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Ekkehart Heisig

Vertragsbruch oder Geschäftsunfähigkeit?

Ich war nicht zu den Montagsdemonstrationen, die in unserer Stadt am Donnerstag stattfanden, gegangen, habe die Wende nicht herbeigesehnt, wollte auch keine neue Partei gründen. Dabei fühlte ich, dass es mit unserem Land so nicht weitergehen konnte.

Obwohl mich ,meine Partei' 1986 aus meinem schönen Redakteursessel entfernte und ich ,in die Produktion' musste, weil ich doch einige absolute Dummheiten der Führung nicht mittragen mochte, waren Sozialismus und DDR für mich erstrebenswert und verteidigenswert. Bis zur Wende hatte ich mit meiner Frau in unserem Haus einen kleinen Privatbetrieb mit insgesamt fünf Mitarbeitern aufgebaut.

Jedes Machtstreben ekelte mich an und ich hielt mich von den Repräsentanten der Macht fern. In Kurzgeschichten und Gedichten philosophierte ich darüber, was für einen deformierten Charakter doch die Mächtigen haben mussten, die Macht um ihrer selbst willen erstrebten, so dass ihnen ihr persönlicher Einfluss wichtiger war als ihre Ideale von einer besseren Gesellschaft (was immer das auch sein sollte), Gerechtigkeit und Moral. Ich hatte jede Lust auf Politik verloren, weil meine Mitwirkung nicht erwünscht war. Und das blieb so nach der Wende. Ich eignete mich also auch nicht zum Wendehals.

Es ging uns gut: Wir nahmen Gardinen in Hotels, Gaststätten und Büros ab, wuschen sie und brachten sie nach 48 Stunden spätestens wieder an. Außerdem setzten wir die Gardinenstangen instand - insgesamt eine Marktlücke. Die nächste Firma dieser Art wirkte in Ostberlin. Deshalb hatte ich den Mut, weiter zu machen, denn vor der Wende war ich sozusagen ein Vorreiter der Marktwirtschaft. Wir haben noch einmal die Ärmel hochgekrempelt. Ich war damals 46 Jahre alt.

Doch die Dinge liefen anders: Meine früheren Kunden hatten nach der Währungsunion kein Geld, wechselten den Besitzer oder schlössen ihre Pforten. Durch Kontakte zu westdeutschen Geschäftsleuten wurde ich auf Kundenfang geschickt - bei knapper Bezahlung, aber vor der Währungsunion. Zuerst bekam ich ein schönes Auto, das ich aber bald wieder abgeben musste, als sich unsere Zusammenarbeit verschlechterte, weil ich mich wieder einmal ausgenutzt fühlte. Neue Firmen, die entstanden, hatten keine Gardinen, sondern Streifenjalousetten. Außerdem hatten wir für unsere Wäscherei neu bauen müssen, weil sich unser Haus mitten in einer Siedlung befand, wo bundesdeutsche Lärm- und Abwasserbestimmungen einen solchen Gewerbebetrieb nicht erlaubten.

Also entschlossen wir uns, ein Reisebüro zu eröffnen, und nahmen eine Hypothek auf unser Haus auf. Trotz allen Lernens, unermüdlichen Bemühens und unfairer Behandlung durch Partner kann ich mir nur teilweise die Schuld an dem anschließenden Absturz geben, denn woher sollten wir das alles als Bürger aus dem Osten kennen, was sich in der Bundesrepublik in Jahrzehnten Stück für Stück entwickelt hat. Es galten fast über Nacht Gesetze und Bestimmungen, die unseren Lebenserwartungen völlig widersprachen. Nach zweieinhalb Jahren war ich arm und ohne Familie.

Nunmehr 50 Jahre alt, analysierte ich meine Erfahrungen und Kenntnisse aus der Vor- und Nachwendezeit und kam zu folgendem Schluss: Es liegt nicht am System, nicht am Staat, sondern an Dir. Mach was Du kannst - schreibe!

Und ich schrieb: Innerhalb von zwei Jahren 350 Bewerbungen und weitere 50 in Englisch an auswärtige Firmen. Das hatte mir das Arbeitsamt geraten. Ein Vorstellunggespräch und ein dreimonatiges unbezahltes Praktikum waren das Ergebnis. Inzwischen sind zehn Jahre vergangen. Nun bin ich 60. Ich habe mich dank kleiner Erbschaften noch zwei Mal selbständig gemacht, einmal eine gewisse Zeit sogar gut verdient und dann wieder schließen müssen. Vier Buchtitel habe ich geschrieben und einen sogar mit mäßigem Erfolg veröffentlicht.

Doch mit Büchern hat das im neuen Deutschland so seine eigene Logik: Man arbeitet beispielsweise ernsthaft - damit meine ich fast den ganzen Tag - zwei Jahre an einem Buch und verdient, weil der Verkauf vom Verlag organisiert wird, am Ende 20.000 Mark. Hort sich gut an, doch wenn man Steuern und Krankenversicherung bezahlt hat, ist man beim Sozialhilfesatz.

Inzwischen haben sich die Verhältnisse noch verschärft. Zahlreiche Verlage reisen auf die Masche, älteren Menschen, die meinen, sie konnten ein Buch schreiben und auch noch eitel genug sind, sich Schriftsteller oder Autor zu nennen, eine Summe zwischen drei- und fünftausend Euro - je nach Seitenzahl - abzunehmen. Es wird eine Buchpremiere veranstaltet, da gehen die freien Autorenexemplare weg und für jedes weitere Exemplar bezahlt der Autor ca. ein Drittel des Verkaufspreises. Wenn nun ein Rentner ein Buch für 20 Euro über seine Heimatstadt geschrieben hat, muss er bis an sein Lebensende Buchlesungen veranstalten, um sein Geld wieder hereinzubekommen. Wenn eine zweifelhafte Moderatorin Ende der Zwanziger ihre Amouren ausbreitet oder eine Kanzlergattin ihre pfälzischen Kochrezepte, mag das noch angehen, aber wenn jemand wie ich, der sich ernsthaft mit Schicksalen aus der ostdeutschen Zeitgeschichte befasst, etwas veröffentlichen will, dann kann sich niemand dafür interessieren, weil es niemand finanzieren kann und will. Wenn mich also jemand fragt, wie es mir geht, und mich nicht sofort die Wut packt, muss ich sagen: Wunderbar! Endlich kann ich schreiben, was mir gefallt - ohne Chef und ohne Nörgler. Doch wie ich Brot und Wein bezahlen soll, ist mir schleierhaft.

Wie sieht die Zukunft aus? Wenn es nach den Unglücksbotschaften aus Berlin geht, soll ich noch mindestens drei Jahre arbeiten, weil ich natürlich nimmermehr 35 Arbeitsjahre zusammenbekomme. Schließlich habe ich bis Mitte Zwanzig studiert. Tatsachlich suche ich aber schon seit zehn Jahren als Akademiker ohne Erfolg eine Arbeit -und die nicht nur in einem Beruf, der ein Studium erfordert.

Während der Wende glaubte ich, man könne in jeder Gesellschaft - so auch in der Bundesrepublik - eine Art Vertrag schließen: Ich arbeite für dich gut und ideenreich und du, Staat, bezahlst mich mehr oder weniger gut. Das war wohl ein Irrtum.

Ich glaubte an einen zweiten Vertrag: Reisefreiheit, Benzin 1 DM, Bananen 80 Pf, Schuhe und Kleidung billiger als in DDR-Geld ... ich muss ja nicht jedes Jahr in Urlaub fahren und ein neues Auto, etwas kleiner, alle fünf Jahre reicht ja auch. Dafür arbeite ich angestrengter, bezahle mehr für meine Wohnung, das Brot, die Bahn und andere Grundbedürfnisse. Das wäre in Ordnung gewesen, das hatten wir schon in der DDR diskutiert.

Das habe ich unter solchen Sprüchen wie ES WIRD VIELEN BESSER, ABER KEINEM SCHLECHTER GEHEN verstanden. Dass wir mehr (besser: effektiver) arbeiten mussten und sogar wollten, war mir schon vor der Wende klar.

In diesem Sinn haben wir ,blühende Landschaften' erträumt und vor uns gesehen.

Doch ich war immer noch naiv. Die DDR, in welcher ich mehr als zwei Drittel meines Lebens verbracht hatte, war ein simpler Staat. Wer sich für ihn abmühte - man musste ihn gar nicht einmal besonders leiden können - dem ging es relativ gut in den bekannten Grenzen. Wer in Konflikt mit der Obrigkeit kam - der Ärger mit dem Parteisekretär war manchmal gleich einer Naturgewalt, die kam und ging, etwa wie Hochwasser oder Hagelschauer - der konnte sich bockig zeigen, gegen die Mauer rennen oder sich mit Polizisten prügeln und wurde tatsächlich verfolgt. Wer Reue zeigte, dem vergab man. Das war nicht schön, aber man konnte damit leben.

Diese Bundesrepublik ist ganz etwas anderes: Mit ihr kann man nicht verhandeln, denn sie besteht nur aus Einzelnen oder hässlichen Privatinteressen, die im besten Falle durch einen Orts- oder Landesverein einer dieser seltsamen Parteien gebündelt werden - auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Vielfachen. Niemand ist verantwortlich und keiner hat Schuld. Es gibt keine gemeinsamen Ideen oder Ziele in der Politik. Jeder wird auf der Jagd nach dem Geld so in Atem gehalten, dass die Menschen keine Zeit haben, irgendetwas zu genießen oder Glück zu empfinden.

Wann ist der Mensch glücklich? Auf keinen Fall, wenn er genug Geld hat und sich keine Sorgen zu machen braucht. Ich bin glücklich, wenn ich eine Aufgabe habe, wenn ich mich um irgendetwas sorgen kann und darf und wenn das auch anerkannt und entlohnt wird. Es darf auch etwas mehr sein!

Die Bundesrepublik nimmt mich, Ekkehart Heisig, nicht an, obwohl ich ihr schon nachgelaufen bin wie ein verschmähter Liebhaber. Es mag viele Gründe geben; einer ist der, dass ich an der Schwelle des Alters stehe. In diesem Land, das jetzt auch das meine sein soll, wirkt doch ein gewisses Alter als Ausschluss aus der Arbeitswelt, vergleichbar mit unerwünschter Herkunft, missachtetem Geschlecht oder verpönter Religion - also verfassungswidrig. Wäre die Bundesrepublik ein Mensch - besser ein Kaufmann - ich würde mich von ihr abwenden und sie als geschäftsunfähig erklären, weil sie nicht in der Lage ist, Verträge einzugehen, die einem ordentlichen Kaufmann entsprechen - kurz: sittenwidrig. Aber die Bundesrepublik Deutschland ist keine natürliche Person, als juristische schlecht zu packen und die jeweils hingestellten Sündenböcke sind nicht haftbar.

Wenn ich einer von Wenigen wäre, aber es traf nach meiner Schätzung mindestens 3 000 000 Frauen und Männer.


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