbüroagent. Ich sagte das und äußerte mein Befremden, daß so einer AGL-Vorsitzender hatte werden können. Der Sekretär erwiderte, ich hatte keine Ahnung, was in den EAW los sei und zweifelte an, was ich über die Gewerkschaftswahlen in Kühlautomat berichtet hatte.

Der 9. Juni. Das ND veröffentlichte den Beschluß des Politbüros über der Neuen Kurs. Die Geschäftsleute bekamen wieder Lebensmittelkarten, die Arbeiterwochenkarten wurden wieder eingeführt, die Marmeladenpreiserhöhung zurückgenommen. Es seien Fehler gemacht worden, Überspitzungen seine vorgekommen. Die Anweisung des Ministerrats über die Normerhöhung blieb allerdings gültig, was mich nicht störte.

Die Reaktion der Leute war unterschiedlich. Ladenbesitzer, die nach Westberlin gegangen waren, kehrten teilweise zurück, die Wochenschau „Der Augenzeuge" zeigte einen Fleischer, der nun wieder in seinem Laden in der Schönhauser Allee seine Wurst verkaufte. Die Grundstimmung aber war nicht gut. Zu meinem Erstaunen honorierten die meisten Leute die offene Selbstkritik der Parteiführung nicht.

„Nun sagen sie ja selbst, daß sie alles falsch gemacht haben. Da soll’n sie besser abtreten!"

Als einer von unseren Drehern das in der Kantine sagte, bekam er von Hermann Seiler eine Antwort, so laut, daß alle es hören konnten:

„Und Du? Du machst immer allet richtich, wat? Komm mit, ich jeh' mal mit Dir zum Schrotthaufen, da liegt jenuch Zeugs aus Deiner Werkstatt, und wohl auch einiges von Dir! Da kannste ja auch abtreten - oder künftig besser machen!"

Der Betreffende schwieg. Keiner unterstützte ihn.

Der Hinweis, Lenin habe gesagt, die Art und Weise, wie eine Partei sich zu ihren Fehlern verhalt, zeuge von ihrer Reife, zog vielleicht im Parteilehrjahr, aber nicht in Berlin, bei offener Grenze, antikommunistischen Rundfunksendern und bei einer Bevölkerung, die noch wenige Jahre zuvor auf den „Endsieg" gehofft hatte.

Die Parteiorganisationen in den Betrieben waren geschwächt. Jahrein, jahraus waren Genossen aus den Betrieben abgezogen worden, waren Bürgermeister, Volkspolizisten, Lehrer, Richter, Verkaufsstellenleiter der HO, Mitarbeiter der neuen Ministerien geworden. Dafür waren ehemalige Offiziere, Nazibeamte in die Betriebe gekommen. Im neuen Zementwerk gegenüber dem Kraftwerk Klingenberg wollte niemand arbeiten, die Arbeit war schwer, der Zementstaub stickig. Die Landesleitung wollte an die Genossen der Berliner Betriebe appellieren, dorthin zu gehen, aber ein alter Genosse, der lange im Zuchthaus gesessen hatte, sagte, so einen Vorschlag konnten nur Verrückte machen, man solle entlassene Kriminelle hinschicken, verdammt! So geschah es.

Der Druck auf uns nahm zu, und manche Parteiorganisation wurde unsicher. Ein Artikel im ND vergrößerte die Verwirrung. „Weg mit dem Holzhammer!" lautete die Überschrift. Er wandte sich gegen die mangelhafte Überzeugungsarbeit, die durch Anweisungen und Druck ersetzt wurde, auf den Baustellen der Stalinallee. Nazis und Ostbürogruppen legten das sofort so aus, daß sie jede Auseinandersetzung mit rückständigen Auffassungen als Holzhammermethoden diffamierten. Die Genossen wurden immer unsicherer.

Auch der Ausschluß Edwin Lautenbachs aus der Partei irritierte viele Sekretäre. Edwin war im VEB Sekura Sekretär gewesen. Dort hatte Burianek gearbeitet, ein faschistischer Bandit, der im Kontakt mit westlichen Geheimdiensten Verbrechen beging, unter anderem bereitete er die Sprengung einer Eisenbahnbrücke vor. Im Betrieb verbreitete die Burianek-Bande antikommunistische Flugblatter.

Der Beauftragte der Staatssicherheit in Sekura hatte Edwin gesagt, er solle die Flugblätter einsammeln und keine Auseinandersetzung mit Burianek führen. Das war vom Standpunkt der Sicherheit, wegen der Ermittlungen, sicher richtig. Und Edwin hörte auf den Genossen der Sicherheit. Aber das war falsch. Die politische Auseinandersetzung, die politische Isolierung eines faschistischen Banditen ist wichtiger, selbst wenn sie die Ermittlungsarbeiten erschwert. Nachdem die Bande abgeurteilt war, warf die Landesleitung Edwin politisches Versagen vor! Er, der in Brandenburg gesessen hatte, wurde aus der Partei ausgeschlossen!

Danach reagierten einige Parteisekretäre übermäßig hart auf das wirre, zum Teil tatsächlich feindselige Gerede mancher Arbeiter, wodurch die Parteiorganisationen den Kontakt zur Belegschaft verloren.

Alles zusammen, die Schwierigkeiten des täglichen Lebens, die Unsicherheit über die Zukunft der DDR, das Ausbleiben von Maßnahmen gegen die wirklichen Feinde der DDR, die Formierung konterrevolutionärer Gruppen schuf eine gespannte Atmosphäre. Ellinor Dulles, die Schwester des Chefs der CIA kam nach Westberlin. Die Aufgabe, offen den Angriff gegen die DDR vorzubereiten, fiel dem RIAS zu. Unverhüllt formulierte er die Aktionslosungen: Weg mit den neuen Normen! war die erste.

Die Parteiorganisation des VEB Kühlautomat blieb von der Verwirrung unberührt. Wir hatten uns mit der Geschichte der KPdSU beschäftigt. Beim Übergang vom Kriegskommunismus zur Neuen Ökonomischen Politik hatte es auch Verwirrung gegeben. Die Bauernjungs, die anstelle der im Bürgerkrieg gefallenen Matrosen nun die Besatzungen der Schiffe der Baltischen Flotte bildeten, hatten sogar gemeutert! Auch wir würden mit unserem Kronstadt fertig werden, falls es eines geben würde. Da die Genossen ruhig blieben, kam auch in der Belegschaft keine Unruhe auf.

16. Juni 1953. Ein Anruf meiner Frau: In der Stalinallee demonstrieren die Bauarbeiter! Sie fordern runter mit den Normen! ein Anruf der Landesleitung: Am Abend Parteiaktivtagung im Friedrichstadtpalast.

Ich dachte, es sei besser, jeden Anlaß für feindliche Vorstöße zu vermeiden und ließ über den Betriebsfunk mitteilen, daß bei uns die Normerhöhung zwar nach gründlicher Aussprache und Zustimmung der Kollegen vorbereitet worden sei, daß aber die Inkraftsetzung der neuen Normen ausgesetzt würde, um alles noch mal genau zu prüfen. Daß der Beschluß über die Normerhöhung auch aufgehoben worden war, war nicht bekannt.

Das wurde ohne erkennbare Reaktion aufgenommen. Offenbar war bei uns die Normerhöhung nicht zum Konfliktstoff geworden. Die Parteiaktivtagung verlief unbefriedigend. Sie setzte keine klaren Zeichen, ließ vieles offen. Am nächsten Tag sollten wir alle in die Betriebe, appellierte man an uns! Das wußten wir alleine.

Nacht vom 16. zum 17. Juni. Ununterbrochen gibt der RIAS seine Weisungen: Auf in die Stalinallee! Nieder mit den Normen! Streik! Weg mit der Regierung Grotewohl! Der Spitzbart muß ab! Freie Wahlen!

Ich hörte mir das an. Stand nach kurzem Schlaf auf, fuhr in den Betrieb. Am S-Bahnhof Frankfurter Allee stand ein Schützenpanzer mit sowjetischen Soldaten. Eine Beruhigung. Aber im Betrieb konnten die nicht helfen. Ich mache mein Parteiabzeichen ab, bevor ich in die S-Bahn steige. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, in eine Schlägerei verwickelt zu werden. In den Betrieb muß ich, Diskussionen in der S-Bahn bringen jetzt nichts. Im Wagen herrscht Schweigen. Bahnhof Schöneweide. Hunderte strömen aus dem Bahnhof, die meisten Richtung Oberschöneweide oder, wie die Berliner sagen, Oberschweineöde, wo die ehemaligen AEG-Betriebe liegen: Das Funkwerk, das Kabelwerk, das Transformatorenwerk, das Oberspreewerk und, direkt vor dem Bahnhof, das Berliner Metallhütten- und Halbzeugwerk. Nicht so viele traben in Richtung Johannisthal, zum Motorenwerk, Filmkopierwerk, zu Asepta und zu Kühlautomat.

Die Frühschicht beginnt wie immer. Ich gehe mit dem Werkleiter durch den Betrieb.

„Morgen!"

„Morgen!"

„Alles in Ordnung?"

„Ja".

Dennoch Spannung, Erwartung. Noch mal durch den Betrieb. Ich sage jedem Genossen, daß ich nun nicht mehr herumlaufen werde, sondern in meinem Zimmer bin, damit man mich jederzeit erreichen kann. Die RIAS-Nachrichten werden immer schlimmer. Eine riesige Demonstration soll sich zur Leipziger Straße bewegen. Am Potsdamer Platz brenne das HO-Kaufhaus. Russische Panzer schössen in die Menge! Auch in Leuna und Buna Aufstand. Dazwischen verschlüsselte Meldungen, zweifellos Weisungen für konterrevolutionäre Gruppen, wie schon in der Nacht.

„Komm mal in die Klempnerei! Da ist was im Gange!"

Natürlich - bei Lange ist die Zentrale!

In der Klempnerei einige üble Kerle aus anderen Abteilungen, die dort gar nichts zu suchen haben. Lange spricht mit ihnen. Ist sichtlich überrascht, als ich auftauche.

„Was ist denn los?"

„Wir müssen eine Betriebsversammlung machen!" Lange sagt das aggressiv und zugleich unsicher.

„Wozu denn?"

„Wir müssen über alles reden!"

„Worüber denn?"

„Wir müssen eine Betriebsversammlung machen!"

„Das hast Du schon mal gesagt. Ich bin nicht der BGL-Vorsitzende. Wende Dich an ihn. Sag, was Du willst, wenn es wichtig ist und alle angeht, wird die BGL eine Betriebsversammlung einberufen. Wenn nicht, nicht. Also, worum geht's, ich werde es Erich Lichy sagen."

Lange ist sichtlich aus dem Tritt. Er weiß einfach nicht, was er fordern soll. Er stiert mich an, hält eine schwere Blechschere in der Hand. Wenn er mir damit über'n Kopp haut, bin ich erledigt. Aber so einer ist Lange nicht. Eher einer der Kerle, die ständig aus dem ganzen Betrieb in die Klempnerei kommen, rückt näher.

„Was soll das?" frage ich Lange. „Woher kommen die? Wer hat die hergerufen?"

Einer der Kerle grinst. Offensichtlich findet die Betriebsversammlung schon statt hier, exklusiv für diese Typen! Hier kann man nur verlieren.

„Gut. Jetzt ist es zwölf. Ich werde Lichy vorschlagen: Um halb eins ist Betriebsversammlung, dann Mittagspause."

Lange ist einverstanden. Ich gehe noch schnell zum Betriebsschutz.

„Laßt mir niemanden in den Betrieb! Niemanden!!"

Der Speisesaal ist voll. Die Kollegen haben sich nach Meisterbereichen zusammengesetzt. Ein gutes Zeichen. Es gibt keine starke, über den ganzen Betrieb verbreitete Organisation des Gegners, wenn man von den zwei Dutzend Kerlen, die in der Klempnerei waren, absieht. Vorn am Rednerpult sitzt Lange, zusammen mit sechs, sieben Mann. Nicht mal alle Klempner sind bei ihm. Sorge machen mir die Transporter, sie hocken hinten links an der Treppe. Das gefällt mir nicht. Sie kontrollieren einen Zugang. Aber es ist nicht mehr zu ändern, neben ihnen sitzen hundert Jungs aus der Lehrwerkstatt, darunter unsere Kandidaten. Die würden schon mit den Transportern fertig. Aber es darf keine Hauerei geben, das ist nicht mehr kontrollierbar!

Hinten am Fenster steht Genosse Spengler, ein älterer, nicht gerade aktiver Genosse. Er ist seit 1925 in der KPD.

Ich vergeude keine Zeit mit Versammlungsformalitäten, trete ans Mikrofon:

„Kollege Lange wollte eine Betriebsversammlung. Er hat das Wort!"

Lange ist geschockt. Dann faßt er sich, steht schwerfällig auf und beginnt eine wirre Rede.

„Kollegen, so geht das nicht weiter. Wir brauchen keine BGL, wir wollen eine Vertretung für alle. Ein Betriebsrat muß gewählt werden! Bei uns ist es ja anders als in anderen Betrieben, aber eine Partei muß wieder zugelassen werden! Das ist kein Sozialismus hier. Karl und Rosa würden sich im Grabe rumdrehen, wenn sie das hier sehen. Mit der SED kann man nicht reden. Wir wollen Demokratie! Und dann, wie sollen wir nach Hause kommen, die S-Bahn fährt nicht mehr. Der Betrieb muß schließen, sonst kommen wir nicht nach Hause!"

Er weiß nicht weiter. Kein Beifall. Schwerfällig geht er an seinen Tisch und setzt sich wieder.

Ich verliere keine Zeit! Er hat nicht gesagt „Streik!" Er hat nicht den Sturz der Regierung gefordert! Er konnte seinen Auftrag nicht erfüllen. Er wußte, daß er damit nicht durchgekommen wäre! Aber jetzt nicht überziehen. Nicht zuschlagen, gewinnen. Auch Lange die Hand hinhalten, nicht seinetwegen, sondern wegen der anderen!

„Kollegen, Lange sagt, bei uns gäbe es keine Demokratie. Aber er hat alles sagen können, was er wollte. Es ist bloß schwer zu verstehen, was er eigentlich will".

Einige lachen.

„Er hat gesagt, mit der SED kann man nicht reden. Genosse Lange! Als ich in den Betrieb kam, warst Du der erste, den ich aufgesucht habe. Ich habe Dir Zusammenarbeit angeboten. Aber Du warst es, der nicht mit mir reden wollte. Stimmt das etwa nicht?"

Alle beugen sich vor, einige stehen auf, um Lange sehen zu können. Lange blickt zu Boden. Dann nickt er.

Also Du wolltest nicht mit mir reden! Obwohl doch nichts wichtiger ist, als daß ich Sozialdemokraten und SED-Genossen verständigen!"

„Sehr richtig!" Das war Max Spengler, mir gegenüber am Fenster.

„Und dann, was soll das, Karl und Rosa würden sich im Grabe herumdrehen?" „Unerhört!" Max Spenglers Zwischenrufe knallen wie Peitschenschläge in den Raum. „Geh doch mal in eine Buchhandlung. Da kannst Du alles kaufen, von Marx und Engels, von Karl und Rosa. Da kannst Du alles lesen über Sozialismus. Welche Bücher von Karl und Rosa hat denn Deine Partei gedruckt? Keine!"

Alles guckt auf Lange. Der zieht den Kopf ein.

„Was soll das heißen, eine Partei muß wieder zugelassen werden? Ist die SPD denn verboten? Wer da eintreten will, braucht bloß nach Baumschulenweg, da ist der Kreisvorstand, gleich um die Ecke von der SED-Kreisleitung!"

„Hört, hört!" von Max Spengler.

„Lüge!" Einer von den Transportern.

„Stimmt! Ich wohne nebenan!" Einer aus der Tischlerei.

„Na also. Eins verstehe ich aber überhaupt nicht. Warum redest Du gegen die BGL, Genosse Lange?"

„Pfui!!!"

„Weißt Du, daß bei uns fünfundneunzig Prozent gewerkschaftlich organisiert sind?"

„Hört, hört!"

„Sehr gut!"

„Dir als Sozialdemokraten müßte doch die Stärkung der Gewerkschaft am Herzen liegen und nicht ihre Schwächung. Willst Du Dich zum Fürsprecher der fünf Prozent machen, die nichts mit der Gewerkschaft zu tun haben wollen?"

„Pfui!"

Alles schaut auf Lange. Tatsächlich, er schüttelt den Kopf!

„Russenpanzer am Bahnhof Schöneweide!" In der Tür steht Harry. Die Nachmittagsschicht beginnt. Der Betriebsschutz hat ihn reingelassen, verdammt, diesen Wirrkopf und Schreihals!

„Da stehen sie auch richtig! Denkt mal an den UGO-Putsch! Da konntet Ihr tagelang zur Arbeit laufen, weil die Banditen die S-Bahn lahmgelegt hatten! Laßt mal die Panzer da. Hier, wo wir die Sache in die Hand nehmen, stehn sie doch nicht, oder hat jemand welche vorm Werk gesehen?"

„Nein!"

„Sehr richtig!"

„So. Alles klar? Will noch wer sprechen?"

Emil Unterberger will. Mir ist nicht wohl dabei. Emil ist sehr geladen. Richtig, er fängt an zu schimpfen: „Kollegen, die Töne, die da von einigen in den letzten Tagen kamen, die kenne ich! Ich weiß noch, wie die Braunen angefangen vor 1933!"

Ganz verkehrt, Emil. Ich schiebe ihn beiseite.

„So nicht! Wir wollen uns nichts gegenseitig vorwerfen. Wir haben uns ausgesprochen, unter uns, wie sich das gehört. Wir müssen zusammenhalten, auch wenns mal Meinungsverschiedenheiten gibt!" Beifall!

„Auch wir beide, Genosse Lange! Erst recht wir beide, stimmts nicht?" Wieder Beifall. Lange kann nicht anders, er nickt.

„Na also, die Versammlung ist geschlossen. Morgen wieder an die Arbeit!"

„Und wie komm' wa nach Hause? Es fährt doch nischt mehr!?"

„Wir machen das wie beim Kinderferienlager. Wir stellen Bänke auf die beiden LKW, mit denen fahren die, die weiter weg wohnen. Wenn die Wagen zurück sind, kommen die nächsten dran. Dann die beiden PKW, mit denen fahren wir in Richtung Königs Wusterhausen und Oranienburg".

„Kriegen wa ooch Mülsch un Schrippen mit?"

„Nee, lieber Bockwurscht aus de HO!" Ein paar lachen, die meisten aber bleiben stumm und warten verdrossen darauf, daß es losgeht.

Der größte Teil der Kollegen ist schon verschwunden, sie wohnen nicht so weit weg, ebenso die Transporter, auch Lange und seine Freunde. Aber da stehen die Lehrlinge und gucken mich erwartungsvoll an, und natürlich die Genossen, dann weitere Kollegen.

Bevor ich mich an sie wenden kann, kommt der alte sozialdemokratische Dreher und drückt mir die Hand: „Haste jut jemacht, Junge!"

Nun zu unseren Leuten. „Also, wir bleiben hier und bewachen den Betrieb. Holt Euch was, womit Ihr zuhauen könnt, Kabelenden am besten. Und dann immer zu viert um's Betriebsgelände, zwei Lehrlinge und zwei Genossen!"

Sofort gehts los. Noch in der Nacht ruft die Kreisleitung an, sie braucht Kuriere, das Telefon ist gestört, wir sollen unsere GST-Motorradfahrer schicken. Aber das geht nicht, es ist doch Ausgangssperre! Die Nacht ist ruhig und warm. Wir sitzen beim Werkleiter und hören den RIAS. Pausenlos neue Weisungen für die Weiterführung des Streiks! Immer wieder verschlüsselte Nachrichten dazwischen!

„Genossen, kommt doch mal! Da im Konstruktionsbüro, so ein komisches Geräusch!" Wir gehen leise an die Tür. Tatsächlich, so ein Knarren, ein Rasseln. Der Betriebsschutzleiter holt die Schlüssel. Leise öffnen wir die Tür, machen das Licht an. Auf dem großen Tisch, auf dem man so schön die Zeichnungen ausrollen kann, liegt Ingenieur Hrncir, einen Leitzordner unter dem Kopf und schnarcht.

„Was machen Sie denn hier, Kollege Hrncir?"

„Na, ich schlafe! Ich schaff das doch nicht, nach Hause und zurück, um vier Uhr muß ich doch wegen der Kontrollfahrt an der neuen Kammer sein!"

„Na, dann gute Nacht!"

„Nacht!"

„Wir passen schon uff, dett dem kena wat dut", sagt Hermann Seiler.

Ein sowjetischer Schützenpanzer brummt vor das Werktor. Ein junger Kerl klettert raus: „Was machen chierr? Was chierr los?"

„Wat hier los is? Hier is jarnischt los! Wir bewachen unsern Betrieb, Mann!"

Emil Unterberger mischt sich ein, er sagt was auf Russisch, das mit „Towaritsch" endet.

Der junge Soldat nimmt Haltung an, auf die für ehemalige deutsche Soldaten so seltsam erscheinende Weise: Er spreizt das rechte Bein ziemlich weit ab und führt es dann ziemlich langsam an das linke heran. Zugleich winkelt er ebenso langsam den rechten Unterarm und führt die Hand an die Panzerfahrerkappe: „Charascho!"

Unsere Männer sind verblüfft. „Haste dett jesehn? Wat hast'n dem jesacht, Emil?"

„Daß wir das Werk bewachen!"

So bildeten sich die Kampfgruppen. Entsprechende Beschlüsse brachten nur in die Reihe, was schon im Werden war.

Der Morgen zieht herauf. Der Morgen des 18. Juni 1953. Die Ersten kommen zur Frühschicht, teilweise etwas verspätet. In der charmanten Berliner Art, die schon Herrn von Goethe so irritierte, schnauzen sie mich an: „Wie soll'n wa pünktlich komm', wenn nischt fährt, kannste uns det mal sagen?"

Sie wollen gelobt werden und ich lobe sie: „Is ja jut! Reecht Euch nich uff! Hauptsache, Ihr seid da!"

Viele sind mürrisch, andere aufgekratzt, einer erzählt, auf welch seltsamen Wegen, mit wievielmal Umsteigen er es geschafft hat. „Wie im Kriech, Mensch, wie nach'm Bombenangriff!"

Bis auf 74 Kollegen, die es offensichtlich nicht geschafft hatten, waren alle gekommen, am Tage darauf fehlten nur noch 15 Mann - Lange und seine Kumpane. Sie blieben für immer weg. Es hätte ihnen auch nicht gefallen, was die anderen ihnen zu sagen gehabt hätten.

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