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Theodor Hermann

Über Kindergärten und Kitas

Als ich das Konzept für dieses Buch las, fiel mir sofort ein: Jemand müsste unbedingt über die Entwicklung von DDR-Kindergärten zu heutigen Kitas schreiben. Leider fand sich im Kreis der mir bekannten Kita-Erzieherinnen keine, die dazu bereit war, denn sie werden immer wieder aufgefordert, zu unterschreiben, dass sie über ihre dienstlichen Angelegenheiten nichts nach außen, also an die Öffentlichkeit gelangen lassen. Das ist bei bestimmten Problemen und Themen, die nur den kleinen Kreis der betroffenen Personen etwas angehen, zweifellos berechtigt, aber auch bei den großen allgemeinen Problemen, die alle etwas angehen und die in einer Demokratie unbedingt öffentlich diskutiert werden sollten? Für die Kindergärtnerinnen in der DDR gab es eine solche Schweigepflicht nicht.

Und so entschloss ich mich, selbst zu schreiben. Warum? Ich bin Vater zweier Söhne, die in der DDR in Krippen, Kindergärten und Schulhorten betreut wurden; auch Opa dreier Enkelkinder - das Jüngste hat gerade seine Kita-Zeit hinter sich und ist nun zur Schule gekommen. Zu meinem nahen Verwandten- und Bekanntenkreis gehören mehrere Kindergärtnerinnen aus der DDR-Zeit, die nach der Wende in Kitas arbeiteten. Natürlich luden sie in familiärer Umgebung manchmal ihre Probleme ab. In meinem künstlerischen Beruf hatte ich oft die Gelegenheit, mit Kindern, auch mit Vorschulkindern, zu arbeiten. Und schließlich liegt auf meinem Schreibtisch das "Programm für die Bildungs- und Erziehungsarbeit im Kindergarten", herausgegeben als verbindliche Arbeitsvorgabe vom Minister für Volksbildung der DDR und in Kraft getreten am 1. September 1985. Mir ist bekannt, dass man sich auch im westlichen Ausland um das Recht einer Lizenzausgabe dieses Buches bemüht hat. Heute leihen es sich viele Kita-Erzieherinnen gegenseitig aus, und das gewiss nicht, um es (abgesehen von den das Buch durchziehenden, die herrschende Ideologie bedienenden, allgemeinen politischen Vorgaben) in den Papierkorb der Geschichte zu werfen, sondern um es wegen seines nach wie vor aktuellen Reichtums an Hinweisen zur Methodik, zur alltäglichen Praxis der Bildungs- und Erziehungsarbeit, zu benutzen.

Zunächst möchte ich einen gedrängten Überblick über das geben, was die Vorschulkinder der DDR von gut arbeitenden Kindergärten alles für ihr weiteres Leben mit auf den Weg bekamen, und zwar auf der Basis eines die Fassungskraft und Leistungsfähigkeit der Kinder in den unterschiedlichen Altersstufen (jüngere, mittlere, ältere Gruppe) sehr genau berücksichtigenden Planes aufeinander abgestimmter "Beschäftigungen", zwischen denen es genügend Freiraum für Spiele, (Rollen- und freies Spiel nach individuellen Wünschen und Neigungen), Sport (drinnen und draußen), Gesangs- und Bewegungsübungen (Tanz), Wanderungen mit Besichtigungen und natürlich alltägliche Notwendigkeiten wie Waschen, Aufräumen, Tischdienste beim Essen usw. usf. gab.

(Dazu gehörte auch der gruppenweise Toilettenbesuch, etwa, bevor man gemeinsam auf den Spielplatz ging oder zu einer kleinen Wanderung aufbrach. Er war einfach notwendig, weil die Kindergärtnerin den Kleinen oft beim Anziehen helfen und darauf achten musste, dass sie sich anschließend die Hände wuschen. Er war eine Konsequenz aus der Aufsichtspflicht der Erzieherin für die ca. 20-23 Kinder ihrer Gruppe und war nirgends verordnet, sondern entstand aus Alltagsnotwendigkeiten. Die politisch gehässigen Witze über den "verordneten Kollektivschiss", wie sie gleich nach der Wende aufkamen, lösten mit Recht bei den Kindergärtnerinnen Zorn und Empörung aus.)

Wenn die Kinder zur Schule kamen, hatten sie gelernt, im Zahlenraum 1-10 sicher mit Zahlen und Mengen umzugehen, konnten Mengen vergleichen, differenzieren und zusammenstellen, desgleichen Längen, Breiten und Höhen (z. B. bei Bauklötzen hoch, höher, am höchsten). Sie waren sicher im Erkennen und im Umgang mit Farben. Großer Wert wurde auf ihren Wortschatz und den sprachlichen Ausdruck gelegt. Die Kinder lernten allmählich, über ihre Beobachtungen frei zu sprechen - auch über sich selbst. Im Zuge des "dekorativen Gestaltens" übten die mittlere, dann die ältere Gruppe mit Blei- oder Buntstiften, zuletzt manchmal auch mit Füllfederhaltern, das Setzen von geraden, senkrechten und schrägen Strichen sowie Kreisen und Halbkreisen innerhalb vorgegebener Zeilen und das Herstellen dekorativer Muster aus solchen Elementen. Das diente der Vorbereitung auf das

Schreibenlernen in der Schule und war zugleich ein Stück ästhetischer Erziehung. Die ästhetische, musische Erziehung spielte eine große Rolle. Es wurde viel gesungen und umfangreiches Liedgut vermittelt - sozusagen zu jedem Alltagsthema ein passendes Lied. Die Kinder lernten auch das Rezitieren einfacher, ihrer Verständnisfähigkeit gemäßen Gedichte. Als auch auf diesem Gebiet professionell tätiger Künstler hatte ich oft Grund zu bewundern, was Kinder in gesungenen, getanzten, gespielten und gesprochenen (saubere Artikulation, geschickter Umgang mit Versen!) Vorführungsprogrammen für Eltern, Rentner usw. zu leisten imstande waren, und zwar lustbetont!

Die Kleinen erhielten (z. B. bei Wanderungen und Besichtigungen) Kenntnisse über die Natur (Pflanzen- u. Tierwelt) und von den Besonderheiten ihres Heimatortes.

In dem Programmteil "Bekanntmachen mit dem gesellschaftlichen Leben" gab es im gedruckten Bildungs- und Erziehungsprogramm des Ministeriums manche Vorgaben, die auch unter DDR-üblichen politischen Vorzeichen nach meiner Meinung nicht in den Kindergarten gehörten, weil sie die Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit der Kinder oft überforderten. Auch die Erzieher hatten damit erhebliche methodische Schwierigkeiten, so dass entsprechende Bemühungen bei den Kindern selten "ankamen". Daneben aber standen äußerst notwendige und nützliche Dinge wie z. B. bei Spaziergängen und Übungen lebendig vermittelbare Kenntnisse über das Verhalten im Straßenverkehr. Sehr hohen Stellenwert hatte die Erziehung zur Achtung vor der Arbeit (besonders der elterlichen), auch in Betrieben (Besichtigungen), desgleichen zu Disziplin und Ordnung - zunächst im Kindergarten, wo die Notwendigkeit erlebbar war, aber auch im öffentlichen Leben. Die Kinder wurden angehalten, ihren Möglichkeiten angemessene Arbeitsaufgaben möglichst selbständig auszuführen, etwa als Tischdienst, beim Aufräumen der Spielsachen u. a. Sie waren stolz auf jedes Lob. Nahezu alle Beschäftigungen verlangten ein Mindestmaß an unerlässlicher Disziplin.

 

Natürlich geschah viel im Sinne der heute oft geschmähten Kollektiverziehung. Bei Rollenspielen erhielt jeder einmal die Führungsrolle. Die Kinder wurden daran gewöhnt, sich in begehrte Spielzeuge mit anderen zu teilen. Es gab große Bemühungen, den Gebrauch von Eilbogen beim Durchsetzen individueller Wünsche zu Lasten anderer zu verhindern und friedliche Konfliktlösungen zu finden, die gegenseitige Achtung zu fördern, Solidarität und Hilfsbereitschaft zu entwickeln und eine gewisse, in Kollektiven sehr wichtige Toleranz im Umgang miteinander. Große Bedeutung hatte die Erziehung zur Höflichkeit gegenüber Erwachsenen.

 

Es gab auch eine Erziehung zur Völkerfreundschaft. Wie das? Hier ein Beispiel: Zur Zeit des Vietnamkrieges häkelten auf Anregung der Kinderzeitschrift "Bummi" die Erzieherinnen und Frauen, des technischen Personals in Arbeitspausen aus Wollresten kleine Quadrate in unterschiedlichen Farben, die zu Schlafdecken für vietnamesische Kinderheime und Krankenhäuser zusammengesetzt wurden. Die Kinder erfuhren, für wen diese Decken waren und warum in Vietnam an ihnen Mangel herrschte. Sie halfen beim Packen der Pakete und gingen mit zum Paketschalter der Post. Dort erzählten sie dem freundlichen Angestellten, was es mit den Paketen auf sich hatte - und erhielten von ihm ein Lob. Von der Redaktion "Bummi" kam ein Dankschreiben - für die Kinder ein bedeutendes Ereignis.

 

Warum wird heute die so genannte Kollektiv-Erziehung in den Kitas weitgehend abgelehnt? Auch heute kommen die Kinder und Jugendlichen in die Schule, kommen in Klassengemeinschaften, in denen ohne ein bestimmtes Maß kollektiver Disziplin sinnvolles Lernen kaum möglich ist. Später, in der Berufsausbildung und dann bei der Arbeit in der Mehrzahl aller Berufe, sind die jungen Leute eben nicht nur Einzelpersönlichkeiten, sondern Angehörige von Gruppen, die zielstrebig Hand in Hand arbeiten müssen, damit befriedigende Arbeitsergebnisse entstehen können.

 

Gewiss, in Leitungsfunktionen Volkseigener Betriebe, in denen es um "Kollektive der sozialistischen Arbeit" geradezu einen Kult gab, hatte ich oft Ärger mit platt politisch-agitatorischen Phrasen und Pünktchensystemen bei den sehr formalen Wettbewerbswertungen, hielt aber sehr viel von kollektiver Leitungstätigkeit, forderte das Mitdenken aller Kollegen bei der Lösung von Arbeitsaufgaben heraus, respektierte ihr Verantwortungsgefühl für das betriebliche Ganze und bezog ihre Vorschläge und Anregungen in meine Entscheidungen mit ein. Ist das heute etwa systemfremd und einer Leiter-"Karriere" abträglich?

 

 

Zurück zu den Vorschulkindern.

 

Ein Kapitel des erwähnten Programms für die Bildungs- und Erziehungsarbeit im Kindergarten schließt mit den Worten:

 

"Sie lernen nach Möglichkeit den Schulweg kennen, können sagen, was sie auf ihrem künftigen Schulweg beachten werden, und verstehen, dass der sicherste Weg dem kürzeren vorzuziehen ist. Sie sind daran zu gewohnen, sich von interessanten Ereignissen auf der Straße nicht ablenken zu lassen und den Weg zielstrebig zurückzulegen."

 

So wurden die Kinder also in jeder Weise auf die Schule vorbereitet, was Eltern wie Lehrer gleichermaßen sehr gut fanden, und der Lehrplan für die erste Klasse der Schule konnte von den Vorkenntnissen und anerzogenen Verhaltensweisen der Kinder -auch in puncto Kollektiverziehung - ausgehen.

 

Worin unterschieden sich die bundesdeutschen Kitas von den Kindergarten der DDR? Der hauptsachliche Unterschied wird bereits durch den anderen Namen angedeutet. Die DDR griff auf den traditionellen Namen Kindergarten zurück. Er stammt von dem deutschen Pädagogen Friedrich Fröbel (1782-1852), der 1839/40 den ersten "Kindergarten" in Bad Blankenburg (Thüringen) gründete. Kindergarten - das erinnert an den Sachverstand, den Fleiß und die Sorgfalt des Gärtners bei der Aufzucht und Pflege der Pflanzen. In der alten Bundesrepublik wurde der Name "Kita" (Kindertagesstätte) üblich. Dem Wortsinn nach erinnert er an eine Aufbewahrungsstätte für Kinder wahrend der Tageszeit, an der sich die Eltern nicht um ihren Nachwuchs kümmern können. Wahrend die Kinder-"Gärtnerinnen" die ihnen anvertrauten Kinder nach Kräften bildeten und erzogen, hatten die Kita-Erzieherinnen einen anderen Auftrag, nämlich den, die individuelle Freiheit der Kinder möglichst nicht einzuschränken. Jedes Kind durfte in weiten Grenzen tun und lassen, wozu es gerade Lust hatte; die "Erzieherinnen" sollten nicht erziehen und bilden, sondern die Kinder nur aufsichtsführend "begleiten". Die in der DDR üblichen "Beschäftigungen" wurden abgelehnt.

 

Entsprechend verschieden verlief die Ausbildung der künftigen Erzieherinnen.

 

Um nicht missverstanden zu werden: ich blicke auf die Kita-Erzieherinnen mit den gleichen Gefühlen der Hochachtung wie auf die Kindergärtnerinnen. Wer diesen anspruchsvollen und in Ost wie West schlecht bezahlten Beruf ergreift und seinen vielfältigen nervlichen und körperlichen Belastungen standhält, kommt ohne eine bestimmte Ethik, ein bestimmtes humanitäres Missionsbewusstsein nicht aus. Der Erzieherinnenberuf ist nicht einfach ein Job neben vielen anderen, sondern etwas Besonderes. Nicht jeder eignet sich dafür. Zum produktiven Umgang mit Kindern gehören nicht nur Wissen und Erfahrung, sondern auch, ähnlich wie bei Lehrern, eine bestimmte Begabung.

 

 

Zur Ausbildung:

 

Die Kindergärtnerinnen der DDR absolvierten ein mehrjähriges Fachschulstudium. Voraussetzung der Immatrikulation war ein sehr guter Zensurenspiegel beim Abgang aus der 10. Klasse. Altere, bereits in Kindergarten als Hilfskraft tätige Kolleginnen hatten in der Regel nur einen Abschluss der 8. Klasse. Sie konnten sich in einem Fernstudium qualifizieren, das vor dem eigentlichen Fachstudium mit einem Jahr Deutschunterricht begann. Nach folgenden Vh Jahren Fachstudium folgte dann die Prüfung als Erziehungshelferin. Wurde sie bestanden, gab es nach zwei weiteren Jahren Fachstudium die Staatliche Abschlussprüfung als Kindergärtnerin.

 

Die hauptsachlichen Ausbildungsfächer waren "Methodik der muttersprachlichen Bildung und Erziehung", "Methodik des Bekanntmachens mit ausgewählten mathematischen Begriffen und Relationen", "Methodik des Bekanntmachens mit der Natur", "Körpererziehung und Methodik", "Kunsterziehung und Methodik" und "Musikerziehung und Methodik." Dazu kam die zu Teilen umstrittene "Methodik des Bekanntmachens mit dem gesellschaftlichen Leben" (Quelle: ein mir vorliegendes Abschlusszeugnis).

 

Grundlage der Ausbildung war das erwähnte "Programm für die Bildungs- und Erziehungsarbeit im Kindergarten" bzw. seine Vorstufen. Hier fallt bei allen Fächern der Akzent auf die Methodik, also auf die Praxisbezogenheit der Ausbildung auf. In jeder Woche fand ein Praxistag im Kindergarten statt und in jedem Jahr ein längeres Praktikum (bis hin zum Waschraum-Praktikum). Als Bestandteil der Abschlussprüfung musste ein achtwöchiges Praktikum absolviert und eine schriftliche Hausarbeit zu einem Fachthema vorgelegt werden, die natürlich auch Auskunft über den Grad der Beherrschung der deutschen Sprache gab (Wortschatz, Ausdrucksvermögen, Grammatik).

 

Ich kann mangels eigener Erfahrung und Anschauung nicht viel über die Ausbildung der West-Kita-Erzieherinnen sagen, aber mir fiel auf, dass die gelernten DDR-Kindergärtnerinnen nach ersten Arbeitskontakten mit Kita-Erzieherinnen wiederholt feststellten, dass diese unzureichende Kenntnisse auf dem Gebiet der Muttersprache hatten und beim Umgang mit Kindern oft erhebliche methodische Schwierigkeiten.

 

Ein guter Bekannter erzahlte mir, seine im Westen lebende Cousine besuchte ihn etwa 1970 in Berlin. Ihre Tochter wollte Kindergärtnerin werden. Für die Ausbildung von Kindergärtnerinnen gab es in ihrer Heimat nur wenig gutes Lehrmaterial, aber sie wusste, dass es in der DDR ein richtiges Studium gab und so bat sie darum, für ihre Tochter und deren Mitschülerinnen dieses Material zu beschaffen, also Konzepte, Lehrpläne, Bucher. Mein Bekannter sei, gemeinsam mit seiner Frau, der Bitte nachgekommen und habe viele Dankesbekundungen erhalten, auch in Form von "Westpaketen". Auf letztere hatte seine Frau mit Dank und der Bemerkung geantwortet: Wo gute Kindergärtnerinnen ausgebildet wurden, gäbe es auch genügend Lebensmittel.

 

Nach der Wende, als uns das westliche System übergestülpt wurde, mussten alle, auch die sehr erfahrenen Kindergärtnerinnen, einen 100-Stunden-Lehrgang absolvieren, damit ihre DDR-Examen Anerkennung fanden und sie ihren Beruf weiter ausüben konnten. Auf diesem Lehrgang war für sie sehr wichtig und notwendig das Bekanntwerden mit den einschlägigen bundesdeutschen Gesetzen und Verordnungen. Fachlich konnten sie kaum etwas mitnehmen. Aber sie mussten lernen, dass die Kitas keine Erziehungs- und Bildungseinrichtungen sind, sondern gemeindeeigene und -geleitete Dienstleistungsbetriebe, die Leistungen für die Eltern erbringen. Sie werden voll von den Gemeinden finanziert (die auch die Gehalter der Erzieherinnen zahlen und den jeweiligen Stellenplan verantworten). Am Ende des Lehrgangs sprach man ihnen die Befähigung zu, Kinder und Jugendliche im Alter von 0-18 Jahren zu betreuen, d. h. sie konnten je nach Bedarf in Krippen (was sie nie gelernt hatten), Kitas und auch Schulhorten (wofür sie nicht ausgebildet waren) eingesetzt werden, für eine begrenzte Zeit bei entsprechendem Bedarf auch für berufsfremde Arbeiten, etwa als Kassiererin in der Badeanstalt.

 

Dazu einige Anmerkungen: In der DDR unterstanden die Kinderkrippen dem Gesundheitswesen und waren mit speziell dafür ausgebildeten Kräften besetzt. Die Kindergärten waren betriebs- oder gemeindeeigen (von dort wurden auch alle Sachausgaben finanziert), aber die Erzieherinnen waren Angestellte der Abteilung Volksbildung des Rates des Kreises, von der sie Anleitung und auch ihr Gehalt erhielten. Ihr oberster direkt ansprechbarer Chef war nicht der meist völlig fachunkundige Bürgermeister, sondern der Kreisschulrat. (Bitte hierzu die Anmerkung am Schluss des Artikels beachten!) Ein Einsatz in Krippen und Horten oder gar in der Badeanstalt kam für sie nicht in Frage, lag außerhalb ihrer Pflichten. Die DDR-Hortnerinnen hatten in der Regel einen Abschluss als Grundschullehrerin. Sie konnten nicht nur fachkundig bei den Schularbeiten Hilfestellung geben, sondern auch bei Lehrerausfall vertretungsweise in der Schule unterrichten, was heute (wer soll das bezahlen?) nicht mehr möglich und zulässig ist.

 

Der Sache nach waren die DDR-Kindergärtnerinnen auch Dienstleister, aber in gesamtgesellschaftlichem Auftrag, und aus diesem heraus zu enger partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit den Eltern angehalten. Sie führten mindestens zweimal im Jahr Hausbesuche durch, bei den nicht seltenen Problemkindern auch häufiger. Dabei gewannen sie wichtige, für ihre Arbeit nützliche Erkenntnisse über Verhaltensweisen der Kinder und konnten den Eltern manchen Aufschluss geben. Diese reagierten meist sehr achtungsvoll auf die Bemühungen der Erzieherinnen.

 

Heute sind seitens der "Obrigkeit" keine solchen Hausbesuche mehr erwünscht. Die Kita-Erzieherinnen haben nicht das Recht, "die Intimsphäre der Familie" zu verletzen, d.h. auf die elterliche Erziehung im Interesse des Kindes irgendeinen Einfluss zu nehmen. Alle Wünsche der Eltern, ihr Kind betreffend, sind zu respektieren, natürlich - soweit irgend möglich - auch die der Kinder selbst, die ja nur "begleitet", nicht aber erzogen und gebildet werden sollen.

 

Der gesamtgesellschaftliche Auftrag ist also entfallen. Oder?

 

Nach der Wende herrschte zunächst allgemeine Unsicherheit. Die Arbeit im Kindergarten erfolgte nicht mehr nach aufeinander abgestimmten Plänen, sondern spontan "nach dem Situationsansatz". Es gab keine Rollenspiele mehr. Jedes Kind, auch jede Erzieherin konnte frei von Erziehungszielen und Plänen spielen bzw. nach ihrem Gutdünken disponieren. Auf die Frage, ob man wieder "Beschäftigungen" machen könnte und sollte, antwortete die neue noch schwimmende Obrigkeit: "Wenn ihr das wollt, dann nur mit dem Einverständnis der Eltern." Die waren natürlich einverstanden, und so fanden auch wieder auf Initiative von Erzieherinnen gelegentlich welche statt - freilich ohne Gesamtplanung und festgelegte Erziehungs- und Bildungsziele.

 

Westdozenten kamen und besichtigten. Sie fanden großartig, was die unter DDR-Bedingungen erzogenen Kinder konnten. Aber feste Tages- und aufeinander abgestimmte Gesamtpläne wurden untersagt. Die Lehrer in den Schulen beklagten bald, dass der Bildungsstand ihrer ABC-Schützen im Schnitt deutlich zurückging. Und so kam es dahin, dass die Kindergärtnerinnen per Einzelinitiative und ohne gezielte Planung an einem Tag der Woche eine Beschäftigung nach sozusagen altem Zuschnitt durchführten.

 

Mitte der neunziger Jahre machten sich der Geburtenrückgang und auch der Geldmangel der Gemeinden deutlich bemerkbar. Im Herbst '96 sollte die tägliche Stundenzahl der Erzieherinnen von 8 auf 6 gesenkt werden, was eine starke Protestbewegung auslöste. Während der Beratung des entsprechenden Landesgesetzes demonstrierten 20 000 Erzieherinnen und auch Eltern aus dem ganzen Land in Potsdam - vergebens, das Gesetz wurde unter Polizeischutz beschlossen. Übrigens waren die meisten Leiterinnen der Kitas vorsichtshalber zu Hause geblieben.

 

Es kam sukzessive zu Entlassungen von Erzieherinnen - und zwar meist von jüngeren.

 

Bei Umsetzungen galt die Methode als zulässig, am Freitag offiziell mitzuteilen, wer ab Montag in welcher anderen Einrichtung zu arbeiten habe.

 

Etliche Erzieherinnen wollten einer Kündigung entgehen und verzogen nach dem Westen. Dort fanden sie bald Arbeit in ihrem Beruf, aber manche kamen auch zurück. Sie waren in einer der zahlreichen kirchlichen Kindereinrichtungen gelandet, wo von ihnen auch religiöse Aktivitäten erwartet wurden, z. B. mit den Kindern beten. In der Regel waren sie kaum antireligiös, aber doch ohne religiöse Bindung; Religion hatte in ihrem DDR-Arbeitsleben keine Rolle gespielt. Und nun vermochten sie sich nicht anzupassen. Natürlich erhielten die Rückkehrerinnen in ihrem Beruf keine Arbeit mehr, weil es keine freie Stelle gab.

 

Vor kurzem kam eine neue Erpressung: Wer nicht bereit ist, mit seiner Wochenstundenzahl unter 30 herunterzugehen (also unter 6 pro Tag), muss mit fristgerechter Kündigung rechnen.

 

In der Kita, aus der meine hauptsächlichen Informationen stammen, erklärte sich niemand dazu bereit.

 

Aus einer anderen Kita weiß ich, dass bei altersgerechtem Ausscheiden einer Kollegin die Stelle keineswegs neu besetzt wird, obwohl es genug junge voll ausgebildete Unbeschäftigte gibt. Die verbleibenden zwei Erzieherinnen müssen sehen, wie sie das Pensum der Ausgeschiedenen mit bewältigen, was natürlich zu Lasten der Qualität der Arbeit geht.

 

Eine mir sehr gut bekannte, im letzten Jahr in Rente gegangene Kindergärtnerin erklärte mir, sie sei als junges Mädchen sehr gern und mit besten Vorsätzen in diesen Beruf gegangen. Auch in der DDR erlebte sie berufliche Krisensituationen und habe sich manchmal gefragt, ob sie, nach den gewonnenen Erfahrungen plötzlich wieder jung geworden, abermals diesen Beruf ergreifen würde. Und sie habe diese Frage stets mit einem überzeugten Ja beantwortet. Unter heutigen Bedingungen würde sie mit einem überzeugten Nein antworten.

 

Aber ich will meinen Bericht nicht so düster beenden. Einer Kreiszeitung entnehme ich: "Im Herbst 2002 startete das brandenburgische Bildungsministerium das so genannte 10-Stufen-Projekt Bildung, in dem insgesamt 30 Kitas... integriert sind." (Wieviele Kitas gibt es im ganzen weiten Land?) "Ziel sei es, einen Leitfaden zu erarbeiten, nach dem alle Kindereinrichtungen arbeiten können, ohne deren Freiräume für Kreativität einzuschränken." ... "Wir wollen pädagogische Ziele entwickeln, indem wir die Kinder genau beobachten. So werde - mit dem Einverständnis der Eltern, die sich davon größtenteils begeistert zeigen -für jedes Kind ein Portfolio angelegt, in dem die Beobachtungen festgehalten werden. Hinzu kommen Video aufnahmen, die auch den Eltern gezeigt werden ...Es sollen Materialien angeschafft werden, die das Experimentieren der Kinder beim Lernen von Symbolen, Zahlen und Buchstaben erleichtern. Im Sommer 2004 legen die Kitas ihre Erfahrungen in Potsdam als Grundlage für den Leitfaden vor."

 

Pisa-Studie, ick hör' dir trapsen!

 

Lieber Leser, was meinen Sie, wie erfahrene DDR-Kindergärtnerinnen, die ja noch in großer Zahl unter uns leben bzw. noch arbeiten, auf dieses "Projekt" reagieren? Ich erspare mir nach allem hier Mitgeteilten einen Kommentar.

 

Und noch eine Spur in die Zukunft, die in der DDR gelegt wurde: Vor wenigen Tagen erreichte mich ein Anruf von der erwähnten, mir sehr gut bekannten Kindergärtnerin. Sie berichtete, dass seit kurzem in ihrer ehemaligen Kita wieder täglich (!) Beschäftigungen durchgeführt werden, freilich nicht (noch nicht?) nach aufeinander abgestimmten zielgerichteten Themenplänen.

 

Schließlich: Einer Tageszeitung entnehme ich, dass es eine Reform des Kitagesetzes gegeben hat, die die Übertragung der Kita-Trägerschaft von den Gemeinden an die Kreise vorsieht. Das hatten wir doch schon?

 

Vorwärts also - mit dem verstohlenen und natürlich sorgfältig verschwiegenen Blick nach rückwärts!


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