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Günter Wilms 

Neulehrer - Pädagogischer Wissenschaftler -Bildungspolitiker 

Aus einem nicht mehr existierenden Staat für die Zukunft des Bildungswesens heute! 

Zu den Aktivitäten, die nach 1990 der Verteufelung und Delegitimierung der DDR dienten, gehörte auch die Verbreitung der Legende vom "Neulehrermythos". Auf der Grundlage einer Dissertation, die auf nicht mehr als 50 Interviews beruhte (im Schuljahr 1946/47 gab es bereits mehr als 40 000 Neulehrer), wurde in Vorträgen und in den Medien ein Bild der Neulehrer entworfen, das jeden einzelnen von ihnen beleidigte, vor allem aber dazu diente, den fortschrittlichen Charakter der antifaschistisch-demokratischen Schulreform von 1945/46 in Frage zu stellen. Vor allem wurden die Motive, das Bildungsniveau und das Engagement derjenigen, die sich damals der nicht leichten Aufgabe der Erziehung einer neuen Jugend stellten, diskreditiert. Die Tatsachen - durch viele wissenschaftliche Untersuchungen und auch durch Erfahrungsberichte belegt - sprechen eine andere Sprache. 

Ich war einer dieser Neulehrer, die maßgeblich die Schulreform trugen und zum Erfolg führten und bis zum Ende der DDR aktiv Anteil an der Entwicklung des Bildungswesens hatten, nicht wenige von ihnen als Schuldirektor, Schulfunktionär oder Wissenschaftler. Wie kam es dazu? 

Schon als 14-/15-jähriger Junge hatte ich den Wunsch, Lehrer zu werden. Die Jahre danach - Krieg, Luftwaffenhelfer, Soldat, Kriegsgefangenschaft - verschütteten einen solchen Wunsch gründlich. Als mich aber im Herbst 1945 - nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft - eine kommunistische Genossin, die der Roten Hilfe angehört und am antifaschistischen Kampf teilgenommen hatte und jetzt Gemeinderätin für Soziales war, fragte, ob ich Lehrer werden wolle, sagte ich zu, ohne zu ahnen, was alles auf mich zukommen würde. Zunächst wurde ich für den 12. Dezember 1945 zu einer "Laienlehrerprüfung" eingeladen. Da damals und auch heute noch - siehe die Legende vom Neulehrermythos - oftmals über die ungenügende Bildung der Neulehrer räsoniert wurde, will ich hier einen Überblick über den Fragen- und Aufgabenkatalog geben, den wir Prüflinge früh erhielten und im Verlaufe des Tages abzuarbeiten hatten und von dessen Bewältigung unsere Einstellung in den Schuldienst abhing:

- Eine Gruppe von Fragen war mathematischen Aufgaben gewidmet: sie erforderten den Nachweis z. B. der Beherrschung der Grundrechenarten, der Zinsrechnung und der Geometrie. In einer anderen Gruppe von Fragen wurden z. B. Kenntnisse über das Atom, das Leuchtgas, über Fortpflanzung und Vermehrung im Pflanzenreich abgefordert. Und in einer dritten Gruppe von Fragen ging es um die Astronomie.
- Ausführlich wurde geographisches und historisches Wissen erfragt. So mussten die großen Gebirgszüge Europas skizziert werden, die Arten von Gebirgen und Bergen waren zu benennen; auch die Hauptstädte vieler europäischer Länder musste man kennen. In einer weiteren Frage waren Namen historischer Persönlichkeiten und historische Vorgänge bzw. Prozesse aufgeführt, und sie sollten zeitlich zugeordnet und chronologisch geordnet werden. Gefragt wurde auch nach Revolutionen in der Geschichte Deutschlands und Europas.
- Besonderen Wert legte die Prüfung auf orthographische und literarische Kenntnisse. In einem vorgegebenen Text waren Rechtschreibefehler zu kennzeichnen und der Text danach zu berichtigen. Werke von Kleist, Hebbel und Gerhart Hauptmann sollten genannt werden. Gefordert wurde zu erklären, was man unter Drama, Schauspiel, Lustspiel, Posse, Ballade, Epos, Roman und Novelle versteht. Schließlich sollte beantwortet werden, wer Tolstoi, Dostojewski, Goethe, Gottfried Keller, Ulrich von Hütten u. a. waren. Auch ein Rätsel war zu lösen, und selber musste man auch eins erfinden.
- Auch über die zugelassenen politischen Parteien und die erscheinenden Tageszeitungen sowie über wichtige Probleme, mit denen sich die Tageszeitungen beschäftigen, sollte man Bescheid wissen und schließlich einen Aufsatz über das Thema "Wie kam es zum Zweiten Weltkrieg, wer trägt die Schuld am Ausbruch und weshalb?" schreiben.
- Die letzte (40.) Aufgabe lautete: "Du willst Volksschullehrer werden. Erinnere Dich an Deine eigene Schulzeit und schreibe einen Aufsatz über das Thema: Wovon hängt der Unterrichtserfolg in der Schule ab?" 

Wohlgemerkt, all das war an einem Tag in ca. 10 bis 12 Stunden zu bewältigen! 

Mit dem Abstand von nun über 55 Jahren und mit dem Blick auf heutige Anforderungen an Lehrerinnen und Lehrer will ich einige Momente meines damaligen Tuns skizzieren: 

In die erste Woche meines Lehrerlebens fiel der 200. Geburtstag Johann Heinrich Pestalozzis (12. Januar 1946). Dieser Pädagoge und "Menschenfreund" prägte ganz wesentlich mein Berufsverständnis. In Erinnerung sind mir solche Schriften wie z. B. "Stans" und "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt", aus denen seine Liebe zu den Kindern und sein Verständnis für sie spricht, oder eine solche Aussage wie "Laßt uns Menschen werden!" und die Überzeugung, dass "Anschauung das absolute Fundament aller Erkenntnis" und "die Sprache ... das erste Erkenntnismittel unseres Geschlechts" ist. 

Die Begegnung mit Pestalozzi war es, die mich in den Jahren meiner Neulehrerzeit - und natürlich später auch - zum Lesen einer großen Anzahl von Werken der "Klassiker" der Pädagogik und der Reformpädagogik veranlaßte: Komensky, Rousseau, Salzmann, Diesterweg, Uschinsky, Kerschensteiner, Gaudig u. a. Über die Schriften "Ameisenbüchlein" und "Krebsbüchlein" von Christian Gotthilf Salzmann hielt ich einen Vortrag vor meinen Neulehrerkollegen. Sein "Symbolum" "Von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge muß der Erzieher den Grund in sich selbst suchen" und Adolf Diesterwegs Forderung in seinem "Wegweiser zur Bildung für deutsche Lehrer", dass der Lehrer "nur so lange wahrhaft zu erziehen und zu bilden fähig ist, als er selbst an seiner wahrhaften Erziehung und Bildung arbeitet", sind mir bis heute Richtschnur geblieben. 

Natürlich bestand meine Haupttätigkeit als Lehrer aus dem Unterricht: 26 bis 30 Stunden wöchentlich in Klassen mit 40 bis 50 Schülern. Das war für einen Anfänger eigentlich zu viel, aber so waren eben damals die Anforderungen. Mehr Zeit als für den Unterricht selber brauchte ich allerdings für die Vor- und Nachbereitung. Ich verfuge noch über mein "Pädagogisches Tagebuch" aus dieser Zeit. Es weist nach: jede dieser 26 bis 30 Stunden wurde schriftlich vorbereitet. Grundlage war eine vorhergehende schriftliche Wochenplanung. Fast für jeden Tag gibt es eine schriftliche Nachbereitung mit Selbsteinschatzungen, Aussagen zur Situation in der Klasse und über einzelne Schuler sowie über mein Tun am Nachmittag. Meine Erinnerung besagt, dass die Vorbereitungsarbeit wesentlich in den Abend- und Nachstunden erfolgte ( wegen der häufigen Stromsperren oftmals bei Kerzenlicht). Die Nachmittage waren ausgefüllt durch einmal wöchentliche Neulehrerschulung und die Vorbereitung darauf -jährlich musste jeder von unserer Neulehrergruppe ein bis zwei Vortrage in diesem Kreis halten -, durch spezielle politische Schulungen und politische Arbeit - ich wurde gleich im Januar 1946 Gewerkschaftsobmann und Mitglied der Unterbezirksleitung der Gewerkschaft Lehrer und Erzieher - und in nicht geringem Umfang durch außerunterrichtliche Beschäftigung mit den Schülern meiner Klasse und viele Elternbesuche. In meiner damaligen Schule kam rund 1/3 der meist überalterten Schuler aus einem Umsiedlerheim im Nachbarort, was uns Lehrer zusätzlich forderte. 

Meine Schulferien waren keine Lehrerferien! Wahrend die Neulehrerschulungen in der Unterrichtszeit vorrangig der kurzfristigen Unterstützung unserer laufenden Unterrichtstätigkeit dienten, fanden in allen Ferien ganztägige Schulungen bzw. mehrwöchige Lehrgange statt, die theoretischer, pädagogischer und psychologischer Fundierung unserer Tätigkeit und nicht zuletzt der gezielten Vorbereitung auf die 1. Lehrerprüfung, die ich im Mai 1948 ablegte, dienten. Die uns allen, also auch mir, abverlangten schriftlichen Belegarbeiten entstanden - abgesehen von der Materialsammlung im Zusammenhang mit dem Unterricht - weitgehend in den Ferienwochen. Ich nenne hier einige der von mir damals bearbeiteten Themen: 

Erziehung zum Frieden in der Schule
- Gedanken zur demokratischen Schulreform Politik und Schule
- Meine neue Klasse
Erziehungs- und Unterrichtsarbeit im Behelfsklassenraum
Die Auswirkungen der Lehrerpersönlichkeit in Unterricht und Erziehung ( als schriftlicher Teil der 1. Lehrerprüfung ).

 Sicher wird der Leser, vor allem der jüngere, der diese Nachkriegsjahre nicht selbst miterlebt hat, skeptisch fragen: wie hat er das alles geschafft? Auch ich selbst frage mich das. Nach langem Nachdenken habe ich nur eine vielleicht den Leser nicht ganz überzeugende Antwort: Ich war aus Krieg und Gefangenschaft mit der festen Überzeugung nach Hause gekommen, dass das Alte - Faschismus und Krieg - Vergangenheit sein und etwas Neues geschaffen werden muss, und ich wollte dazu beitragen! Im Herbst 1945 wusste ich noch nicht, wie das geschehen soll und was ich dabei leisten kann - mit meinem Tun als Lehrer sah ich eine Aufgabe, die mich forderte, die mir auch Freude bereitete, und die ich unbedingt bewältigen wollte. Natürlich - und dafür wird wohl jeder Verständnis haben - gab es auch Momente und Phasen des Verzweifelns, aber der "Zwang" des nächsten Tages, die Kinder, die auf ihren Lehrer warteten, waren letzten Endes starker. Ich habe meine Lehrertätigkeit nie als "Job" verstanden, ja, ich kannte damals diese Bezeichnung nicht einmal! 

Lehrertätigkeit war und ist für mich mehr als einen Beruf ausüben, war und ist vielmehr Berufung und Verantwortung für die Zukunft von Kindern und Jugendlichen! Ich wünschte mir, dass möglichst viele Lehrerinnen und Lehrer heute mit einem solchen Verständnis für ihren Beruf an ihre tägliche Bildungs-, Erziehungs- und Unterrichtstätigkeit herangehen! 

* * *

Zehn Jahre nach meiner 1. Lehrerprüfung - ich hatte inzwischen nach einer Delegierung durch meinen Schulrat in Dresden und Berlin studiert und auf dem Gebiet der Pädagogik promoviert und war an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald als Dozent und Prorektor für Studienangelegenheiten tätig - erhielt ich nach der Rückkehr von einem vierzehntägigen Urlaub einen Telefonanruf des Parteisekretärs der Universität. Er und ich sollten am nächsten Tag zur Bezirksleitung der SED nach Rostock kommen. Dort erwartete uns im Zimmer des Sekretärs für Wissenschaft, Kultur und Bildung Margot Honecker, damals "designierte" Stellvertreterin des Ministers für Volksbildung. Wir kannten uns aus verschiedenen Begegnungen und aus Beratungen im Ministerium. Als ich sie sah, fuhr mir bei der Begrüßung heraus: "Wenn ich dich hier in Rostock sehe, schwant mir Unheil!" Ihre Reaktion war kurz: "Also kommst du nach Berlin!" Das war der Beginn meiner fast zehnjährigen Tätigkeit als Verantwortlicher für Lehrerbildung im Ministerium für Volksbildung. Auch heute noch bewegen und interessieren mich Probleme der Lehrerbildung in besonderer Weise. 

Seit 1999/2000 spielen Fragen der Lehrerausbildung in der bildungspolitischen Debatte in der Bundesrepublik eine zunehmende Rolle. Das "Forum Bildung" unterbreitete als Bestandteil von Überlegungen für eine Bildungsreform Vorschlage zur Veränderung der Aus- und Weiterbildung der Pädagoginnen und Pädagogen. Lehrerverbande, z. B. die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und der Verband Bildung und Erziehung, erarbeiteten eigene Konzeptionen. Nach der Veröffentlichung der für Deutschland blamablen Ergebnisse der PISA-Studie erklärte die Kultusministerkonferenz die Lehrerausbildung zu einer Schwerpunktaufgabe. Im Zusammenhang mit dem sog. Bologna-Prozess - verkürzt auf die Einführung von Bachelor- und Master-Studiengängen auch an deutschen Universitäten - unterbreitete der Wissenschaftsrat seine Vorschlage für Veränderungen in der Lehrerausbildung. 

Da ich nach 1990 erlebte, wie die in der DDR gewachsene Lehrerausbildung auf altbundesdeutsches Niveau "getrimmt" wurde, und in den neuen Vorschlagen neben prinzipiell Abzulehnendem manches entdecke, was in der DDR Realität war, will ich knapp skizzieren, worauf es uns damals ankam und was in seiner Substanz bis 1989/90 die Lehrerausbildung der DDR charakterisierte:

 Als ich 1958 meine Tätigkeit im Ministerium für Volksbildung begann, gab es bei der Ausbildung der Fachlehrer einen gewissen Dualismus: hier die Universitäten, dort die ab 1953 gegründeten Pädagogischen Institute mit Hochschulcharakter. Der Vorzug der Letzteren war ihre pädagogisch-praktische Ausrichtung, der der Universitäten ihre wissenschaftliche Qualifikation und auch ihre Traditionen. Ein Grundanliegen unserer Arbeit bestand nun darin, die wissenschaftliche Qualifikation der Pädagogischen Institute zielstrebig sowohl in den fachwissenschaftlichen als auch in den pädagogischen Disziplinen bei Beibehaltung ihrer pädagogisch-praktischen Ausrichtung auszubauen. Bis 1989/90 waren die Pädagogischen Institute zu Pädagogischen Hochschulen mit Promotions- und Habilitationsrecht ausgebaut. An den Universitäten ging es darum, nach der 1955 erfolgten Auflosung der Pädagogischen Fakultäten die Stellung und den Platz der Pädagogik und ihrer Teildisziplinen als eigenständigen Wissenschaftsbereich zu sichern und auszubauen, die pädagogisch-theoretische Ausbildung der Studenten enger mit Ausbildungsabschnitten in der pädagogischen Praxis zu verbinden und die fachwissenschaftliche Ausbildung zielstrebig an den Erfordernissen der zukünftigen Lehrertätigkeit zu orientieren. Im Verlauf der Jahre erreichten wir, dass 

- die Ausbildung an Universitäten und an Pädagogischen Hochschulen auf der Grundlage einheitlicher Studienpläne und Lehrprogramme erfolgte,
- an den Universitäten spezielle Studiengange für Lehrerstudenten eingerichtet wurden,
- die Unterrichtsmethodiken einen festen Platz im Wissenschaftsgefüge der Universitäten und Pädagogischen Hochschulen einnahmen (sie waren organisatorisch den jeweiligen Fachwissenschaften zugeordnet),
- pädagogisch-theoretische und pädagogisch-praktische Ausbildungsbestandteile miteinander verzahnt und organisch in den gesamten Studiengang eingeordnet waren,
- die Ausbildungseinrichtungen Verantwortung für die praktischen Ausbildungsabschnitte wahrnahmen und dabei eng mit den Volksbildungsorganen und den Schulen- den Direktoren und den Lehrern - zusammenarbeiteten,
- die Ausbildung zunehmend enger mit Forschung, insbesondere pädagogischer Forschung, verbunden wurde und die Studierenden vor allem mit ihren Diplomarbeiten dazu einen wichtigen Beitrag leisteten.

Einen besonderen Schwerpunkt meiner Arbeit im Ministerium für Volksbildung bildete die Ausbildung der Lehrer für die unteren Klassen. Sie erfolgte an mehr als 30 über die gesamte DDR verteilten Instituten für Lehrerbildung auf der Basis einer abgeschlossenen zehnjährigen Oberschulbildung. Diese hatten einen guten Ruf in der Praxis, weil ihre Absolventen gut auf die alltäglichen Aufgaben in der Schule vorbereitet wurden. Dennoch gab es zumindest zwei Probleme, um die wir schwer gerungen haben. 

Das eine Problem war die immer wieder gestellte Forderung nach der hochschulgemäßen Ausbildung auch dieser Lehrergruppe. Letztlich waren es materiell-technische und personelle Grunde, die es erst in den achtziger Jahren ermöglichten, mit dem Übergang zur Hochschulausbildung zu beginnen. Es sei aber nicht verschwiegen, dass es auch immer Sorgen gab, dass mit einer Ausbildung der Lehrer der unteren Klassen an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen die pädagogische Ausbildung und die schulpraktische Ausrichtung der Ausbildung leiden konnte. 

Das andere Problem war die Frage, ob ein Lehrer in den ersten vier Schuljahren alle Fächer unterrichten sollte oder wie ein Fachlehrer der Mittel- und Oberstufe nur zwei. Darüber gab es im Ministerium und im damaligen Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut heftigen Streit. Übereinstimmung herrschte in der Auffassung, dass es im Interesse eines soliden fachlich qualifizierten Niveaus des Unterrichts nicht sinnvoll sei, den Lehrern abzuverlangen, alle Fächer zu unterrichten. Nicht wenige Fachleute meinten nun, dass die Ausbildung wie die der Fachlehrer auf zwei Fächer reduziert werden müsse und es sich dabei verbiete, wegen ihrer wissenschaftlichen "Nichtverwandtheit" Deutsch und Mathematik zu kombinieren. Ich war der Wortführer der anderen Gruppe, die argumentierte: Kinder dieses Alters brauchen erfahrungsgemäß für ihre Entwicklung und für das Lernen und Leben in der Schule einen festen Bezugspunkt: einen Klassenlehrer, eine Klassenlehrerin, der/die mit möglichst vielen Stunden in der Klasse wirkt. Deshalb mussten alle Unterstufenlehrer in ihrer Klasse sowohl Deutsch als auch Mathematik unterrichten. Darüber hinaus sei es sinnvoll, wenn sie außerdem eins der sog. kleinen Fächer mit jeweils ein bis zwei Stunden pro Woche (Musik, Sport, Werken, Kunsterziehung, Schulgarten) unterrichten. Diese Auffassung setzte sich durch und fortan wurden - bis 1989/90 - die Lehrer der unteren Klassen für drei Fächer ausgebildet. Das hatte Auswirkungen auf die Profilierung der einzelnen Institute für Lehrerbildung, die nur schrittweise bewältigt werden konnte. 

Die Jahre meiner Tätigkeit im Ministerium für Volksbildung waren mit Problemen und auch Schwierigkeiten nur so gespickt, waren es doch die Jahre des beginnenden Aufbaus der zehnklassigen Oberschule. Ich hatte es vor allem mit dem Erfordernis zu tun, die erforderlichen Lehrer in der erforderlichen Anzahl auszubilden, und das waren mehr als die normalen Kapazitäten an den Ausbildungseinrichtungen damals hergaben. Deswegen wurden für einige Jahre Sonderwege eingeschlagen, die vor allem darin bestanden, Teile der Ausbildung in ein Fernstudium zu verlagern. Das erforderte neben organisatorischen Regelungen vor allem die Ausarbeitung entsprechender Richtlinien und Studienplane für die einzelnen Ausbildungsdisziplinen und Ausbildungsbestandteile, je nachdem, ob sie im Direktstudienteil oder im Fernstudium absolviert werden sollten. Dank des Engagements vieler Lehrerbildner konnte diese Aufgabe erfolgreich bewältigt werden, so dass schon Mitte der sechziger Jahre die Sonderregelungen wieder abgebaut werden konnten. 

Zu meinen Aufgaben gehörte auch die Mitwirkung an der Ausarbeitung des Gesetzes von 1959 und vor allem des bis 1989/90 gültigen "Gesetzes über das einheitliche sozialistische Bildungssystem" vom Februar 1965. Ich gehörte zu der Gruppe von Mitarbeitern, die die über 5 000 Zuschriften aus der Diskussion über die "Grundsatze für die Gestaltung des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems" - das war praktisch der Entwurf des Gesetzes - auszuwerten hatte. 

Im Wissen darum, dass heute in der Bundesrepublik zwar viel über Bildungsreform geredet wird, aber eine wirkliche grundlegende demokratische Bildungsreform nicht in Sicht ist, will ich hier ein paar Erfahrungen benennen, wie wir damals an die mit dem Gesetz von 1965 konzipierte Bildungsreform in der DDR herangegangen sind: 

Wir konzipierten eine langfristige Entwicklung und hatten die Gesamtheit des Bildungswesens von Krippe und Kindergarten bis zur Berufs- und Hochschulausbildung und der Weiterbildung im Auge. 

Wir gingen von den realen gesellschaftlichen Bedingungen in der DDR aus und hatten die zukünftige Entwicklung im Auge. Wir ließen uns vom erreichten Stand der Entwicklung des Bildungswesens leiten und konzipierten von daher die nächsten Schritte. 

Wir formulierten Anforderungen an die Neubestimmung der Bildungsinhalte und erarbeiteten Losungen für die Gesamtheit der zu sichernden Bedingungen finanzieller, materieller und personeller Art. 

Ein wesentlicher Bestandteil der Bildungsreform war die Neugestaltung der Ausbildung und in besonderem Maße auch der Weiterbildung der Pädagoginnen und Pädagogen. 

Als ein entscheidendes Moment für eine erfolgreiche Bildungsreform verstanden wir ihre wissenschaftliche Fundierung; in diesen Jahren entstanden die ersten von den Wissenschaftlern selbst erarbeiteten zentralen Plane für die pädagogische Forschung. Und was ich mit Nachdruck unterstreichen will: die Bildungsreform in der DDR verstand sich als Fortsetzung und schöpferische Aufbewahrung von allem Wertvollen in der deutschen und internationalen Schul- und Bildungsgeschichte. 

Und nicht zuletzt: bei der Entstehung des Gesetzes von 1965 wirkten Bildungspolitiker mit Wissenschaftlern, Pädagogen, Wirtschaftsfachleuten, Gewerkschaftsvertretern und Vertretern der Elternschaft zusammen. Die mehrere Monate laufende öffentliche Diskussion war eine umfassende Aussprache über Fragen der Bildung und der Entwicklung der Jugend. Ich war nicht nur an der Ausarbeitung des Gesetzestextes und an der Auswertung der Diskussionsergebnisse beteiligt, sondern bin auch selber in einer Vielzahl von Veranstaltungen mit Lehrern, Schülern, Eltern und Wissenschaftlern aufgetreten und habe mich zeitweise als eine Art "Wanderprediger" verstanden. Aber interessant und lehrreich war jede Diskussion in dieser Zeit, und ihre Ergebnisse wurden bei der Erarbeitung der Endfassung gründlich geprüft.

Obwohl ich 1958 nicht mit Begeisterung ins Ministerium gegangen bin und vor allem in den ersten Monaten manchmal aufgeben wollte - als ich dann nach knapp zehn Jahren aufhörte, fiel es mir nicht leicht. Die Lehrerbildung war mir ans Herz gewachsen, sie hatte mich gepackt. Das Kollektiv meiner Mitarbeiter und die Arbeitsatmosphäre im Ministerium hatte ich am liebsten in meine neue Aufgabe als Direktor eines Instituts an der Pädagogischen Hochschule Potsdam mitgenommen. Die Jahre im Ministerium waren trotz aller Anstrengungen und manchmal auch Querelen für mich gute Jahre, sie haben mich geprägt, ich mochte sie nicht missen!

* * *

Bei jenem Gespräch im Sommer 1958 gab mir Margot Honecker die Zusage, dass ich nach einigen Jahren aus dem Ministerium ausscheiden und wieder zur wissenschaftlichen Arbeit und zur praktischen Lehrtätigkeit zurückkehren könne. Sie hielt Wort! Wahrend der Jahre im Ministerium für Volksbildung hatte ich mich notwendigerweise mit Problemen der Leitung der Volksbildung - auch im Hinblick auf ihre schulpolitischen und leitungstheoretischen Grundlagen - beschäftigen müssen. Das führte dann zu der Entscheidung, die Leitung des Instituts für Planung und Leitung des Volksbildungswesens an der Pädagogischen Hochschule Potsdam zu übernehmen. An der 1961 erfolgten Gründung dieses Instituts als "Institut für Direktorenausbildung" war ich in meiner Funktion im Ministerium unmittelbar beteiligt und hatte dort bis zu meinem Ausscheiden aus dem Ministerium nebenamtlich gelehrt.

Bei der Begründung zur Schaffung eines solchen Instituts auf dem 6. Pädagogischen Kongress hatte der damalige Minister für Volksbildung, Prof. Dr. Alfred Lemmnitz, den Schuldirektor als "Lehrer der Lehrer" charakterisiert. Von diesem Motto habe ich mich in den folgenden mehr als 20 Jahren bei der Aus- und Weiterbildung der Schuldirektoren leiten lassen. Und das steht in völligem Gegensatz zu dem heute in der Bundesrepublik herrschenden Verständnis von der Aufgabe und der Funktion eines Schulleiters. Bei Schulleitern wird heute nicht mehr zuerst nach ihrer pädagogischen Qualifikation gefragt, sie werden nicht in erster Linie als Leiter pädagogischer Prozesse, als Leiter von Bildungseinrichtungen verstanden, die gemeinsam mit den an ihrer Schule tätigen Pädagoginnen und Pädagogen Verantwortung für die Entwicklung, Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen tragen. Im Vordergrund stehen administrative Aufgaben, die auf der Grundlage einer Vielzahl von sich oft verändernden Rechtsnormen zu bewältigen sind. Das Pädagogische, und darüber klagen Lehrer und Wissenschaftler der Bundesrepublik schon seit den 80er Jahren, ist in hohem Maße "verrechtlicht"; das gilt auch für die Beziehungen zwischen Lehrern und Schulleitern und leider auch für die Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern. Schulleitung wird als Management-Aufgabe verstanden und weitgehend darauf reduziert.

Nach meiner festen Überzeugung bilden Erfahrungen, die wir in der DDR bei der Ausprägung des Profils der Schuldirektoren und bei der Vorbereitung auf ihre Tätigkeit sowie bei ihrer Weiterbildung gewonnen haben, wertvolle Anregungen für notwendige Veränderungen heute in der Bundesrepublik. Ich werde in dieser Auffassung auch bestärkt durch Positionen und Vorschlage, die die Arbeitsgemeinschaft der Schulleiterverbande Deutschlands unter dem Titel "Schulleitung in Deutschland - ein Berufsbild in Entwicklung" 1999 vorgelegt hat.

Allein die Tatsache, dass es in der DDR ein solches Institut gab - ab 1970 hieß es "Institut für Leitung und Organisation des Volksbildungswesens" und gehörte zur Akademie der Pädagogischen Wissenschaften -, das sich neben anderen Aufgaben auf die Aus- und Weiterbildung von Schuldirektoren konzentrierte, war ein Spezifikum. In der alten Bundesrepublik gab es so etwas nicht, und auch heute gibt es in keinem Bundesland eine ähnliche Einrichtung. Wahrend das Institut in den ersten Jahren seiner Existenz vor allem schon tätige Schuldirektoren aus der Neulehrergeneration "nachqualifizierte", wurden ab den siebziger Jahren jüngere Lehrerinnen und Lehrer, die über Leitungserfahrungen innerhalb ihrer Schule verfugten, in einem postgradualen bzw. Spezialstudium bei Weiterzahlung ihres Gehalts auf die Tätigkeit als Schuldirektor vorbereitet. Dabei wurde davon ausgegangen, dass pädagogische Erfahrungen unbedingt Voraussetzung, aber nicht ausreichend für eine Direktorentätigkeit sind. Eine der wichtigsten Grundlagen für die erfolgreiche Arbeit des Instituts waren die Forschungen zur Ausprägung des Profils einer Schule, zur Leitung einer Schule und zur Entwicklung und Organisation der Arbeit in der Schule, an denen die Teilnehmer des Studiums hohen Anteil hatten und so sowohl theoretisches Niveau als auch Praxisverbundenheit sichern halfen.

Generell gingen wir davon aus, dass der Schuldirektor nicht nur selbst ein guter Lehrer sein muss, sondern in der Pädagogik und in der Psychologie über ein theoretisch fundiertes und umfangreicheres Wissen verfügen muss als seine Kolleginnen und Kollegen, war es doch seine Aufgabe, seinen Kollegen für die tägliche Arbeit im Unterricht und in der außerunterrichtlichen Tätigkeit und für ihre Weiterbildung Anregung und Unterstützung zu geben und selbst dazu einen Beitrag zu leisten. Auch für die Entwicklung des pädagogischen Profils der Schule bedurfte es umfassender pädagogischer Kenntnisse.

Ein wesentlicher Auftrag für die Ausbildung leitete sich von der in der DDR vertretenen und praktizierten Position ab, dass der Schuldirektor zwar als ein so genannter Einzelleiter fungierte, es aber zu seinen unabdingbaren Verpflichtungen gehörte, sich in allen wichtigen, vor allem die Gesamtheit der schulischen Entwicklung betreffenden Fragen mit seinen Kollegen, mit der Elternvertretung und den verantwortlichen Gremien in der Gemeinde zu beraten. Auch die Schüler wurden in Form der FDJ-Leitung der Schule und des Freundschaftsrates der Pionierorganisation in solche Beratungen einbezogen.

Aus den genannten Anforderungen leiteten wir ab, dass für Lehrveranstaltungen zur Pädagogik, zur Psychologie und zur Schulpolitik über 40 Prozent und für Lehrveranstaltungen zur Leitung und Organisation des pädagogischen Prozesses ca. 30 Prozent der Gesamtzeit des Studiums zur Verfügung gestellt wurden. Gesonderte Lehrveranstaltungen gab es zum Schul- und Bildungsrecht, aber nicht als eine dem pädagogischen Anliegen übergeordnete und es dirigierende, sondern als eine dem pädagogischen Auftrag dienende und sie in geordnete rechtliche Bahnen führende Angelegenheit. Außerdem gehörten zum Studium ein Leitungspraktikum sowie ein vertiefendes Studium der marxistisch-leninistischen Philosophie und der Politischen Ökonomie.

Nicht zuletzt sei darauf verwiesen, dass das Institut einen regen wissenschaftlichen Austausch mit anderen sozialistischen Ländern, in denen es allerdings nirgendwo ein dem unseren vergleichbares Institut gab, praktizierte. Unser Institut wurde in diesen Ländern als die führende wissenschaftliche Einrichtung auf dem Gebiet der Leitung der Volksbildung verstanden.

Schließlich leisteten wir einen nicht ganz kleinen Beitrag zur Qualifizierung von leitendem Personal im Bildungswesen einer Vielzahl von Entwicklungsländern durch kürzere und längere Kurse im Institut und durch Lehrtätigkeit von Mitarbeitern des Instituts in solchen Ländern. Ich selbst habe in den achtziger Jahren jährlich mehrere Wochen in Äthiopien und in Nikaragua gelehrt, wobei die Teilnehmer an meinen Vorlesungen in der Regel mehrere hundert Schuldirektoren bzw. leitende Mitarbeiter des Bildungswesens waren.

1989/90 habe ich auf die unterschiedlichste Art und Weise versucht, unsere Vorstellungen vom Profil eines Schuldirektors und unsere Erfahrungen bei der Aus- und Weiterbildung von Schuldirektoren westdeutschen Verantwortungsträgern zu vermitteln, so z. B. in Veranstaltungen mit Westberliner Schulräten, an der Freien Universität Berlin und am Landesinstitut für Schule und Weiterbildung in Soest/Nordrhein-Westfalen. Bereits 1988 hatte ich im Rahmen einer Delegationsreise auf der Grundlage des Kulturabkommens zwischen der DDR und der BRD Gelegenheit, in drei westdeutschen Bundesländern unsere Erfahrungen vorzutragen. Überall gab es großes Interesse und z. T. ausdrücklich die Empfehlung, für die Erhaltung des Instituts zu kämpfen. Auch gab es verschiedene Gespräche und Verhandlungen mit den neuen Leuten im DDR-Ministerium für Bildung und im entstehenden Bundesland Brandenburg - dort die Bedeutung der Schulleiterbildung bejahend, aber aus politischen Gründen den Erhalt des Instituts ablehnend. Mit dem 3. Oktober 1990 war es dann klar: das Institut muss seine Tätigkeit per 31.12.1990 einstellen. Die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften und mit ihr das Institut für Leitung und Organisation des Volksbildungswesens werden "abgewickelt", und zwar ohne jede Evaluation. Sie passen nicht in die wissenschafts- und bildungspolitische Landschaft der Bundesrepublik Deutschland und vor allem, als "Kinder der DDR" sind sie politisch nicht gewollt.

Was mich nun persönlich betrifft: ich wurde mit 63 Jahren in den Vorruhestand geschickt, wollte aber noch etwas tun. Ich stellte mich dem Parteivorstand der Partei des Demokratischen Sozialismus zur Verfügung und arbeite bis heute ehrenamtlich in der Arbeitsgemeinschaft Bildungspolitik beim Parteivorstand. Hier bemühe ich mich, meine wissenschaftlichen Kenntnisse und meine schul- und bildungspolitischen Erfahrungen im Kampf gegen den zzt. in der BRD und vor allem in den neuen Bundesländern massiven Abbau von Massenbildung, für die Ausarbeitung linker bildungspolitischer Positionen und ihre langfristige Verwirklichung, für eine grundlegende demokratische Bildungsreform zur Sicherung gleicher Entwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten für alle Kinder und Jugendlichen einzubringen und produktiv zu machen.


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