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María Castro 

Wechseljahre - ein ostdeutsches Psychogramm 

Gern laufe ich in die mit Obstbäumen bestandenen Wiesen hinaus. Hier kann ich ungestört Zwiesprache halten. Der Wind und die Vögel vertrieben schon manche Erdenschwere, wenn ich - kritisch an meinem Lebensentwurf arbeitend - nach meiner Erzspur grub, Kindheit und Jugendzeit (die sechziger und siebziger Jahre) gedanklich durchforstete ... - Deine Zeilen aus der Weihnachtspost kommen mir in den Sinn, liebe Sille, du schreibst: "Ich hänge auch mit jeder Faser an meiner fröhlichen, ausgeglichenen, optimistischen und lebensbejahenden Jugendzeit. Die haben uns aber unsere Eltern und die (guten Seiten der sozialistischen) Ideologie ermöglicht ..." - Ja, Sille, auch ich bin ein "DDR-Kind", wurde geboren, als sie gerade vier Jahre bestand. Du hast recht, wir wuchsen in einer "sozialistischen Kuschelecke" auf, während "da draußen" der "kalte Krieg" (Höhepunkt: Kuba-Krise) und "heiße Kriege" (Algerien, Ägypten, Kongo, Vietnam) tobten. Mal ehrlich - mit der jahrelangen Lebenserfahrung betrachtet - haben uns unsere Lehrer etwa belogen, wenn sie radikal die Motive von Kriegen und deren Urheber entlarvten? 

35 Jahre DDR haben Spuren in unseren Biografien hinterlassen, jeder von uns hat SEINE EIGENE, und schon aus dieser Logik heraus muss DDR-GESCHICHTE differenziert betrachtet werden, müssen immer auch bestimmte Lebensbedingungen einer unvoreingenommenen historischen Analyse zugrunde liegen. - An Wegkreuzungen halten wir im Laufen inne, blicken um uns, um den Weg zu finden, der uns ans Ziel führt - stimmt's? - 

Herbst '89: Zunächst war mir bang - wohin ging mein Weg? Sprechchöre "Ohne Gewalt!" drängten Zweifel an einer besseren Zukunft nicht beiseite - ich ging nicht zur Demonstration. - Erinnerst du dich, Sille, als der Schriftsteller Stefan Heym am 4. November '89 ("Vorabend der Maueröffnung") auf dem Berliner Alexanderplatz sprach: "Sozialismus, nicht der Stalinsche, der richtige, ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes. Freunde! Mitbürger! Übernehmt die Herrschaft!" Euphorisch antworteten die Menschen: "Wir sind das Volk!" Zehn Jahre später reflektierte Stefan Heym: "Nur wusste damals, glaube ich, keiner von den Rednern und Veranstaltern der Demonstration, dass Gorbatschow die DDR längst abgeschrieben und dem Kanzler Kohl freie Hand gegeben hatte, statt, Wir sind das Volk!', Wir sind ein Volk!' proklamieren zu lassen und Ostberlin und die Republik mit schwarz-rot-goldenen Fahnen als Ersatz für die roten der Arbeiter zu überschwemmen, und statt zu einer Konföderation zweier gleichberechtigter deutscher Staaten kam es zur Übernahme des einen durch den anderen. Doch die Erinnerung bleibt an den 4. November des Jahres 1989, ein Saatkorn für die Zukunft." 

In den Wendewirren überraschten mich meine beiden Kinder mit einer nach Bestätigung suchenden und auf mütterliche Garantien vertrauenden Frage: "Gelt, wir sind doch in der DDR geboren ...?!" - Wenn der Mensch Ausschau hält in die Zukunft, darf er niemals seine Herkunft vergessen, sonst kappt er die Wurzeln, mit denen er im Leben verwachsen bleibt. - Liebe Sille, wir haben dann doch ein NEUES "Gesamtdeutschland" mit einer NEUEN Verfassung und einer NEUEN Fahne erwartet. Symbolisch heftete ich - mit dem zufriedenen Einverständnis meiner Kinder - Picassos Friedenstaube auf das Emblem unserer DDR-Fahne. (Die TAUBE konnte den DEUTSCHEN ADLER nicht verdrängen: Deutschland wehrt sich weiterhin, seine aus dem tiefen Verschulden zweier Weltkriege erwachsende historische Pflicht als weltweiter aktiver Friedensstifter zu übernehmen, tatsächlich "Schwerter zu Pflugscharen" umzuschmieden, wie schon 1982 in der DDR von der christlichen Friedensbewegung eingefordert wurde. Oder taugen christliche Prinzipien nur zum kapitalistischen Missbrauch als repräsentatives, schmückendes Beiwerk in Verfassungen ...?) 

Drei Jahre nach der "Maueröffnung" zog ich mit den Kindern "in den Westen", meinem kubanischen Mann nachfolgend, auf dessen Wiedereinreise in die DDR ich fast drei Jahre gewartet und der endlich in Bayern Arbeit gefunden hatte. Wir trennten uns schweren Herzens nicht nur von der vertrauten Umgebung und lieb gewordenen Gewohnheiten, sondern auch von lieben Klassenkameraden, Kollegen, Freunden und Familienangehörigen. Ungewiss, was folgt. Wurde ich wieder als Lehrerin in Bayern arbeiten können? An Willen mangelte es mir nicht, obwohl ich nie die Losung auf einem der vielen Wende-Plakate vergessen werde: "Macht endlich Schluß mit der Bevormundung der Eltern durch Lehrer und Erzieher!" Schnitt ins Herz: Unzählige Stunden hatte ich in Elterngespräche investiert, mich für eine optimale Entwicklung meiner Schuler unentgeltlich eingesetzt, Freizeit geopfert, die sich für mich mit den eigenen Kindern verringerte ...! Das war Verurteilung - Strafe. 

Ich mach's kurz, liebe Sille: das "Bayerische Staatsministerium für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst" anerkannte mein Diplomzeugnis der Pädagogischen Hochschule Erfurt nicht, obwohl ich vier Jahre studiert und fast 16 Jahre Schulpraxis in den Klassen 4 bis 10 nachweisen konnte. Auch der "Persilschein" (sprich "Politische Unbedenklichkeitsbescheinigung der Gauck-Behörde") nutzte nichts - im Schreiben des bayrischen Ministeriums hieß es belehrend: "... Die Befähigung zum Lehramt an Realschulen - sie umfaßt zwei Fächer - wird in Bayern durch das Bestehen der Ersten und Zweiten Staatsprüfung für dieses Lehramt erworben. Lehramtsprüfungen, die außerhalb Bayerns abgelegt wurden, können hier nur anerkannt werden, wenn sie der bayerischen Prüfung gleichwertig sind. Sie haben im Jahre 1976 nach den Rechtsvorschriften der ehemaligen DDR Ihr Studium erfolgreich in den Fächern Deutsch und Russisch abgeschlossen. Ihre Prüfung, die ein mindestens sechssemestriges Studium an einer Hochschule voraussetzte, entspricht jedoch nur einer Teilprüfung der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Realschulen, da für das Lehramt an Realschulen in Bayern nur Ihr erstgenanntes Fach zugelassen ist. Da aber bei einer nach den Rechtsvorschriften der ehemaligen DDR abgelegten Prüfung naturgemäß nicht gewährleistet sein kann, daß die Bewertungsmäßstabe und Prüfungsanforderungen mit den bayerischen deckungsgleich sind, ist zur Feststellung der Gleichwertigkeit eine individuelle Würdigung der Fähigkeiten des einzelnen Bewerbers in Form eines Fachgesprächs erforderlich. Dieses ist nicht mit der Ersten Staatsprüfung, wie sie am Ende eines Universitätsstudiums abgelegt wird, zu vergleichen. Es wird vielmehr der Kenntnisstand erwartet, den ein bayerischer Lehrer mit etwa gleichem zeitlichen Abstand von der Ersten Staatsprüfung üblicherweise besitzt. [... ] Nach positiv verlaufenem Fachgespräch kann Ihr nach den Rechtsvorschriften der ehemaligen DDR erworbenes Diplom einer Teilprüfung der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Realschulen in Bayern gleichgewertet werden. [... ] Ich muß Sie aber bereits heute darauf aufmerksam machen, daß im Bereich der staatlichen bayerischen Realschulen Neueinstellungen nur in geringem Umfang möglich sind ..." 

DAS, meine liebe Sille, obwohl der Einigungsvertrag festlegte, dass die in der DDR erreichten Qualifikationen gültig bleiben sollen! Zum Gluck war ich der Willkür des bayerischen Staatsministeriums nicht ausgeliefert; der Heimleiter eines Internats in Oberbayern hatte schon zwei Jahre vor meiner Anfrage im heutigen Hohlmeierschen Ministerium mit einer überraschend positiven Einstellung einen Arbeitsvertrag mit mir abgeschlossen: "... Mit Leuten aus der DDR haben wir gute Erfahrungen ..." 

Du mochtest, dass ich als "Ossi im Westen" ein wenig mein zwölfjähriges Leben bilanziere. Blattern wir im Tagebuch, liebe Sille! 

"September 2001: Die Welt ist seit dem 11.9. anders ... es wird Krieg geben ... ich muss neue Wege zu mir suchen, Wege zu anderen, Wege zum Ändern. 

Oktober 2001: "NO WAR IN AFGHANISTAN" - wegen des selbstgefertigten Plakates in meinem Auto musste ich auf Anraten meines Chefs - um den "sozialen Frieden" zu erhalten - mein Auto vom internatsinternen Parkplatz fahren, um diese gegenständliche Meinungsäußerung nicht entfernen zu müssen. - Habe ich als "Ossi" da etwas falsch gemacht? Oder werden in einem demokratischen Rechtsstaat Ansätze von Friedensbewegung eingeschränkt? 

Die Bilder afghanischer Kinder verfolgen mich ... Es ist, als würde man mich stückchenweise loschen wollen. Quo vadis, Germania? 

Nachsinnen in Ostberlin: Warum hat die PDS bei der Berlin-Wahl so gut abgeschnitten? Sie sollte doch lange schon "entzaubert" (d. h. verschwunden!) sein! Alle Mutmaßungen treffen - daneben: Mit altbundesdeutscher Denkgepflogenheit, die den Algorithmen des "Kalten Krieges" folgt, wird man niemals ostdeutsche Befindlichkeiten erfassen! Verzerrte Interpretation des PDS-günstigen Wahlergebnisses, denn den Wählern wird nicht bescheinigt, dass sie eine reformierte sozial ausgewogene Politik erwarten.

November 2001: Mein Herz krankt am Zustand der Welt - Diagnose: Herzrhythmusstörungen. Gestört ist auch der Herz-Rhythmus der Welt, weil nicht der MENSCH im Mittelpunkt des Lebens steht, sondern MACHT und vor allem GELD. - Welt, bist du Schöpfungsplan des Teufels? - 

Februar 2002: Suche nach der WAHRHEIT über das Aus meines Heimatlandes, nein, keine Nostalgie. Objektive Aufarbeitung jüngster deutscher Geschichte in Ost UND West; es geht um WERTE- und SELBSTWERT-Bestimmung. Warum wird bis zum heutigen Tag alles, was "DDR" heißt (und positiv war!) diskreditiert? Mir bleibt meine Heimat viel wert. Hin und wieder fühle ich "Amputationsschmerz", bemerke Identitätsverlust. Ich habe Sehnsucht nach dem einfachen DDR-Alltag, trotz Versorgungsschwierigkeiten und gelegentlich spürbaren politischen Druckes. 

Mai 2002: Bluttat am Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Ostdeutschland hat endgültig seine "Unschuld" verloren ... Friedliches Leben in einem demokratischen Gemeinwesen? - Der Egoismus mit seinen Schwestern Gewalt, Ignoranz und Arroganz begraben unsere Menschlichkeit. - Oh, mein Erfurt, du liebe Studienstadt - mein Herz weint! 

Juli 2002: Die Krise in der Gesellschaft geht tief durch meine Denk- und Gefühlswelt. Im Moment sehe ich für die praktische Umsetzung meiner Ideale kaum Möglichkeiten ... - Lese "Altweibersommer" von Julia Onken: WECHSELJAHRE. Ja, Wechsel der Gefühle, des Denkens ... Überarbeiten des Lebenskonzeptes. WELCHES bleibt? 

August 2002: Horror-Hochwasser in meiner geliebten Heimat! Tausende Sachsen evakuiert, viele verloren ihre Existenz. Ich denke, es sollte einen Solidaritätsbeitrag geben! 

Gekämpft und verloren: Bitterfeld, Meißen ... unter Wasser, Dresden - Semperoper, Zwinger im Wasser. Verzweifelte Leute. Aber auch: Solidarität. "Haben wir in der DDR gelernt, gilt immer noch." Ein Mann, etwa in meinem Alter, sagt das, andere bestätigen das "in der DDR gelernte Miteinander". Vielleicht ist diese FLUT auch eine Chance für mehr menschliches Miteinander von Ost und West. Ich hoffe sehr. 

Welle der Solidarität, aber auch das: Gewissenlose Leute aus Hannover wollten aus der menschlichen Katastrophe Kapital schlagen und lebenswichtige Sandsäcke teuer verkaufen! 

"Krisenstab" hier am Fernseher: Ich bin bei meinen Landsleuten, bin zutiefst betroffen, weine: Wer wird die vielen Menschen, die Kredite aufnahmen, um eine berufliche Existenz zu schaffen, Häuser zu renovieren, jetzt entschulden? - Mitleiden verursacht mir Magenschmerzen, dringend nötig: andere Lebensstrategie! 

Erkenntnis um "Reformation" und "Allerheiligen": Mein Leben aus MEINER Mitte heraus leben, direkt aus dem Quell, spontan, echt - ohne Bedenken... 

Februar 2003: KRIEG oder FRIEDEN? Arme Menschen im Irak! Nein, seit der "Wende" ist es auf der Welt nicht friedlicher geworden, obwohl in jener Zeit oft und gern von altbundesdeutschen Politikern betont wurde, wie friedlich es sein wird, wenn die sozialistischen Regierungen aufgelöst und der "Kalte Krieg" beendet sind. "Blühende Landschaften" wurden außerdem versprochen ... 

Millionen Menschen wünschen sehnlichst FRIEDEN auf dieser Welt; mein Herz schlägt links ... 

April 2003: Bekenne mich zu meiner entdeckten "Ost-Mentalität" (oder: DDR-Identität?) 

Ich habe ein Recht auf meine Biografie, darauf, in Zukunft DAS zu leben, was mir mit der Erfahrung meines bisherigen Lebens LEBENSWERT erscheint. (Denn: "Wo man gebogen ist, ist man gelogen ...") 

Heute, am 28. Februar 2004, schreibe ich weiter an den Zeilen für dich, liebe Sille. Über den "Sozialreport 2004", der in Berlin vorgestellt wurde, las ich: "... Verfestigung einer Ost-Identität. Diese wurzele aber nicht in der Vergangenheit, sondern in der aktuellen Gleichartigkeit der Lebensverhältnisse in den neuen Ländern ... Die Ungerechtigkeit nehme zu, und die Demokratie verblasse." 

Ich möchte dem hinzufügen, dass diese "Ost-Identität" sich auf Westdeutschland ausbreiten wird - der rasante Sozialabbau induziert die sich ausbreitende Nachfrage nach einem sozialen Wertgefüge, worauf unsere Identität basiert. - Richtig, die "Westler" hören eher zu, wenn der Satz beginnt "In der DDR ..." oder "Bei uns ..." Mit den Kollegen gibt es einen guten Konsens; wir arbeiten miteinander und mit unseren Schülern partnerschaftlich, bemüht um ihre optimale Persönlichkeitsentwicklung. Ich halte auch nach wie vor an der Methode vertraulicher Elterngespräche fest. Demokratische Mitbestimmung wenigstens am Arbeitsplatz umsetzen - das ist unser gutes Recht und im Grundgesetz verankert. "Das Grundgesetz ist so sozial intendiert, dass Kapitalismuskritik nicht nur von der Verfassung gedeckt ist, sondern geradezu ein Verfassungsgebot darstellt", bestärkt mich die Schriftstellerin Daniela Dahn. Das heißt auch: Die Ziele der Herbstrevolution von 1989, ein Ankommen in der Demokratie erreichen wir nur durch eine in der Verfassung verankerte antikapitalistische Haltung! - Toll, das muss ich mit meinem lebenserfahrenen, lieben (westdeutschen) Lebenspartner besprechen! Dauerthema war bisher die dringend nötige Bildungsreform; klar, bei zwei ehemaligen Lehrern, denen das Schicksal der Jugend am Herzen liegt. 

Adieu, liebe Sille, ich bleibe hier im Westen, immer in sehnsüchtiger Verbundenheit mit meiner Heimat, aber es gibt Anzeichen, dass sich der Westen auf den Osten zubewegt ...


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