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Manfred Steinert

Ausgerechnet nach China!

Eigentlich hatte ich in meinem Berufsleben oft auch etwas Glück gehabt. Dabei wohl wissend, dass "Glück", was immer man darunter auch verstehen mag, nur selten unverhofft und völlig ohne eigenes Zutun kommt. Und ist dieses schwer definierbare Wort "Glück" nicht nur mehr eine Frage der eigenen inneren Befindlichkeit, bei der als Glück oder Pech Empfundenes oft ganz dicht beieinander liegen? 

Ich hatte während meines Berufslebens zweimal solche Gefühle einzuordnen, wobei mir jedoch dabei immer nur die erstere der beiden Möglichkeiten einfiel. Trotz oder gerade weil ...! 

Aber der Reihe nach! 

"Das arme Schwein muss zwei Jahre nach Kuba", sagten die einen, während andere, fast ein bisschen neidvoll, meinten, ich sei ein richtiger Glückspilz und am liebsten mit mir getauscht hätten. Das war Mitte der Achtziger in der DDR, wo mich meine Kombinatsleitung mit einem mehr oder weniger verantwortungsvollen Job im befreundeten Kuba betraute. 

Wenn sich auch gewöhnlich Geschichte nicht wiederholt, Worte und Einstellungen können es schon. 

"Das arme Schwein muss für zwei Jahre nach China" war nun wieder zu hören. Die Anzahl der Neider war jedoch geschmolzen wie Schnee in der Frühlingssonne. 

Denn mittlerweile schrieben wir Mitte der Neunziger. Einige Kleinigkeiten hatten sich in der Zwischenzeit radikal verändert. Die Handlung spielte nun zwar im selben Ort, aber in einem anderen Land. Längere Zeit vom heimischen Brotkorb im Auslandseinsatz abwesend zu sein, früher ausschließlich eine Frage von Ehre und Anerkennung, konnte nun gelegentlich recht gefährlich werden. Marktwirtschaft und "Freiheit" prägten nun die Handlungen der Menschen, nicht nur von Feind, sondern auch von Freund und von "Freund". 

Auch Situationen können sich duplizieren: Bei beiden Herausforderungen lief Einiges fast gleichlautend ab. 

In den Achtzigern erst eine kurze Schnupperreise nach Kuba, dann Vorbereitung in der Heimat, dann zwei Jahre am Stück (mit gelegentlichen Heimflügen). 

Zwei aufregende, anstrengende, großartige Jahre. Land und Leute - ein Traum. Viel zu viel, um in dieser kleinen Geschichte Platz zu finden. 

In den Neunzigern dann nahezu dasselbe: Erst eine kurze Schnupperreise nach China, dann Vorbereitungen in der Heimat, dann zwei Jahre am Stück (mit gelegentlichen Heimflügen). 

Wieder zwei anstrengende, aufregende, großartige Jahre. Land und Leute - wieder ein Traum, ein etwas anderer. (In einer Anthologie: "Ausgerechnet nach China!" aufgeschrieben.) 

Damit erschöpft sich jedoch der Gleichklang der Ereignisse.

In Kuba hatte ich zwar auch eine interessante und verantwortungsvolle Aufgabe zu lösen, war aber dort nicht allein, der Betriebsdirektor und auch zwei andere Kollegen waren Ossi-Deutsche. Ich hatte meine kubanischen Kollegen zu Fragen der Anwendungstechnik unserer Produkte, der Qualifizierung der Laborarbeit, auch zur Produktion und Technik mehr zu moderieren, als ganz konkrete Einzelverantwortung zu tragen. 

Anders in China: Dort erwartete mich eine ungleich größere Herausforderung. Dort war ich allein, ohne Familie, ohne andere europäische Kollegen. Ich hatte zu Hause mit deutschen Kollegen der Mutterfirma (deutsch/amerikanisch mit Sitz Frankfurt/M) das Basic-Engineering für ein neues Werk ausgearbeitet. 

Mit diesem Bündel Papier im Koffer kam ich nun nach China, um daraus etwas Praktisches zu machen. Projektierungs- und Baufirmen suchen, Projektierung und Bau begleiten und steuern, Ausrüstungen suchen und vertraglich binden - dabei nur zwei Hauptausrüstungen aus Europa -, Rohstoffe suchen und für den geplanten Einsatz qualifizieren, d.h. Qualitätsstandards fixieren und versuchen diese mit den chinesischen Lieferanten abzugleichen und auch durchzusetzen. Energieträger (Gas, Wasser, Elektrizität) sichern, Mitarbeiterschulung und schließlich Probelauf und Leistungsnachweis. 

Fast unmöglich, das alles unter eine Decke zu bekommen, war das Hauptthema vieler schlafloser Nächte. Dazu ausschließlich über Englisch, was ich als Ossi, der ich Russisch in der Schule gelernt hatte, mit viel Aufwand erst nach der Wende zu lernen begonnen hatte. 

Trotzdem, das zunächst auch für mich schier Unmögliche geschah. Besonders auch dank des Ehrgeizes, Könnens und Fleißes meiner chinesischen Kollegen: Zum geplanten Termin, zwei Jahre nachdem ich mit meinem Koffer voll Papier dort gelandet war, erfolgte der Probebetrieb und bereits nach zwei weiteren Jahren lieferte unser chinesischer joint-venture-Partner die ersten Gewinne bei der Mutterfirma ab - absolut unüblich. Eine Erfolgsstory wie sie besser kaum denkbar ist. 

Aber nicht nur die Größe der Aufgabe, Verantwortung und Herausforderung war zwischen den Langzeit-Einsätzen in Kuba und China unterschiedlich, nein, es gab da noch mehr bemerkenswerte Unterschiede. 

Sicher war ich ein einigermaßen brauchbarer Ingenieur, aber das waren unzählige andere auch. 

Dass ich gleich zweimal - in beiden Systemen! - das Glück oder Pech (s. o.) hatte, für solch eine Herausforderung ausgewählt zu werden, lag wohl besonders auch daran, dass ich mich für Derartiges immer recht offen gezeigt hatte und man das höheren Ortes wohl wusste. Zudem hatte ich als junger Ingenieur, Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger schon mal, damals nicht als Hauptverantwortlicher, sondern als Ausführender, ein kleineres Werk in meiner sächsischen Heimatstadt aufgebaut, in dem ich dann jahrzehntelang, sowohl vor als auch nach der Wende, Technischer Direktor war. 

Mit einer solchen Berufsbiographie und dann auch noch nach dem Kuba-Einsatz konnte einem, vorausgesetzt man schoss keine Riesenböcke, in der DDR kaum etwas Ernstes passieren. Dazu musste man nicht mal politisch/parteilich besonders "abgesichert" sein, was ich ja ganz gewiss nicht war. Aber dass Loyalität hierbei eine Zweibahnstraße war und sein musste, schien mir damals keine betriebsspezifische oder gar personengebundene, sondern eine systemimmanente Selbstverständlichkeit zu sein. Und ich hatte auch in anderen vergleichbaren Fällen niemals Anderes gehört. Gewiss diente "Kaderpolitik" damals neben der langfristigen nachhaltigen Aufgabensicherung auch zur Systemstabilisierung. Aber ob und wie weit man sich dabei einließ, lag dabei trotzdem im rein persönlichem Ermessen und in eigener Entscheidung. Diese, auch damals vorhandenen Freiheiten kann heute niemand, auch nicht mit Bezug auf das so genannte Zwangsregime, negieren. (Siehe meinen Beitrag in "Spurensicherung V"). Wer das trotzdem tut und zu bereitwillig nach dem hingehaltenen Köder "Zwangsregime" schnappt, um seine Vergangenheit zu erklären, sollte sich dabei fragen, welche Rolle die Verdrängung eigener Defizite hierbei spielt. 

Unzählige erfolgreiche, tüchtige und integere DDR-Manager und Persönlichkeiten, die diesen "Kunstgriff' nicht nötig haben, belegen das. Ich bin überzeugt, die übergroße Mehrheit. Und übrigens - wie ist das eigentlich heute in unserer durch und durch korruptionsgeschüttelten Gesellschaft? (Aber das wäre dann eine andere Geschichte.) 

Während meiner Kuba-Zeit erfolgten auch in meinem Betrieb und dem übergeordnetem Kombinat einige großräumige Umstrukturierungen. Von Freunden erfuhr ich, dass auch ich dabei etwas ins Gespräch geraten war, weil meine Abwesenheit für andere als persönliche Chance gesehen wurde. Zudem war ich schon damals der designierte Nachfolger meines Chefs, was nicht nur mit ungetrübter Freude verbunden war. Zum Glück hatte ich jedoch schon viele Jahre vorher gemerkt, dass für mich die Rolle eines guten zweiten Mannes viel besser passte, als an der Spitze zu stehen, zu repräsentieren, an Lobby-Netzwerken zu basteln, auch Schaum schlagen zu müssen. Somit entwickelte sich eine stabile und auch leistungsfähige Leitungshierarchie. Und außerdem war ich ja nun noch im Auftrag des Kombinates in Kuba! Welche Frage, da war kein Raum für irgendwelche Spekulationen, da war man sicher wie in Abrahams Schoß. 

Da war nach der Rückkehr in die DDR eine weiche Landung absolut sicher. 

Wer da versuchte zu spekulieren und für sich eine Chance zu sehen, der machte mit ziemlicher Sicherheit eine Bauchlandung. Obwohl freilich der Ehrgeiz Einzelner sich in nichts unterschied in den beiden Ländern (DDR und BRD), von denen hier die Rede ist. 

So gingen wir in die Wende! Angefüllt mit Ungewissheit über unsere Zukunft, mein Kuba-Einsatz war, ebenso wie mein kurz zuvor erworbener "Wartburg", plötzlich wertlos geworden. 

Unser Betrieb, schon zu DDR-Zeiten immer ein Vorzeigebetrieb, wurde gleich 1990 von einem bekannten großen westdeutschen Chemiekonzern übernommen. Erfreulicherweise schien ich auch für die neuen Herren einen gewissen Marktwert zu besitzen. Ich blieb in meiner Funktion, war verantwortlich für die technische Umstrukturierung, bis Mitte der Neunziger auch das geschafft war. D

ann kam China. Von der Frankfurter Mutterfirma, mit vielen potenten guten Technikern bestückt, fand sich keiner, der für den Aufbau des neuen Werkes nach China wollte. Ja, nach Amerika oder Italien, Frankreich, Spanien und wo immer sonst wir Tochterunternehmen hatten, wären sie schon gegangen. Aber nach China? Nein, das könnte doch lieber der Ossi machen, der kennt schließlich den Kommunismus aus eigenem Erleben. 

(Dass mein heimischer Chef, in einer auch für ihn neuen Situation, eine Chance für sich witterte und mich dort in Frankfurt wegen China erst ins Gespräch gebracht hatte, erfuhr ich erst viel später.) 

Als mir der Vorstandsvorsitzende des Weltunternehmens, ein hochverdienter, seriöser und sehr glaubwürdiger Mann, schließlich die China-Offerte samt der "Danach"-Perspektive als Nachfolger meines Chefs erläuterte, gab es für mich keinen Anlass, über den konkreten China-Vertrag hinaus, mir auch noch meine Zukunft nach der Rückkehr wasserdicht bestätigen zu lassen. 

Und so ging ich also ab nach China. Da es zudem noch eine Erfolgsstory wurde (s. o.) und dazu noch mit meiner beruflichen Biographie und Ansehen im Hintergrund, sollte ich mir wohl keine größeren Sorgen um meine Zukunft zu machen brauchen, egal in welcher konkreten Funktion das dann mal sein würde. 

Dachte ich zumindest. 

Da jedoch hatte ich wohl eine Rechnung gemacht, ohne an die jetzt geltenden Gesetze der Marktwirtschaft und Ellenbogengesellschaft zu denken. Da hatte wohl meine DDR-Vergangenheit noch zu sehr mein Denken gesteuert. 

Hatte übersehen oder durch meine lange Abwesenheit gar nicht merken können, dass da ein jahrzehntelanges kollegiales, loyales und erfolgreiches Verhältnis aus verschiedenen Gründen plötzlich in Rivalität umgeschlagen war. 

Denn, wenn die Versprechen des Vorsitzenden nach meiner Rückkehr umgesetzt worden wären, hätte mein Chef schon mit 63 Jahren in den Ruhestand gemusst. Das aber ging auf keinen Fall. Diese Gefahr war für ihn ganz real, da insbesondere auch in Frankfurt über die klare und problemlose Nachfolgeregelung im kleinen sächsischen Tochterunternehmen schon ganz offen gesprochen wurde. 

Also wurden alle Register, die das neue System bot, gezogen. 

Einzelheiten hierzu auszubreiten, muss aus zwei Gründen unterbleiben. Denn erstens soll es keine Abrechnung werden, die auch wirklich nicht nötig ist, wo für den Auslöser wohl eher Bedauern angebracht wäre. Zweitens würde es am Thema vorbei führen und müsste dann eine andere Geschichte werden. 

Eine Geschichte von der Wandlungsfähigkeit von Menschen, von Egoismus, Skrupel- und Schamlosigkeit, von persönlichen Verflechtungen und Vereinnahmungen, vor allem von Heuchelei. Eine Geschichte von neuen Seilschaften, wogegen diejenigen aus früheren sozialistischen Zeiten eher wie Kindermätzchen anmuten. 

Die Alarmglocken schrillten also ganz laut. Der, der sie besser hätte auch hören sollen, war jedoch 9 000 km weit weg und außerdem, wie auch früher schon, mit einer gewissen Naivität geschlagen. 

Um es kurz zu machen: Nach der Erfolgsgeschichte in China hatten "Umstrukturierungen" bewirkt, dass in meinem Heimatbetrieb, den ich dreißig Jahre zuvor selbst aufgebaut hatte, plötzlich kein Platz mehr für mich war. 

Ich hätte entweder nach Frankfurt, vielleicht auch nach Südostasien gehen können. 

Ende der Durchsage! Dass ich somit nicht der Nachfolger meines Chefs wurde, war dabei für mich relativ bedeutungslos. Wahrscheinlich hätte ich, für den eine gewisse Unabhängigkeit immer einen hohen Stellenwert hatte, mich mit dieser Funktion, stets am Gängelband des Frankfurter Top-Managements, auch eher schwer getan. 

Aber in meinem Heimatort mit Haus, Garten, Hobbys, Freunden, etc. wollte ich nach Jahren des Umherziehens in der Welt doch bleiben. 

Somit fiel es mir nicht schwer, kleinere Brötchen zu backen, nahm einen kleineren, aber völlig neuen Job innerhalb der Firma an und baute hier, an der langen Leine unserer neuen amerikanischen Kollegen, ein neues Fachgebiet auf. Auch mit dieser kleineren Nummer recht zufrieden, legte ich mich tüchtig ins Zeug. Mein fachlicher Vorgesetzter saß nun in Amerika, ich hatte gelegentlich dorthin zu reisen, mein erst in China so richtig gelerntes Englisch kam mir dabei zugute. Ich schaute mir bei meinen Reisen nebenbei - auf eigene Kosten - u. a. auch New York, Toronto, die Niagarafälle an. Eigentlich -bei Lichte besehen - Hans im Glück, wenn die Geschichte nicht noch weiter ginge. 

Denn irgendwie spürte ich, dass ich immer noch im Wege war, stand ich immer noch jemandem zu sehr in der Sonne. Natürlich nun nicht mehr meinem Chef persönlich, dazu hatte ich mich selbst zu klein geschrumpft. "Aber da gab es ja noch andere persönliche, besonders familiäre Dinge zu regeln und für die Zukunft abzusichern. Und "der" mit seinem guten Englisch und mit den neuen Verbindungen nach Amerika stiehlt dabei ohnehin viel zu oft die Show. Also kurz vor der eigenen Pensionierung, solange der alte Vorstandsvorsitzende noch in Frankfurt war, noch einmal richtig ins Zeug gelegt." 

Und die neue Seilschaft funktionierte wieder prächtig. Das Rezept war das alte, garniert mit einem Bilderbuch-Mobbing, über das selbst die eigenen Kollegen verwundert den Kopf schüttelten. 

Ergebnis: Zwei Jahre nach meiner Rückkehr aus China, sowohl für mich als auch für alle meine Kolleginnen und Kollegen völlig überraschend, bekam ich mit 57 Jahren ein Altersteilzeit-Angebot. Die dabei auf die Brust zielende Pistole ließ verlauten: "Wenn Sie ablehnen, riskieren Sie eine betriebsbedingte Kündigung, da wir gezwungen sind, Personal abzubauen." 

Kurzes Überschlagen der möglichen Abfindungssumme (bei Kündigung nach 32 Jahren im Betrieb), Einsammeln der Trostpflästerchen in Frankfurt: "Das können die doch nicht mit Ihnen machen!" und der guten Ratschläge verschiedener Top-Leute von dort: "Mensch, sagen Sie schnell ja, ehe die sich das noch anders überlegen, ich würde das selbst gern machen", dann Akzeptanz des Vertrages. 

Hinter der Betroffenheit der Kollegen meines Heimatbetriebes war teilweise auch Erleichterung nur schwer zu verbergen. Nicht weil ich ihnen ein so schlechter Kollege gewesen war, sondern der Selbsterhaltungstrieb führte hierbei Regie: "Wenn der gehen muss, sind meine eigenen Chancen besser." 

Bereits damals (1999) war klar und wurde von vielen klugen Leuten öffentlich diskutiert: Deutschland macht einen Kardinal-Fehler, wenn es ältere, leistungsfähige, erfahrene Spezialisten ab 55 Jahren zum "Abschuss" freigibt. Wenn man bei einer Bewerbung schon oberhalb von 40 Jahren mit einem Gefühl des Mitleides angesehen wird. Wenn man das wertvollste Potential einer Gesellschaft, wie Erfahrung, Pflicht- und Verantwortungsgefühl, Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit um eines kurzen Vorteils willen verschleudert. Leute, deren Karriereplanungen abgeschlossen und die aus dem "Kinderdreck" heraus sind, Leute, die "nur" noch arbeiten würden. Dass eine Gesellschaft Möglichkeiten für vorzeitige Pensionierungen für Ältere schafft, die gesundheitliche Probleme haben oder sich den Anforderungen nicht mehrgewachsen fühlen, ist eine gute Sache.

Das Kapitol in Havanna 

 Traumlandschaft: Der Li-Fluss bei Guilin (China)

Manfred Steinert mit seinen kubanischen Kollegen (1984) 

 

Abschiedsparty in China (1977) 

 Um die geht es hier aber nicht. Sondern um den tausendfachen, staatlich sanktionierten und geforderten Missbrauch dieser Möglichkeiten um eines kurzfristigen Vorteils willen. Dabei scheint mir der Vorteil auch für einen Betrieb eher zweifelhaft. Scheint eher eine Spielart von Dummheit zu sein. Eine Mode-Erscheinung, der folgt, wer auf sich halt, wie bei allen Moden. Denn im Prinzip ist ja die Früh-Verrentung nicht nur für den Staat eine teure Schmiere (Abfindungen, Gehaltszahlungen in der Passivphase, etc. ). Auf die Folgen für die Gesellschaft und die sozialen Sicherungssysteme muss ich glücklicherweise nicht mehr besonders aufmerksam machen. Über diese "völlig überraschenden" Entwicklungen wird mittlerweile hinreichend diskutiert (und auch ein bisschen, allerdings ziemlich stümperhaft daran herumgebastelt). 

Ein persönliches Schicksal ist die eine Seite. Wie man noch sehen wird, insgesamt ist es bei mir gar nicht mal so schlecht gelaufen. Kein Grund zum Jammern also. 

Aber was die Zukunft unseres gemeinsamen neuen Gemeinwesens angeht, wäre, wie schon bei Kindergarten, Bildung und Krankenversorgung u. a. , ein unverklemmter Rückblick auf die Kaderpolitik der DDR und eine kritischere Betrachtung der "Kater-politik" des vereinigten Deutschlands wohl angebracht.

 Nicht etwa um älteren Arbeitnehmern ein Zuckerle zu bieten, sondern nur um als Gesellschaft zukunfts- und wettbewerbsfähig zu bleiben. Um vorhandenes wertvolles Potential nicht zu verschleudern, zu negieren. Nach Wegen zu suchen, die es jenseits ausgetretener Pfade durchaus gibt (!), um bei langsam ausgehender konkreter Arbeit trotzdem rar alle Mitglieder der Gesellschaft ein menschenwürdiges Dasein zu organisieren. Dabei Vorreiter zu sein. Zu organisieren, dass die Wegwerf-Mentalität wenigstens auf die materiellen Dinge beschrankt bleibt, was ohnehin schon schlimm genug ist .

Aber wieder zurück zur Geschichte: 

Sicher hatte ich es geschafft abzulehnen und trotzdem nicht gekündigt zu werden. 

Aber ich hatte mal einen Spruch gelesen, der mir sehr gefiel: 

"Es ist ein Gesetz im Leben Wenn sich vor dir eine Tür schließt, öffnet sich irgendwo eine andere. Das Problem ist nur: Man starrt auf die sich schließende Tür und übersieht dabei jene, die sich gerade öffnet." 

Das hatte sich schon nach meiner Rückkehr aus China als richtig erwiesen, warum sollte es nicht wieder richtig sein, nicht wie eine Klette an Altem zu kleben, sondern nach neuen Ufern Ausschau zu halten? 

Wenn mir nicht noch etwas eingefallen wäre, hatte ich also seit 2002 mit 60 Jahren meine erste Rente (mit 18 % Abzug) bezogen. Nicht freiwillig, sondern gezwungen. Mit einer Berufsbiographie wie aus dem Bilderbuch, nach einem - im Prinzip sogar wegen meinem - außerordentlich erfolgreichen Einsatz für die Firma in China. Und natürlich wegen meiner Naivität.

 Damit konnte die Geschichte eigentlich beendet werden. Aber das Wort "eingefallen", einige Zeilen vorher, hat hoffentlich Neugierde geweckt? Damit schließen sich dann auch der Kreis und die Betrachtungen über die Relativität von Glück und Pech. 

Vier Jahre nach meinem China-Einsatz wollte meine Frankfurter Mutterfirma im selben chinesischen Betrieb wieder ein größeres fachliches Projekt durchziehen, was ohne Begleitung aus Deutschland kaum zu machen war. 

Aber ich war ja inzwischen schon fast heraus aus dem Geschäft und mich traute sich natürlich auch keiner mehr zu fragen. Für meinen früheren chinesischen Geschäftsführer jedoch, der von den Vorgängen in Deutschland nichts wusste und mit dem ich noch per e-mail Kontakt hatte, war es selbstverständlich, dass für die genannte neue Aufgabe wieder ich nach China kommen würde. 

Mittlerweile war auch mein heimischer Chef und auch der große Vorsitzende in Frankfurt in Rente. Die neuen Chefs kannte ich alle recht gut und genoss bei ihnen auch ausreichend Vertrauen. Außerdem war Schmollwinkelmentalität noch nie, zumindest auf lange Dauer, mein Ding gewesen. 

Also sagte ich wieder für ein Jahr China zu, diesmal jedoch mit einer Bedingung meinerseits.

Denn gemäß der Altersteilzeitregelungen bedeutet ja ein Jahr Aktivzeit ein weiteres Jahr Passivzeit, d. h. mein Vertrag musste um zwei Jahre verlängert werden. 

Das wiederum bedeutete, dass ich nach Abschluss meines China-Jahres nun erst im Herbst 2004 mit 62 Jahren und mit weniger Abzug in Rente gehen werde (und natürlich auch um zwei Jahre langer mein Gehalt bezog). 

Insgesamt eine recht teure Geschichte für den Betrieb. Ich sollte mich bei ihm dafür bedanken. Insbesondere weil ich während meiner Passivzeit auch meinem Faible fürs Außergewöhnliche mit einem Dreimonats-Vertrag (ehrenamtlich über den Senioren Experten Service, Bonn) in Indonesien nachgehen konnte und mittlerweile auch neue China-Projekte am Horizont bereits heraufdämmern. 

Zum einen auch wieder für den Betrieb, den ich vor Jahren mal aufgebaut hatte, parallel dazu von einem chinesischem Konkurrenzunternehmen. Nun kommt der Betrieb ins Grübeln. Zur Konkurrenz möchte er mich nicht lassen, aber bezahlen kann er mich auch nicht (Altersteilzeit-Gesetze). Das hatten sie auch alles einfacher haben können. 

Warum ich das überhaupt noch aufschreibe? 

Unsere neue Gesellschaft hat gewiss viele Gebrechen, einige sind im System begründet, einige sind verbesserungsfähig. Ein Überdenken der gesellschaftlichen Einstellung zu älteren Arbeitnehmern, wie wir es von der DDR gewohnt waren, gehört dazu (wenngleich man auch vor den Gründen für die permanente Arbeitskräfteknappheit in der DDR nicht die Augen verschließen darf). Unsere neue Gesellschaft verfügt jedoch auch (neben den Risiken) über eine Reihe von neuen Möglichkeiten, auch Chancen für den Einzelnen. Die haben meist nur einen Nachteil, man muss sie suchen und sich erschließen. Wenn man will und kann. Die Möglichkeiten zu nutzen, ihre Chancen wie auch ihre Risiken, Glück und Pech zu relativieren, das eine sogar in das andere verkehren zu können. Je nach jemandes innerer Befindlichkeit. 

Nach vorn zu schauen! Natürlich muss auch ich die gegenwärtigen "dummen" deutschen Gesetze beachten und respektieren.

Nach diesen Gesetzen muss ich zwar vorzeitig in Rente gehen, darf aber bis zum 65 Jahr nicht wesentlich hinzu verdienen Das geht dann paradoxerweise erst wieder über 65. 

Wenn ich dann überhaupt noch will! Wenn mich meine zahlreichen Hobbys nicht davon abhalten. 

Derweil amüsiere ich mich (um ehrlich zu sein, ich ärgere mich fast schwarz über diese Dummheit) über die Diskussionen zu Lebensarbeitszeiten, Rentenhöhen, Renteneintrittsalter, Extrawürsten für Beamte, leeren Kassen, etc. und genieße das Gefühl: Ich muss ja nicht unbedingt mehr, aber ich könnte ja vielleicht noch? Und für die geschmälerte Haushaltskasse wäre es ja auch nicht schlecht. Anderseits, man braucht so vieles von dem Plunder, der einem tagtäglich versucht wird anzudrehen, eigentlich überhaupt nicht. 

1990, unmittelbar nach der Wende, musste ich zu einem "kapitalistischen" Führungslehrgang nach Berlin.

 Ein sympathischer Herr aus Köln im feinen Zwirn begann seine Ausführungen, wohl wissend, dass er vor einem Haufen von Ossi-Managern spricht: 

Was meinen Sie wohl, was für einen kapitalistischen Betrieb das Wichtigste ist, über das er verfügt? 

Wir Ossis strengten unser Gehirn an, packten aus, was wir über den bösen Kapitalismus gelernt hatten und antworteten, auch um es dem guten Mann recht zu machen: Die Maschinen, die Technik, die Computer, einer auch ganz vorwitzig, das Management. 

Nein, nein, nein kam es vom vornehmen Kölner: Es sind die Menschen, die Arbeiter und Angestellten, die Manager natürlich eingeschlossen. Engagement, Fleiß und Betriebsverbundenheit eines jeden Mitarbeiters. 

Alles andere, was Sie genannt haben, sind nur Mittel zum Zweck.

Und es klang auch alles ehrlich und überzeugt.

 Wie rieben wir Ossis uns doch da die Ohren? 

Das hatten wir doch alles jahrzehntelang mit Löffeln gefressen. 

Waren wir hier im falschen Film? Hatten wir uns verhört, als sich der Mann vorstellte? 

Oder ist das Humankapital, systemunabhängig und trotz Globalisierung, Automatisierung und Computerisierung, nicht doch tatsächlich das Wertvollste, was eine Firma besitzt? 

Gibt es demnach doch die Hoffnung für die Zukunft, dass sich etwas von einer guten Personalpolitik, trotz - oder gerade wegen - der Globalisierung ins Morgen rettet? 

Dass die "Mode" - möglichst alles raus, was eine 5 vorn hat - wieder aus der Mode kommt und dass sowohl wir mit unserer DDR-Erfahrung, als auch der freundliche Herr aus Köln richtig liegen?


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