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Ingetraut Lander-Berndt

Begegnungen

 

1. Mai 1990. Gesamtberliner Maidemonstration. Konträr erlebt

Zwei Leningrader Psychologie-Studentinnen - zu Hause im Ural, in Tscheljabinsk -waren bei mir zu Besuch. Der 1. Mai war ihr letzter Berlin-Aufenthaltstag. Selbstverständlich wollten wir bei der Demonstration dabei sein - erstmals wieder durch Gesamtberlin. Die Gewerkschaften hatten dazu aufgerufen. Da ich mir nicht sicher war, ob es möglich sein wird, meine Begleiterinnen mit durch die Kontrolle zu bringen, hatte ich sie nicht wissen lassen, dass der Demonstrationszug durch den Westteil der Stadt geht. Es war immer noch so: DDR-Bürger mussten beim Übergang in den Westteil den Personalausweis vorzeigen. Meine Gäste hatten natürlich nur Einreisedokumente für die DDR. Bei der Kontrolle, unmittelbar am Brandenburger Tor, sprach ich vertraulich einen dort Dienst tuenden DDR-Grenzer an. Obwohl an diesem Tag ganz locker kontrolliert wurde, ich wollte mit den beiden kein Risiko eingehen; denn am Abend mussten sie pünktlich zu ihrer Rückfahrt am Bahnhof sein. Der Grenzer: "Kein Problem heute. Ich stehe bis 18 Uhr hier. Kommen Sie einfach hier wieder zurück." Nachdem wir ein paar Schritte weitergegangen waren: "Wir sind im Westen!" sagte ich den beiden. Lena, sie sprach sehr gut deutsch, hatte Mühe, ihrer Freundin begreiflich zu machen, dass wir eine Grenzkontrolle passiert hatten, ohne dass sie etwas gemerkt haben. Auf neudeutsch gesagt: Sie waren happy. Nun liefen wir durch die Allee, am Tiergarten entlang, bis zur Siegessäule. Damit sie "im Westen" nicht nur rechts Park und links Park zu sehen kriegten, fuhr ich mit ihnen von der Siegessäule aus mit einem Bus zum Bahnhof Zoo. Wir gingen zur Gedächtniskirche und ein Stück den Kurfürstendamm entlang. Verlockende Schaufenster. Ein Glück, die Geschäfte waren geschlossen. Schließlich war Feiertag. Ich hatte - wie konnte es damals anders sein - nur wenig Westgeld bei mir, gerade ausreichend für Fahrscheine, ein Eis und ein paar Ansichtskarten.

Die Rückkehr am Nachmittag in unser Berlin - immer noch Hauptstadt der DDR -verlief nicht ganz so unproblematisch. Wir sind nämlich nicht durchs Brandenburger Tor zurück, sondern über den Bahnhof Friedrichstraße. Und hier gab es nach wie vor den gesonderten Übergang für Ausländer. Den durften meine beiden "Blindgrenzgängerinnen" keinesfalls ansteuern. Während ich am Übergang für DDR-Bürger umständlich meinen Ausweis heraussuchte, schlichen sich beide im Gedränge hinter meinem Rücken durch. Auch so etwas war an diesen Tagen möglich.

Abends bei der Verabschiedung am Zug: Ich merkte, dieser unerwartete Westberlinbesuch war für meine jungen Gäste zu einem Erlebnis besonderer Art geworden. Lena sagte: "Einfach so in den Westen spaziert, ohne Einreisedokument, ohne Kontrollformalitäten - das glaubt uns keiner!" Das war das " 1 .-Mai-Erlebnis" für meine beiden jungen Gäste. Hoffnungsvoll für sie.

Und mein besonderes Erlebnis an diesem Tage? Da hat sich in meinem Gedächtnis eine Episode fest eingeprägt: Der Demonstrationszug führte vorbei am Westberliner Ehrenmal im Tiergarten für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen sowjetischen Soldaten. Ich machte meine Begleiterinnen darauf aufmerksam. Wir blieben stehen. Näher herangehen war nicht möglich - Absperrung. Wie ich das gern mache, versuchte ich mit einem an der Absperrung stehenden Westberliner Polizisten ins Gespräch zu kommen. Er ließ sich ansprechen. Vielleicht fragte ich ihn, wie er es findet, dass heute wieder gemeinsame Maidemonstration in Berlin ist? - so genau weiß ich das nicht mehr. Genau weiß ich aber, dass wir ganz schnell auf die PDS zu sprechen kamen. Erst Anfang Februar hatte die Partei den Doppelnamen SED-PDS abgelegt. "Wie kann man nur diese Partei als Nachfolgepartei weiterbestehen lassen. Die Regierung müsste sie verbieten. Das ist doch genauso, als wenn man fünfundvierzig die Hitler-Partei hätte weitermachen lassen!" - so der Westberliner Polizist. Ganz zu schweigen davon: Zu diesem Zeitpunkt gab es (de jure!) noch eine DDR-Regierung. Welche Regierung meinte er? Erschreckende Unwissenheit offenbarte sich hier. Welches Klischeedenken! Jedes Gegenargument, jedes Infragestellen seines Standpunkts war vergebens. Hier war kein Nachdenken anzuregen. Eigentlich nicht verwunderlich, nur ernüchternd, wenn man sich so unmittelbar mit derartiger Borniertheit konfrontiert erlebt. Und wie wird dieser Mensch mich erlebt haben? Wenn nicht als Betonkopf, dann als arme Irre.

In meiner optimistischen Grundhaltung sagte ich mir jedoch, warum sollte dieser Polizist nicht noch lernfähig sein und irgendwann zu einer klareren Einsicht gelangen. Aber Zweifel sind angebracht. Denn: hört man Nachrichten, liest man Zeitung - man wird immer wieder damit konfrontiert, wie zähllebig diese Gleichsetzung von Nazismus und Sozialismus/Kommunismus ist. Erst kürzlich (Februar 2004) fand ich das wieder bestätigt. Ich las, zitiert aus einer Resolution der im Europa-Parlament dominierenden Europäischen Volkspartei (EVP): Nationalismus und Kommunismus seien "zwei gleich inhumane totalitäre Regime." Skandalös, eine Unverschämtheit angesichts der Opfer des Faschismus in Europa. Primär Borniertheit, wie ich es bei dem Westberliner Polizist mit seiner Gleichsetzung von SED/PDS und Hitler-Partei annahm? Wohl nicht, sondern Ideologie, bewusstes politisches Kalkül.

Zurück zum 1. Mai 1990. Das Erlebnis des Tages der beiden Leningrader Studentinnen: Wie einfach ist es geworden, mal kurz von der einen Welt in die andere - für sie bisher verriegelt und verrammelt - hinüber zu spazieren. Und für mich, für die das Hinüber und Herüber schon kein Problem mehr war? - konträr dazu: Uns trennen Welten.

 

Regionalbahn Bordeaux - Pointe de Grave.

Eine deutsch-deutsche Begegnung

Juli 1994. Per Bahn unterwegs an die französische Atlantikküste zum Urlaub, gemeinsam mit der Familie meines Sohnes. Mein Gepäck - inzwischen wohl langst am Ziel - war mit im PKW der Familie verstaut. Der Kinder wegen war aber kein Platz für die Oma. Also, ich fuhr mit dem Zug Berlin-Paris-Bordeaux, dort umsteigen in die Regionalbahn nach Pointe de Grave.

Ehe ich mich für einen Platz im Abteil entschied, wandte ich mich an einen mit mir eingestiegenen Reisenden - so an die Fünfzig, in Wanderkluft, er war gerade dabei, seinen riesigen Rucksack abzulegen. "Quelque direction?" fragte ich, denn ich wollte in Fahrtrichtung sitzen. Mehr französische Worte fielen mir nicht ein, hatte erst ein Vierteljahr zuvor angefangen, Französisch zu lernen. Der von mir Angesprochene antwortete auf meine Frage nach der Fahrtrichtung natürlich in Französisch. Und ich sagte spontan: "Ach so!" "Sie sprechen Deutsch!" entgegnete er. So kamen auf der Fahrt zur Atlantikküste ganz schnell zwei Deutsche miteinander ins Gespräch.

Wir setzen uns gegenüber. Er erfuhr von mir, dass ich das erste Mal nach Frankreich reise und aus Berlin komme - zunächst ohne darüber aufzuklären, ob aus Ost oder West. Ich erfuhr, dass er Frankreich gut kennt, schon mehrmals längere Zeit dort gelebt hat. Wir kamen also über den Austausch von Reiseerfahrungen ins Gespräch. Ganz schnell zentrierte es sich aber auf Berlin. Ihn interessierte - auf den Punkt gebracht -, wie sich die Wiedervereinigung der Stadt im Alltagsleben äußert. Ich erzahlte einiges, legte meine Sichtweise dar. Seine Nachfragen verrieten wirkliches Interesse an den Problemen. Schließlich sagte er: "So erklärt sich vielleicht, dass Berlin so viele PDS-Wähler hat." "Ich bin eine der Wählerinnen dieser Partei", sagte ich daraufhin "und auch Mitglied." Alsbald bekannte er sich als Anhänger der Grünen. Wie nun zu erwarten, als klar war, wer ist wer, kamen wir noch auf einige uns berührende gesellschaftliche Probleme zu sprechen.

Leider verging die Zeit viel zu schnell. Ich glaube, mein Reisegefährte bedauerte das ebenso wie ich. Er erreichte sein Reiseziel eine Station vor mir. Bevor wir uns trennten, verrieten wir uns, wie wir am Anfang unseres Gesprächs zu ergründen versucht hatten, ob der andere wohl Ossi oder Wessi sei. Ich hatte überlegt: DDR-Auslandskader - Botschaft, Handelsvertretung, internationale Organisation - nein, das passt nicht zu dem Wanderburschen. Also, wird er wohl Wessi sein. Wie sonst hatte er so viel Frankreicherfahrung gewinnen können. So ungefähr sagte ich es. Und er: "Sie sprachen noch von Leningrad, das hört man bei uns kaum noch. Petersburg hat sich ganz schnell wieder eingeschliffen." So tippte er auf Ossi - womit er ja, wie im weiteren klar wurde, richtig lag.

Was war es eigentlich, was trug dazu bei, dass mir diese etwa einstündige Begegnung so nachhaltig im Gedächtnis blieb? Hier saß mir kein Wessi gegenüber, der Klischees über die DDR bestätigt haben wollte, sondern der sich aufgeschlossen für meine Problemsicht als Ossi interessierte. Und noch etwas: Als Ossi, als Wessi zwar in unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen sozialisiert, stimmten wir im Gedankenaustausch über aktuell-politische Fragen im nunmehr wieder vereinten deutschen Staat recht gut überein - konkret, was die Politik der (damals noch) Kohl-Regierung anbelangte und auch die Machart des Anschlussprozesses, der so, wie er verlaufen ist, ein Zusammenwachsen im guten Sinne erschwert. Das war es wohl, was unser Miteinanderreden so angenehm und mir - vielleicht auch meinem Reisegefährten! - unvergesslich machte.

Zwar wollte ich auf dieser letzten Bahnstrecke zur Küste vor allem viel sehen, mit den Augen erleben und deshalb in Fahrtrichtung sitzen. Nicht, dass da alles an mir vorbeirauschte, aber zum Erlebnis wurde er: dieser westdeutsche, grüne Franzosischlehrer.

Mehrmals schon habe ich von dieser Begegnung erzahlt, als erstem natürlich meinem Sohn, der mich in Pointe de Grave abholte.

 

Wie aus einer Ossi-Wessi-Kurbekanntschaft eine freundschaftliche Beziehung wurde

September 1999. Auch diese Geschichte begann auf dem letzten Abschnitt einer Bahnfahrt - Reiseziel: Bad Berka. Ich sah mich im Abteil um und dachte, na, wer von den Frauen will dahin, wo ich auch hin will - zur Kur. Meine Vermutungen bestätigten sich beim Einsteigen in den Zubringerkleinbus zum Kurheim Medianklinik. Bei Frau Erika - ich nenne sie schon hier so vertraulich - vermutete ich außerdem, sie könne Wessi sein. Richtig, wie ich noch am selben Tag erfuhr. Was war es eigentlich, dass mich dazu brachte? Wir Berliner Ossi-Frauen entwickelten wohl einen besonderen Sinn dafür, herauszufinden, ist eine Frau, die uns in der Bahn, im Restaurant oder wo sonst Gelegenheit zum Beobachten ist, gegenüber sitzt, Ossi oder Wessi? Wessis haben es da in einer Beziehung einfacher: Klingen die Worte, die sie hören, in ihren Ohren sächsisch - auch wenn es thüringisch (genauer: ostthüringisch) ist - so verrat sich ihnen der Ossi. Ich weiß, Ossis hatten auch gelernt, die Herkunft aus unterschiedlichem Begriffsgebrauch zu erschließen. Wo unsereiner "zu Ostern" sagt, sagt der Wessi "an Ostern", der Wessi macht "Ferien", der Ossi "Urlaub". Mittlerweile hat sich manches ausgeglichen. Nicht nur, aber auch durch die "neue deutsche Sprachkultur", in der von Kids, von Jobsuche und Mobbing, von der Patchworkfamilie, von Azubis statt Lehrlingen, von Kitas statt Kindergarten und Kinderkrippen die Rede ist. Schade um die verdrängten Begriffe der deutschen Sprache.

Frau Erika, so sagte sie mir alsbald, hatte nicht angenommen, dass ich eine aus dem Osten sei - hatte sich auch keine Gedanken darüber gemacht. Das von meiner Kindheit herrührende Sachsisch ist wohl doch schon sehr rudimentär geworden. Der Zufall wollte es, wir fanden uns in der selben Etage etabliert. Schon am Nachmittag begegneten wir uns auf dem Weg zum Empfangskaffee und nahmen nebeneinander Platz. Die uns im Speisesaal zugewiesenen Platze ließen uns zunächst weit getrennt voneinander sitzen. Intuitiv war wohl beiderseits ganz schnell die Neigung da, sich naher zu kommen und die Freizeit im Kurbetrieb gemeinsam zu genießen. Schon am zweiten Tag hatten wir erreicht, auch bei den Mahlzeiten beieinander sitzen zu können. Zur Tischrunde gehörten zwei altere Damen - schon langjährig miteinander befreundet - aus einem westlichen Bundesland, dazu Frau Erika aus Berlin-Dahlem und ich aus Berlin-Hellersdorf.

Es muss am Montag, dem 13. September gewesen sein. Tags zuvor waren Wahlen, das wurde Tischgespräch - Landtagswahlen in Thüringen und auch in dem Bundesland, in dem die zwei mit am Tisch sitzendenden Damen zu Hause sind. An beide gewandt, fragte ich: "Und - zufrieden mit dem Wahlergebnis?" "Überhaupt nicht!" war die Antwort. Und ich daraufhin: "Da sind Sie sicher SPD-Wählerinnen", was mit Kopfnicken bestätigt wurde. (Die SPD war weit unter den Erwartungen geblieben.) "Und Sie, sind Sie zufrieden?" so wurde ich nun gefragt. "Ich bin zufrieden!" sagte ich, und es klang wohl etwas triumphierend. "Dann sind Sie CDU-Wählerin!" meinte eine der beiden. Ich schüttelte den Kopf. "Weit daneben, das ist keinesfalls meine Partei." "Dann wählen Sie PDS. Die gibt es bei uns auch schon", war prompt die Reaktion. "So ist es, die wähle ich. Und die hat in Thüringen gut abgeschnitten."

Am Nachmittag Parkbummel mit Frau Erika. Wir kommen nochmals auf das Mittagstischgeplauder zu sprechen. Meine Begleiterin war dabei stille Zuhörin. Hier sei angemerkt: Mit unserem Einander-Näherkommen waren meine politischen Ansichten selbstverständlich nicht verdeckt geblieben. Dennoch war sie wohl überrascht von meiner politischen Offenheit. Sie sagte: "Das finde ich aber gut, dass Sie dazu stehen!" - womit gemeint war, sich als PDS-Wählerin zu bekennen. Nun war ich überrascht. Denn ich sah für mich nie ein Problem darin, mich als PDS-Wählerin zu bekennen. Aber, es wäre wohl naiv, sähe ich nicht, dass es für einen Arbeitssuchenden oder einen Nocharbeithabenden gute Grunde geben kann (immer noch!), nicht jeden wissen zu lassen, dass es die PDS ist, der man seine Stimme gibt.

Zwischen uns beiden, aber auch in der Tischrunde, kommt es immer wieder mal zu Gesprächen über gesellschaftspolitische Probleme. "Wie gut, dass ich Sie kennen gelernt habe", bemerkte meine Kurgefährtin bei einem solchen Gedankenaustausch. "Ich erfahre durch Sie so manches, was bei uns keiner weiß." Das betraf zum Beispiel, was sich unter dem Begriff Evaluierungen an DDR-Universitäten und Hochschulen, den Akademien vollzog - eine im Grunde entwürdigende "Neubewertung" der Leistungsbefähigung von erfahrenen und teils international anerkannten Wissenschaftlern. Oder: dass selbst Wehrdienstleistende aus den neuen Bundesländern weniger Sold erhalten als die aus den westlichen und vieles mehr, was einem wirklichen Vereinigungsprozess alles andere als förderlich ist.

Wir zwei etwa gleichaltrigen Frauen, die hier zueinander fanden, waren ganz offensichtlich durch sehr verschiedenartige Entwicklungswege, durch unterschiedliche Lebensumstande geprägt. Kein Wunder - eigentlich zu erwarten, dass es auch unterschiedliche Ansichten in politischen Fragen gab. Dennoch wurde aus unserer Kurbekanntschaft eine nunmehr schon einige Jahre wahrende Bindung - wenn man so will: eine Ost-West/West-Ost-Freundschaft. Was führte uns enger zusammen? Mir imponierte an meiner Kurgefährtin (ähnlich wie bei der Begegnung in Frankreich) das echte Interesse an meiner Sicht auf die Probleme im Vereinigungsprozess und an dem, wie ich die DDR im Ruckblick sehe. Ich glaube, ich war gewissermaßen eine Entdeckung für sie. Wahrscheinlich bin ich noch heute die einzige PDS-Wählerin, die sie persönlich kennt und mit der sie nun auch noch freundschaftlich verbunden ist.

Und umgekehrt? Ich denke, ihr imponierte mein Interesse an ihrem Entwicklungsweg in der Nachkriegszeit, an ihrem Leben, als BRD-Bürgerin und Urberlinerin in der geteilten Stadt. Wie gesagt: recht unterschiedliche Entwicklungswege. Aber bei ihr wie bei mir immer mit viel Arbeit, mit Berufstätigkeit und Lernen, mit Sorge für die Familie verbunden. Sie wirkte viele Jahre als Geschäftsfrau - im Geschäft eines Verwandten, schon hineingeboren in eine solche Atmosphäre. Meine Erfahrungswelt war hingegen eine ganz andere.

Und das Gemeinsame? Außer dass wir übereinstimmen in wesentlichen Wertvorstellungen, unsere engere und auch die weitere Welt betreffend, und dass wir kommunikativ gut miteinander können (wie man so sagt): Als wir uns kennen lernten, lebte jede von uns beiden schon viele Jahre ein Single-Dasein - sie verwitwet, ich geschieden. Jede liebt ihr Zuhause. Beide haben wir zwei langst erwachsene Kinder, sind Großmutter mit Hingabe, pflegen unsere familiären Beziehungen, reisen gern, haben kulturelle Ambitionen und - auch das: verfolgen wir das aktuell-politische Geschehen, wenn auch mit unterschiedlichem Engagement und sicher manches aus unterschiedlichem Blickwinkel beurteilend.

Wenige Wochen nach unserer Kur in Bad Berka trafen wir uns wieder - in Berlin-Dahlem. Habe mich dort an der Seite von Frau Erika viel mehr umgesehen als ich es allein gemacht hatte. Bald darauf hat sie an meiner Seite einiges in Berlin-Hellersdorf erkundet. "Ohne Sie wäre ich hier nie hingekommen", meinte sie, als wir im neuen Zentrum des Stadtteils waren.

Entdeckungen und Wiederentdeckungen in den sich fast drei Jahrzehnte getrennt voneinander verändernden Stadtteilen zu machen, wurde uns wichtiges Anliegen. Auf der Grünen Woche waren wir auch - mir zuliebe. Frau Erika war davon eigentlich gesättigt, zumal die Grüne Woche rar sie früher als Geschäftsfrau mit anstrengender Arbeit verbunden war. Wir haben die Gegend um den Alexanderplatz durchstreift, wo meine Gefährtin seit Jugendjahren nicht mehr war und fanden es beide schade, dass die alten Markthallen nicht erhalten geblieben sind. Wir sind über den Gendarmenmarkt geschlendert, haben uns in der Werderschen Kirche und im Berliner Dom umgesehen, auf dem Schlossplatz runtergeschaut auf die freigelegten Reste von Kellergewölben des Stadtschlosses und uns gefragt: Was soll es, das alles wieder auszubuddeln? Ein Ausflug führte uns in den Grunewald und zum Wannsee. Am Pariser Platz haben wir im Liebermann-Haus eine Ausstellung besucht und ganz in der Nahe ins Hotel Adlon reingeschaut. Der Kaffee war uns dort, wie zu erwarten, zu teuer. Im Nikolai-Viertel waren wir natürlich auch mal. Und hoch oben von der Reichstagskuppel haben wir den Ausblick auf das nun wieder ungeteilte Berlin genossen. An Ideen, an Vorschlagen für gemeinsame Unternehmungen fehlte es nie.

Dass es bei unseren Begegnungen nie Mangel an Gesprächsstoff gab, ist völlig klar. Aber, zugegeben, in den Mittelpunkt ruckten immer wieder die Enkel. Verständlich, wenn sich zwei Großmutter unterhalten, die sich mit dieser Rolle voll identifizieren und auch wirklich viel für ihre Enkel da sind.

Und die Politik? Irgendwie reizt die aktuelle Situation immer zu einem Gedankenaustausch. Es wäre wohl bei der Art und Weise unseres Zusammenfindens auch eigenartig, wenn diese Thematik ausgespart bliebe. (Übrigens, Frau Erika kennt die Beitrage, die ich in Band IV und V dieser Reihe veröffentlicht habe und diesen hier selbstverständlich auch. Volle Zustimmung!)

Die Leserin, der Leser konnten es wohl nachvollziehen: Aus der Ossi-Wessi-Zufallsbegegnung ist eine stabile freundschaftliche Bindung geworden. Offensichtlich sehen aber sowohl meine als auch Frau Erikas Angehörige unsere Beziehung als so selbstverständlich nicht an. Warum sonst mal immer wieder die Frage: "Wie steht's um deine Kurbekanntschaft aus dem Osten/dem Westen? Trefft ihr euch noch?"

* * *

 ... und was werden wir beim nächsten Treff unternehmen? Vielleicht mal eine Stadtrundfahrt.

 

Und wieder mal am Rande einer Demonstration

Es muss Ende Mai 2002 gewesen sein. In Berlin große Demonstration gegen den drohenden Irak-Krieg; insbesondere gegen Bushs Kriegsgelüste. Er hatte unmittelbar zuvor Berlin besucht. "Mister President, wir wollen Ihren Krieg nicht!" - so stand es auf dem Transparent, das PDS-Mitglieder beim Bush-Empfang im Bundestag blitzschnell entrollt hatten. Ein Eklat. Die "Saaldiener" waren sofort in Aktion.

Im Demonstrationszug - er bewegte sich Unter den Linden entlang, in Richtung Alex - war diese Losung vielfach zu lesen. Es ging stockend voran. Ich befand mich mit Freunden unweit der Staatsoper. Dort wollten wir uns einreihen. Wieder mal verharrte der Demonstrationszug. Wo wir am Rande standen, stand auch gerade eine Reihe von Polizisten (oder waren es mehrere Reihen?) quer über die ganze Straßenbreite. Ihre Haltung mutete recht locker an. Ich lief ein paar Schritte auf sie zu: "Oh, das find ich aber gut, dass sie heute hier mitdemonstrieren!" sagte ich in freundlich-provozierendem Ton. "Keinesfalls. So ist das nicht. Unser Auftrag ist, für ordnungsgemäßen Verlauf der Demonstration zu sorgen", war die freundlich-sachliche Antwort. Und ich daraufhin: "Dann werden Sie heute bestimmt nicht viel zu tun haben." "Das hoffen wir auch." sagte der unmittelbar vor mir Stehende. Ihm zugewandt, fragte ich: "Und wenn Sie heute keinen Dienst hätten? Würden Sie dann mit demonstrieren?" "Ich würde bestimmt schlafen", kriegte ich prompt zur Antwort. Ehrliche Antwort? Vielleicht verständlicher Weise wirklich großes Schlafbedürfnis? Durchaus vorstellbar. Oder: sich nicht bekennen wollen - so oder so? Nicht zu verdenken, wenn man so herausgefordert wird und Mann bei Mann steht.

Ein Stück weiter. Einzelne am Rande stehende Polizisten. Ich sprach einen noch recht jungen an, der in genügendem Abstand zu anderen stand: "Es geht ja nur langsam vorwärts heute. Ein Glück, der Wettergott ist wieder mal auf unserer Seite. Wenn Sie keinen Dienst hätten und könnten, wie Sie wollten? - wären Sie dann hier mittendrin?" Die Antwort - leise gesprochen aber sehr bestimmt und nonverbal unterstützt: "Ick, ja!" Bei dem "Ick" tippte er sich mit dem Daumen an die Brust. War es ein Ossi? War es ein Wessi? Eine Vermutung hatte ich zwar. Aber, kann man es wissen? So oder so, ich fand es gut.

Spuren in die Zukunft? Sicher sehr optimistisch gedacht. Na ja, ich bin nun mal eine unverbesserliche Optimistin.


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