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Heinz Sonntag 

Antworten aus der Ferne 

Fast täglich quälen mich die bedrängenden Fragen an uns als Gründergeneration der DDR. Die sorgenvollen Fragen lassen sich nicht einfach abtun mit leichter Geste und flotten Sprüchen, auch nicht mit schlichten Entschuldigungen oder Vergessen aus Selbstmitleid. War unser Streben und Tun über Jahrzehnte von Anfang an umsonst, alles Handeln mit Herz, Hirn und Hand töricht? Unsere Ideale und Werte von mehr Freundlichkeit in der Welt, zwischen den Menschen gleich welchen Geistes, nur Schall und Rauch? Ist der Wunsch, dass der Mensch dem Menschen ein Helfer sei, nur ethische Sehnsucht aus Schwäche und Verzweiflung über Unrecht? Können wir auf Nachsicht der Nachgeborenen rechnen? 

Welche Schuld hat jeder von uns dafür zu tragen, dass wir unsere Theorie wie eine Monstranz vor uns her getragen haben, ohne sie, wie es diese erheischt, praktisch vorgelebt zu haben? Warum schwanken wir noch heute zwischen Nostalgie und Totalkritik, wenn wir zurückblicken auf 40 Jahre Sozialismus? Aus eigener Schwäche im Urteil, natürlich auch unter dem Trommelfeuer der Medien und der fleißigen Antisozialisten und Soldschreiber des Totalitarismus? Manchen Brotgelehrten aus den eigenen Reihen rechne ich hinzu. Ist in Zukunft eine andere Welt möglich, wie so viele zornige Zeitkritiker weltweit fordern, ohne die Keime des Neuen im alten verblichenen Sozialismus aufzuheben? Braucht es dafür ein neues Weltethos der Vernünftigen und Zornigen? 

So viele bedrängende Fragen und keine einfachen Antworten. Ein preußischer General hat gewusst, dass geschlagene Armeen besser lernen als siegreiche. Ich sehe weit und breit keinen großen Lernwillen bei uns; vielleicht war die verlorene Schlacht noch nicht hart genug, ich weiß es nicht. 

Beim Aufräumen von alten Akten, vergilbten Texten, Büchern und Fotos fand ich unlängst ein kleines Bild, dass mir die Antworten auf die drängenden Fragen wohl erleichtern könnte: Was bleibt von uns? 

Es zeigt mich als zufriedenen, ja ein wenig stolzen Lehrer inmitten von Studentinnen, die soeben ihr Studium beendet haben, ich fragte mich bei der Entdeckung dieses Schatzes: Habe ich das selbst erlebt und mitgestaltet in einer fernen Welt und Zeit als wirkliches und alltägliches Leben? 

Und schon stehen mit diesem Foto alle liebenswerten Menschen wieder auf, alle fremden Düfte, die Hitze des Südens, die gemeinsamen Ideen und Träume, die Stunden der Zufriedenheit und des Gedankenaustauschs. 

Heinz Sonntag mit "seinen" Studentinnen 

Ende der siebziger Jahre, schon ein halbes Menschenleben her, war ich Dozent für Philosophie an der Schule für Wissenschaftlichen Sozialismus der Jemenitischen Sozialistischen Partei (JSP) in Zingibar, einer Bezirksstadt östlich der Hauptstadt Aden am Indischen Ozean; landeinwärts nur arabische Wüste und abweisende Felslandschaften, hier aber ein Garten Eden wie zu Zeiten der Königin von Saba mit bewässerten Gärten und Feldern im Abiyan-Delta, der Kornkammer des Jemen. 

Vor mir auf dem Bild der Schatz unseres Seminars mit 75 Teilnehmern - unsere Schönen, arabische junge Frauen, die gerade den Lehrgang erfolgreich bestanden haben. Danach können sie stolz zurückgehen in ihre Familien, ihre Kleinbetriebe, Genossenschaften und Schulen. Die meisten wollen Lehrerinnen werden. Am Anfang des Lehrgangs saßen sie auf den hinteren Plätzen des Seminarraums, verschämt verhüllt mit der Sheta, dem schwarzen Tuch der arabischen Frauen. Und nun auf dem Foto zeigen sich die Schönheiten des Orients, kommend aus Arabien, Indien, China und Afrika. 

Ohne Scheu und Unterwürfigkeit blickten sie in die Zukunft, für sich und ihr befreites Land. Ich konnte nur sagen: Gamila - schön seid ihr! Danach trennten sich unsere Lebenswege. 

Was mag aus ihnen geworden sein? 

Auf dem Foto in Reichweite von mir steht mein Assistent Achmed Alawi, er half allen Studenten beim Studium, übernahm öfter ein Seminar, wir schrieben manchen Zeitungsartikel gemeinsam. Im Befreiungskrieg war er bei den Briten gefürchtet wegen seines Mutes. Später hatte er in Moskau Philosophie studiert, immer lernbegierig und bescheiden, mein späterer Nachfolger in den Kursen. Sein großer Traum: Er wollte in der DDR promovieren, in der Heimat von Karl Marx. 

In der Mitte des Bildes unser Lehrer für Ökonomie Iskander. Er stammte aus Mittelasien und sprach Hocharabisch, was ihm den Namen Bul-bul einbrachte - die Nachtigall. 

Das Foto ließ bei mir alle Erinnerungen aufleben. Ja, es gab bessere Zeiten für unsere Ideale, unsere Philosophie. Sie zu verbreiten war der Höhepunkt meines Lebens im fernen Zingibar. Ich möchte mich nicht in Erinnerungen verlieren, doch mein Werden und Wirken beschreiben. 

An einem kühlen Herbsttag hob unser Flugzeug in Berlin-Schönefeld ab, all unsere Hoffnungen und Sorgen an Bord, und das für drei Jahre in der fernen Fremde. Auf dem ersten Teil unserer Luftreise von Berlin nach Moskau, weiter über Odessa nach Kairo beherrschten mich und sicher auch meine mitreisende Frau noch die alltäglichen Sorgen, vor allem - wie kommen unsere Kinder im Internat zurecht? Unsere Tochter hatte meine Frau noch bis zuletzt beruhigt: "Wenn ihr dort dringend gebraucht werdet, müssen wir eben alles alleine schaffen." Sie übernahm als Große mit 15 Jahren die Patenschaft über ihren Bruder, der zehn Jahre alt war. Alle sonstigen Versorgungsfragen waren gelöst, obwohl wir nicht wussten, welche Vergütung wir zu Hause und im Ausland zu erwarten hatten. Unser bescheidener Wohlstand war gesichert von Freunden. Von unseren Vorgängern hatten wir viel erfahren über Land und Leute, ich hatte einiges zur Geschichte Arabiens gelesen, den Koran studiert, so gut es ging. Die Gedanken über den Wolken hatten ihre Freiheit gewonnen. Was kann ich dort lehren und lernen? Bin ich noch flexibel genug in einer fremden Welt und nicht zu sehr auf unseren Alltag festgelegt? Verlassen konnte ich mich auf unsere Erziehung zur Arbeitsdisziplin. Meine Generation war mit Arbeit groß geworden, wir, die Gründergeneration der DDR. Befreite Arbeit hatte uns geformt, geistig und körperlich. Ich hatte Maurer gelernt in der schwersten Zeit des Aufbaus. Ganze Städte lagen in Schutt und Asche, die ersten Hauser und Wohnungen wuchsen Stein für Stein aus den Trümmern, alles mit primitiven Werkzeugen, Krane gab es nicht, improvisieren musste jeder, unsere schwachen Schultern und narbigen Hände waren für jede Arbeit gut. Aber es war auch ein Aufbruch in ein besseres Morgen. Tausende Menschen warteten auf eine Wohnung, Ausgebombte, Umsiedler, Heimkehrer. Den Untergang der Städte hatte ich als Kind miterlebt, auch den meiner Heimatstadt Magdeburg binnen einer Stunde im Januar 1945. Wir hatten danach gelernt, die Ursachen von Kriegen zu erkennen. Eine neue Gesellschaft musste Faschismus und Kriege unmöglich machen. Wie, war nicht allen klar, aber der Wunsch war lebendig: Nie wieder Krieg! 

Danach hatte ich mir in jahrelangem Studium Wissen angeeignet und als Lehrer in zwanzig Jahren an Hochschulen vermittelt. Alles fing damit an, dass mich meine Jugendbrigade auf einer Großbaustelle zum Studium an die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät nach Weimar delegierte. Danach war ich "ewiger Student" mit Abschlüssen in Germanistik, Sport, Geschichte, Pädagogik und Philosophie. War ich nicht damit gerüstet als Vertreter eines Volkes der Dichter und Denker? War das alles in der Fremde abrufbar? Als neue Intelligenz eines neuen Staates war meiner Generation Bescheidenheit anerzogen worden. Wir wussten um die tiefen Widersprüche des deutschen Geistes in Geschichte und Gegenwart. 

In Weimar, meinem Studienort und meiner ersten Dozentenstelle, herrschte im Tal der Um der Geist von Herder, Goethe und Schiller. Am Stadtrand aber wuchs aus dem Nietzsche-Haus der Ungeist des Übermenschen, die Zerstörung der Vernunft, von der Schwester auf den Führer und seine Spießgesellen übertragen. In diesem Ungeist wurde auf dem nahen Ettersberg der deutsche Name geschändet, damit müssen wir wohl ewig leben. Auch als Sozialisten konnten wir uns das Erbe des Humanismus von Lessing bis Brecht nicht einfach aneignen per Akklamation. Schon Hölderlin hat uns Deutsche entlarvt: gedankenreich und tatenarm. Von der Hohe der Jugendwerke Marxens war uns die praktische Vereinigung von Kommunismus, Humanismus und Naturalismus aufgegeben. In der praktischen Politik aber galt: Die Macht ist alles, Mitmenschlichkeit ist vernebelnde Schwäche, wie schon Herder beklagt hatte. 

Wir lebten in finsteren Zeiten, ständig drohte der kalte Krieg in einen heißen Weltkrieg zu eskalieren. Auf allen Gebieten wurde zwischen beiden Deutschland verbissen gefochten, auf den Sportplätzen, im Äther, es ging um die Hirne der Menschen, in der Wirtschaft, Kultur und Bildung, verdeckt und offen. Als Sieger konnten wir uns nie fühlen, aber es gab auch den berechtigten Stolz auf den ersten Versuch, eine humanistische Gesellschaft aufzubauen nach einer großen Idee der Emanzipation des Menschen, man mag sie Sozialismus nennen, eine Premiere für Deutschlands politische Buhne mit 40 Jahren Spielzeit. Ich hatte daran bescheidenen Anteil. Jahrelang hatte ich die philosophischen Grundlagen der SPD-Bildungspolitik aufzudecken, riesige Berge an Literatur habe ich in der Deutschen Bucherei aufbereitet, eine Promotionsschrift lag vor. Eine westdeutsche Schule habe ich nie besuchen können. Ein großer Verlust für die Wissenschaft war es sicher nicht, denn dem SPD-Kanzler Helmut Schmidt als Macher reichte die Sozialtechnik Poppers für die Bildung in der offenen Gesellschaft. 

Ich packte alles zusammen und machte mich auf den Flug nach Süden. 

Wir hatten also in der Welt Freunde und Feinde. Ich kann ohne Überhebung sagen, ich hatte viele Begegnungen mit Freunden aus aller Welt, die mich als Internationalisten geformt haben. Für mich war jeder vermeintliche Fremde ein Repräsentant seines Volkes, ja der Menschheit, eine Bereicherung meines Lebens. Als Studenten hatten wir in Jena vier Chinesen als Kommilitonen, sie sogar beneidet wegen ihres unermüdlichen Fleißes. Als Dozent habe ich dann Studenten aller Kontinente betreuen und ausbilden können, auch drei Jemeniten aus dem Norden zu Ingenieuren der Wasserwirtschaft. Ein Student der Insel Principe im Golf von Bengalen gab einem seiner Sohne meinen Vornamen, und das zwischen den Florentinos, Rodrigos und Albertos. 

Es war wohl der Höhepunkt meines Lehrerdaseins, als ich 1975 im Namen aller Lehrer unseren 400 Studenten in Saigon zum Sieg über die US-Amerikaner gratulieren durfte, ein Sieg, der auch unser Sieg war, bei vielen Opfern der Sieger über verachtungswürdige Täter. Hat uns dieser Sieg nicht zu siegessicher gemacht? 

Denn danach waren nicht immer Siege zu feiern, nicht in Afghanistan. Im Alltag, im Umgang mit "unseren Menschen" prägten uns alte schlechte Gewohnheiten, der wirkende Antihumanismus machte die Stimme heiser, oft fehlte die Geduld, allen alles zu erklären, ein wenig Druck und Repression zeigte schneller Wirkung als Überzeugen, alte Zeiten lehrten das. Solche und ähnliche Gedanken erfüllten mich auf dem ersten Teil unserer Reise, Gedanken im Fluge, wo es doch draußen so vieles zu beschauen und zu bestaunen gab. 

Nach dem Start in Kairo ging der Flug nach Süden über das Rote Meer, wir kamen unserer neuen Heimat immer naher, dem Süden der Arabischen Halbinsel, arabia felix vor Zeiten genannt, das Reich der Königin von Saba. Über der arabischen Wüste erhob sich ein glühender roter Sonnenball im Osten, unsere Sonne Shamsan, die uns nun nicht wieder verließ, an allen Tagen auf allen Wegen ohne eine schützende Wolke. Noch eine Zwischenlandung in Sanaa, jetzt der Sprung über das Hochgebirge - da lag zu unseren Fußen die Stadt Aden. 

Im Süden sahen wir die Weiten des Indischen Ozeans mit weißen Schaumkronen am Strand, dann ein weißer Küstenstreifen, dahinter die hellbraune Wüste mit geraden Straßen, dahinter im Ruckblick noch die gewaltigen, drohenden Felsengebirge mit grünen Terrassen. Wo sind die vertrauten Wälder und Wiesen der Heimat? Die letzten Felder hatten wir an den Hangen der Felsen gesehen, tröstendes Grün des Lebens. 

Das Flugzeug übersprang die Vulkanberge Adens, landete auf einer alten Betonpiste, sicher noch aus Englands Herrschaftstagen über die Kronkolonie, flache unansehnliche Empfangsgebäude, Lager- und Parkplatze. Wir wurden erwartet, einige Menschen winkten uns mit Blumen zu. Wir waren in der neuen Heimat. 

So heiß wie die Mittagsluft war der Empfang durch unsere Landsleute der Botschaft, etwas zurückhaltend unsere Gastgeber der Schule, aber auch sie freundlich und einladend. Alle sprachen Deutsch, was mich ein wenig beruhigte, denn ich wäre sonst stumm und sprachlos gewesen, warum haben wir nicht Arabisch gelernt, wenigstens grüßen und ein wenig Konversation?

Mein jahrelanger heimlicher Traum hatte sich erfüllt: Lehren und Leben in einem befreundeten Land, ja auch Lernen in einer neuen Welt, neue Menschen kennen lernen, und zwar so wie sie sind, nicht angepasst an unsere Gewohnheiten. Sich neuen Fragen und neuen Herausforderungen stellen, helfen, so gut man kann - was gibt es Schöneres für einen Lehrenden und Lernenden mit gutem Willen? 

Die ersten Tage in Aden überwältigten uns auf Schritt und Tritt, überall gab es Neues zu entdecken, Erregendes, Begluckendes, auch Problematisches, jede Minute musste man gefasst sein auf Begegnungen mit Menschen und neuen Bildern, die vordem fremd und nur exotisch zu nennen waren. Ausländer in der fernen Heimat waren auch eingerahmt in Gewohntes, hier aber war alles neu. 

Da ich die Stadt auch nach Tagen nicht übersehen konnte, nach ersten Einkaufen und der Fahrprüfung mit einem kleineren japanischen Bus unserer Gruppe, - ich fand einfach keine geographischen Koordinaten von der Stadt, wo ist wohl Norden, wo ist Osten? -, stiegen wir zum Abend hin auf den Hausberg der Stadt, den Shamsan, fast tausend Meter hoch. Wir waren völlig verausgabt auf der Bergspitze, doch wurde jetzt sichtbar, dass wir auf einer zerklüfteten Halbinsel lebten, der große Seehafen war eine Bucht auf der Ostseite, wir wohnten auf der Westseite am Rande der Altstadt Crater, nahe dem Ufer. Als wir zurückkamen, wurden wir von zwei Polizisten begrüßt, die uns klarmachten, dass wir in einem militärischen Sperrgebiet gewesen waren, in dem Fotografieren streng verboten sei. Als wir aber den Namen unserer Schule in Arabisch sagen konnten, erhielten wir freundliches Geleit bis zu unserer Haustur. 

Die Altstadt Crater lag in einem Vulkanschlund, erloschen vor Jahrhunderten, eng gedrängt die Hauser und Straßen bis zum Fuß der Craterwände, überall Paläste und Moscheen. Alles ein scheinbar willkürliches Chaos. Nur einige Straßen waren eine Orientierungshilfe für den Fremden, sie beherbergten jeweils ein Handwerk oder einen Handelszweig. Am gefährlichsten war für mich die Frisörstraße, jeder wollte sich an meinen damals blonden Haaren versuchen, das Haareschneiden wurde zur Zusatzaufgabe meiner Frau, die sonst für die Versorgung unserer Gruppe sorgen musste. 

Wir wohnten mit drei weiteren Familien in einer weißen Villa am Meer, früher das stattliche Haus eines englischen Waffenhändlers. Es war eines der schönsten Hauser unseres Viertels, in welchem auch viele Inder wohnten, zumeist Geschäftsleute. Alle Hauser waren mit starken Mauern geschützt, wie Festungen ausgebaut. Auf dem Weg zu unserem Haus auch Elendsgebiete, Holzhütten, aus denen aber immer Kinder in weißen Hemden und schwarzen Hosen oder Kleidern zur Schule gingen, jeden Tag, außer freitags. 

Überall sah man im Lande die Nachwehen von über hundert Jahren Kolonialherrschaft der Briten, die allgemeine ökonomische Unterentwicklung in der Produktion und Ernährung, aber auch die Verwirklichung des "Teile und Herrsche" im Leben der Menschen. Über allem hatten die Kolonialherren gethront, ihnen waren zu höheren Diensten die Inder zugewiesen, die Araber waren streng gespalten in Herrscher und ihre Bediensteten sowie das gemeine arabische Volk, gespalten in Stamme, beherrscht von geistlichen Würdenträgern und dem Stammesegoismus, am Ende die Beduinen der Wüste. Darunter noch die eingewanderten Afrikaner, zuständig für die Dreckarbeit, Straßenfeger waren immer Somalis. Alle Paläste, Krankenhäuser, Hotels und Banken, dazu die Seeklubs und Yachthafen waren den Herren des Landes zugeeignet, bis vor zehn Jahren. Als sie abziehen mussten nach jahrelangem Kampf mit den Kriegern der Berge, zogen sie ihre Fahnen ein mit großer Parade und zerstörten alle Uhren in ihren Gebäuden und auf öffentlichen Platzen, eine Zeit nach ihrer Herrschaft erschien ihnen nicht möglich in ihrer Arroganz des Empire. 

Nach wenigen Tagen wurden wir dann in der Botschaft der DDR begrüßt, einem repräsentativen Plattenbau in einem Villen-Vorort. Das Gebäude war angelegt zur Betreuung von mehreren hundert Spezialisten im Lande, einer FDJ-Brigade zur Berufsausbildung, Spezialisten für die Gründung von landwirtschaftlichen Genossenschatten, für Bauleute im Brückenbau, für Lehrer und Berater in der Regierung und Verwaltung. Wir waren als Gruppe von Dozenten der Hochschule für Wissenschaftlichen Sozialismus der Jemenitischen Sozialistischen Partei Gaste und Angestellte dieser Schule. Die JSP hatte sich aus der Nationalen Befreiungsbewegung entwickelt und war neben anderen Parteien Regierungspartei. Hauptsitz der Parteischule war der Palast des Sultans von Lahig, eines Vasallen der Briten im Norden, jetzt im Exil mit dem notwendigen Kleingeld. In der Hausmitte öffnete sich ein großer Saal, jetzt das Auditorium Maximum der Schule. Im Kreis um den Saal kleinere Salons mit Teppichen, kleinere Seminarraume, früher die Gemächer der Haremsdamen. Alles nicht sehr prunkvoll, aber doch luftig zum Meer hin gebaut. Um den Palast herum ein Palmenpark zum Lustwandeln und für Feiern. Es war in der ersten Zeit schon eine Hemmschwelle zu überschreiten zum Normalen, wenn hier in diesen heiligen Hallen unsere unheiligen Ideen übermittelt werden sollten. 

Unsere erste offizielle Veranstaltung war die Eröffnung des Studienjahres durch den Generalsekretär der JSP Abdel Fatah Ismael. Das war nun so gar nicht der Typ des Parteiführers und Staatsmannes der alten Parteien in Osteuropa. Zwar war er begleitet von seiner Leibwache mit roten Mützen, aber er war im Gespräch vertieft und wurde so zur Eröffnung begrüßt vom Schulleiter. Freundlich begrüßte er Schuler und Lehrer aus dem Jemen und aus dem Ausland, wünschte allen viel Erfolg im kommenden Lernjahr und erzahlte aus seinem Leben. Als Befreiungskampfer in den Bergen hatten sie immer davon geträumt, dem Volk die Freiheit zu bringen und ihm die Chance zu eröffnen zum besseren Leben. Dazu gehöre aber auch die geistige Befreiung aller Menschen, damit sie die Zukunft ihres Landes gestalten können. Der beste Kompass sei der Wissenschaftliche Sozialismus, den er in Moskau und Berlin studieren konnte. So trat er auf, einfach und überzeugend, ohne Herrschergehabe, in lockerer Uniform und Redeweise. Er übergab die Schuler dem Schulleiter und ihren Lehrern, verpflichtete sie zu Disziplin und Fleiß beim Studium, jeden Tag müsse man lesen und diskutieren. Das war die Eröffnung in knapp einer Stunde, von der auch noch eine Studentin Zeit für ihre Rede beanspruchen konnte. Die Rednerin wurde mit viel Beifall bedacht und vom Generalsekretär geküsst. Anschließend kam er mit uns Lehrern zusammen, Dozenten aus der Sowjetunion, Kuba, Bulgarien und der DDR. 

Unsere Begrüßung begann mit einer Entschuldigung wegen der Hitze im Jemen, aber sie komme aus dem Herzen der Jemeniten für ihre Freunde. Alle setzten große Hoffnungen auf die Hochschule, besonders zum zehnten Jahrestag ihrer Befreiung. Viel wurde seitdem erreicht: Das Land hat seinen Frieden gefunden, wird von seinen Freunden und Nachbarn geachtet, nur die Reaktion in der Welt und der Region sieht uns als Feind und Vorbild für ihre unterdruckten Volker. Die muslimischen Würdenträger hatten viel für den Frieden getan, er berate sich oft mit ihnen über die Auslegung des Koran für den Sozialismus. Die Landreform hat dazu geführt, dass alle Menschen ernährt werden können, alle Eigentumsformen haben daran Anteil, besonders aber die Genossenschaften, die aus der DDR übernommen wurden. Die Fischwirtschaft kann sogar exportieren. Das gilt auch für die Handwerker und die Textilindustrie, den Hafen und die staatliche Erdölraffinerie. Im Norden des Landes habe man Erdöl gefunden, aber an der Grenze zu Saudi-Arabien. In Arabien bringt Erdöl immer Kriege hervor, wenn ein Land noch schwach ist; dahinter stehen auch die mächtigen Erdöl-Konzerne. Dem Volke dient es nicht; später, ja, dann wird gefördert. 

Das Bildungswesen, die Kultur für das Volk wurden revolutioniert, alle Kinder können lesen lernen, auch die Kinder der Beduinen im Norden, alle Schulen stehen ihnen offen, auch die Universität Aden und die Hochschulen im Ausland. Jetzt kommt es darauf an, das neue Wissen produktiv zu machen, einfach gesagt, aber schwer zu machen, wie Brecht gesagt hat. Die Menschen im Jemen sind für uns das Wichtigste, auch die im Norden. Wir haben auch eine nationale Frage, die wollen wir aber nicht nach dem Modell der Deutschen lösen, sondern wie die Vietnamesen 1975. 

Wir sollten besonders Acht geben auf Gefahren für unsere Absolventen. Viele sorgen sich erst mal um ein Office mit Angestellten ihrer Familie oder ihres Stammes, eine schone Sekretärin dazu und ein großes Auto mit Fahrer, so war das immer in Arabien. Das habe ich auch, aber ich habe nicht vergessen, wo ich hergekommen bin, wer mich gewählt hat und wem ich jeden Tag zu dienen habe. Unser Weg ist nicht auf Rosen gebettet, ohne die Anwendung des Wissenschaftlichen Sozialismus auf unser Land und die Hilfe der sozialistischen Länder mit ihren Erfahrungen werden wir scheitern wie andere soziale Revolutionen in der Weltgeschichte. Wir, die Lehrer der Madresse Hisbia sind für ihn wichtige Berater, die er jeden Monat einmal einladen möchte.

Jeden verabschiedete er mit Handschlag und einem kleinen Bakschisch. Ich bekam eine japanische Armbanduhr mit der Bemerkung, dass Preußen ja auch ohne Uhr immer pünktlich seien. Ich war also zum ersten Male im Leben Berater eines liebenswerten Parteiführers und Staatsmannes, der mich vor allem beeindruckte durch seine realistische Analyse und eine politische Strategie für Gegenwart und Zukunft zum Nutzen der Menschen. Es gab keinen Raum für den schädlichen Personenkult herrschender sozialistischer Parteien, keinen arabischen Glauben an den allwissenden Propheten oder befreienden Mahdi, keinen Anflug von Nationalismus. Sicher auch an unsere Regierungen gerichtet, teilte er uns mit, dass die jemenitische Armee an der Ogaden-Front auf Seiten der Äthioper gegen die arabischen Angreifer der Somalis eingegriffen und die Schlacht in kurzer Zeit gewonnen habe.

Neben dem Stolz auf unsere neue politische Heimat spurte ich die große Verantwortung, unsere Erfahrungen, unsere Ideen in der Lehre und von dort auf die Praxis schöpferisch anzuwenden. Aber Philosophenherz, was willst du mehr! Später berichtete ich auf Konferenzen vor Ministern und Parteifunktionären über das wissenschaftlich-produktive Studium an den Bauschulen der DDR, und das sehr konkret aus eigener Mitwirkung; nur gut, dass ich aus der Praxis schöpfen konnte, nicht nur aus Büchern, Plänen und Berichten. Mich rührte an, dass die führenden Funktionäre in so eindringlich-rührender Weise von den arbeitenden Menschen sprachen. Hier lebte also der humanistische Gestus des Marxismus, welch ein Erbe und welche Folgen!

In der späteren Zeit gab es mit Abdel Fatah Ismael und den Dozenten herzliche persönliche Begegnungen, so bei einer Neujahrsfeier mit allen Ministern. Zum Ende des ersten Semesters war für alle Dozenten als Anerkennung ein Flug nach Sokotra geplant, der Insel Sindbads vor dem Hörn von Afrika. Unsere Gruppenleiter lehnten aber dankend ab, wohl wegen der hohen Kosten und auch weil wir das zweite Semester vorzubereiten hatten. Ich kam so um eine Reise, die für Touristen tabu war.

Im Alltag begegneten wir immer wieder Absolventen aus der DDR, so dem Minister für Volksbildung, dem Rektor der Universität Aden, aber auch Arbeitern und Ingenieuren der Schiffswerft und der staatlichen Mühle. Einer von Letzteren sah uns auf dem großen Suk beim Einkaufen und wandte sich im breiten Sächsisch besorgt an uns: "Jetzt im Herbst schwitzt ihr schon ganz schön, aber wartet nur, bis der Sommer kommt, dann brennt Sonne auf Birne." Seine Hilfe - er beriet uns beim Kauf von Strohhüten, Mützen und Turbantüchern, natürlich die von seinem Stamm aus dem Hadramaut.

Besonders die vielen Kinder des Landes waren immer zur Stelle, uns zu begrüßen, vor unserem Haus spielten sie Fußball mit einem Stoffball, mit Autos aus Pappkartons fuhren sie zum Strand, selbst vom Schulappell auf den Dorfern kamen sie sofort zu uns und fragten mit blitzenden Augen: "Russi? Sini? Allemanni?" Wer wurde schon so begrüßt in der Fremde! Später hatte ich Nachtdienst in der Botschaft, schon am Abend bildete sich eine Schlange von Jungen und Madchen. Sie wollten am nächsten Morgen ihre Bewerbungsunterlagen für eine Lehre oder ein Studium in der DDR abholen, wir wurden schon ausgefragt und mussten Tee kochen als Gastgeber. Welch ein Vertrauen in unser kleines Land weit im Norden.

Nach all den Denkimpulsen drängte es mich, nun endlich als Lehrender meine Nützlichkeit nachzuweisen. Ich war für Jahreslehrgange nominiert.

An der Hauptschule im Sultanspalast erwarteten mich 90 Seminarteilnehmer, ich hatte mich nach den Unterlagen meines Vorgängers vorbereitet, er war ein ausgewiesener Logiker der Universität Leipzig, der sich streng an die Syllogistik unseres Faches hielt. So wurde an unseren Hochschulen gelehrt und so auch hier im Orient. So gerüstet stieg ich auf das Katheder, begleitet von unserem jüngsten Sprachmittler. Als ich den Lehrgang überblickte, erkannte ich seine personelle Spezifik für meine Lehrtätigkeit: Die Hälfte des Seminars bestand aus Jemeniten, sie stellten sich kurz vor als Regierungsbeamte, Soldaten, Polizisten, wenige Arbeiter vom Hafen und vom Verkehr. Die andere Hälfte waren Gäste der JSP aus der Region, aus Irak, den Golfstaaten, Saudi-Arabien, Eritrea und Palästina. Sie stellten sich mit ihren Kampfnamen vor, sie waren aus der Illegalität hierher gekommen, immer war nach der Rückkehr ihr Leben in Gefahr, ich hatte großen Respekt vor ihnen, ihrer Haltung und Opferbereitschaft. In der letzten Reihe saßen die munteren Mitstreiter Arafats; sehr wissbegierig und aktiv fordernd. Im Seminar lautete ihre Frage immer "Alles gut, was Du uns gelehrt hast, Rafirk Heinz, aber wann wird geschossen?" Ich war zuerst erschrocken über ihre Radikalität, auch war es schwer zu vermitteln, dass Revolutionen im Sinne von Marx und Lenin immer soziale Revolutionen sind zur endlichen Emanzipation. Wer aber ständig von Gewalt bedroht wird, dem können eigene Gewaltanwendung und Terror absolut notwendig erscheinen, was in der Region bis heute wirkt, verbunden mit Konspiration und gewaltsamen Kämpfen in den eigenen Reihen.

Ich versuchte vieles in Konsultationen mit den einzelnen Gruppen zu erfahren und zu vermitteln, um die Gefahr der lehrerhaften Klugscheißerei zu vermeiden, denn was kann man klugen Leuten aus der Ferne für ihre Praxis vermitteln?

Mein Hauptaugenmerk war auf den Lehrgang in Zingibar gerichtet. Dort war das richtige Arabia felix, im Abijan-Delta, der Kornkammer des Jemen. Es war der erste Lehrgang in diesem Governorat, worauf die Funktionäre und die Schulleitung stolz waren, auch auf die Teilnahme von zehn jungen Frauen. Die Öffentlichkeit der Kleinstadt war auf uns aufmerksam geworden, wir waren ein Novum, zum Erfolg verurteilt.

Da saß ich nun am Abend vor meinem ersten Unterricht in Zingibar mit einem leeren Blatt Papier, auf dem Eröffnung und Lehrplan zu finden sein sollte. Hier am Schreibtisch saß noch vor kurzem ein englischer Waffenhändler, sicher stolz darauf, dass vor seinem Fenster am Strand seine britischen Truppen 1839 gelandet waren, zum Ruhme der englischen Krone und zum Elend der besiegten Araber. Ich blickte aus dem Fenster hinaus auf den indischen Ozean. Dort draußen auf dem offenen Meer bewegten sich die Riesentanker zum Suez-Kanal. Links aus der Bucht brachen die kleinen Fischerboote einer Genossenschaft zum Nachtfang auf, rechts wurde unsere Bucht begrenzt von einer Felsenzunge, auf deren Hohe eine türkische Zwingburg thronte, erbaut von den Vorgängern der Briten. Unten am Strand vor unserem Haus sangen einige lugendliche zu ihren Trommeln, der Abendwind trug ihre Liebeslieder zu einem Suchenden herauf.

Was nutzte mir das Kompendium aller abendländischen Weisheiten? Was nutzten 20 Jahre Lehrtätigkeit? Die Stunde der Wahrheit kam am nächsten Morgen. Zwei Prämissen gab ich mir vor. Zum einen wollte ich jeden lernwilligen Teilnehmer, jede liebenswerte Teilnehmerin dazu ermuntern, alle neuen Freiheiten ihres Landes für die eigene Entwicklung, für die Forderung der Mitmenschlichkeit zu erkennen und zu nutzen; damit wäre dem tiefen Sinn unserer Philosophie entsprochen - dem sozialen Humanismus. Zum anderen wollte ich die Achtung vor der befreiten Arbeit und aller Arbeitenden anerziehen, nur sie macht den Menschen zum Menschen in einer menschenwürdigen Gesellschaft in Harmonie zur Natur.

Also, auf in den morgigen Tag - jallah! Gehen wir es an.

Am nächsten Morgen, in aller Frühe, es war noch dunkel, ging ich auf meine erste Fahrt nach Zingibar, ich war voller Spannung und Vorfreude. Was wurde der Tag bringen? Plötzlich erhob sich weit im Osten der Sonnenball aus seinem nächtlichen Grab, schwang sich über den Zaun des Horizonts und machte alles hell und lebendig ringsum, die fernen Wüsten im Norden, die Felsengebirge im Osten, das Meer im Süden. Die Morgennebel losten sich auf, Tiere und Menschen waren erwacht. Seit Jahrmillionen hatte die Sonne diesen Weckruf übernommen. So war sie wohl immer geliebt und gehasst worden, als Gottheit verehrt, als Plage bei der Sklavenarbeit verflucht. So aber wurde der Mensch zum Menschen, der sich selbst in seinen Tagewerken feierte und sich so eine Welt nach seinem Maße schuf, für sich, seine Mitmenschen, für seine Nachgeborenen und eine humane Zukunft. Solche hohen Gedanken erfüllten mich, als wir im schnellen Auto aus den engen Gassen Adens herausfanden, durch erwachende Vororte nach Osten auf die Wüstenstraße einbogen, rechts das Meer, links in der Ferne die Felsengebirge hinter der Wüste. Vorbei flogen einige Fischerdörfer, die auf dem Straßenrand ihre gemeinsamen Fange der Nacht abgelegt hatten für die nahe Fischfabrik: große Dairaks, Schwertfische, Haie. Wir erreichten das Abijan-Delta; auf den Plantagen arbeiten die Bauern, in den Vororten waren die Schuler in ihren weißen Hemden und Blusen auf dem Weg zur Schule, auf dem Marktplatz betonierten Arbeiter Platten für den Hauserbau. Dann sahen wir unsere Schule hinter einer Mauer, inmitten eines dunklen Palmengartens, durchflössen von silbernen Bachen. So beschrieb der Prophet im Koran das Paradies für müde Pilger. Dann sah ich unsere Studenten in ihrem Seminarraum, still und erwartungsvoll sahen sie auf uns, auf mich und den Dolmetscher; vorn mein Assistent Achmed, dann die Männer, nach dem Alter geordnet, in der letzten Reihe die zehn Frauen. Ich hatte mit dem Dolmetscher vereinbart, jeden Tag das Seminar mit einem arabischen Gruß zu eröffnen, dazu reichten meine Sprachfertigkeiten. Ich schlug vor, wir stellen uns in der ersten Woche gegenseitig vor.

Wenn man zusammen arbeiten will, muss man sich kennen, alle nickten zustimmend. Danach wurde ich den Plan des Lehrgangs bekannt machen.

Ich stand alleine auf der Bühne und begann meine Vorstellung, die ich verkürzen möchte auf die Fragen, die mir danach gestellt wurden.

Ein älterer Student fragte, ob unter den 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges auch Opfer aus meiner Familie waren. Wie in jeder großen Familie, noch dazu bei Arbeitern, gab es viele Opfer. Ein Onkel blieb in Stalingrad vermisst, mein Vater hatte 300 Tage Leningrad belagert und beschossen, er war todkrank zurückgekehrt und an TBC verstorben. Meine Mutter hatte sich in einer Munitionsfabrik zu Tode gearbeitet, sie verstarb kurz nach dem Krieg. Aus all diesen Kriegsfolgen heraus war die DDR von Anfang an ein Friedensstaat. Meine Generation trat für den Sozialismus ein, weil er den Krieg an seiner Wurzel traf - Faschismus und Imperialismus. Die Mehrheit der Menschen stand hinter dieser Politik.

Ein anderer fragte, ob in der DDR alle Maurer Lehrer geworden seien. Ich konnte ihn beruhigen, aber auch mit einigem Stolz berichten, dass schon früh das alte Bildungsmonopol der Reichen gebrochen wurde, so konnte jeder studieren ohne das Geld seiner Familie, wie es die Arbeiterbewegung immer gefordert hatte. Natürlich musste jeder selbst studieren. Es gab eine neue Intelligenz, keine reaktionäre Elite mehr. Wie Marx es vorausgesagt hatte, wurden körperliche und geistige Arbeit vereint.

Eine der jungen Frauen fragte leise, aber bestimmt, ob es meiner Frau schwergefallen sei, ihre Kinder für lange Zeit nicht zu sehen. Ich musste dies bejahen, konnte aber unsere Tochter zitieren.

Am Ende des ersten Tages sagte ein Student ein wenig entschuldigend, dass in seinem Dorf im Hadramaut alle Kinder von der Straße geholt wurden, wenn ein Europäer, ein Brite zumeist, im Dorf ankam. Wenn ich durch sein Dorf kommen wurde, wurde er seine Kinder zur Begrüßung herausschicken, alle anderen nickten zustimmend, viel mehr kann man nicht erreichen mit einer Vorstellung.

An den Folgetagen begann die Vorstellung aller Studenten. Wie ich von Achmed wusste, gab es vorher großen Streit über die Reihenfolge. Man einigte sich einfach auf die Sitzfolge von vorne. Alle begannen mit Stolz von ihrem Kampf in der Befreiungsfront zu berichten, auch die jungen Frauen, über die eigenen Opfer und den Sieg vor zehn Jahren. Danach kam die Rede auf ihre Familien und die jetzige Arbeit, über die Hoffnungen für die Zukunft, über ihre Erwartungen an den Lehrgang. Am stärksten beeindruckte mich Ali Nasser, ein großer starker Mann afrikanischer Abstammung. Er und seine Familie waren Lohnsklaven beim Sheikh ihres Stammes seit Generationen. Jetzt war ihr Herr zu den Saudis gefluchtet. Ali Nasser wurde von der Dorfgemeinschaft zum Vorsitzenden der neuen Landwirtschaftsgenossenschaft gewählt, weil er am besten arbeiten konnte und die Bewässerungsanlagen am besten kannte und pflegte.

Nach der Vorstellung aller begann der Unterricht nach dem gleichen Lehrplan wie in Aden, hier in Zingibar mit dem Vorteil, dass alle Studenten im Internat wohnten und sich bei Achmed, meinem Assistenten, ständig Rat holen konnten. Der stöhnte manchmal, weil er fast jede Nacht ausgebeutet wurde, aber er tat es mit Freude. Ich konzentrierte mich in den Vorlesungen und Seminaren auf unser marxistisches Menschenbild und seine praktischen politischen Konsequenzen. "Der Mensch ist das höchste Wesen für den Menschen, alles Hemmende müsse in der sozialistischen Revolution beseitigt werden und durch neue menschenwürdige Verhältnisse ersetzt werden." - so meine Botschaft im Sinne von Marx. Nach einer längeren Diskussion fragte ein jüngerer Mann, wie er seinem Großvater erklären könnte, dass es in einem Jemen auf dem Wege zum Sozialismus keinen Gott, Allah also, geben kann. Für ihn wäre das klar, aber sein Großvater ... Nun hatten wir kurz vorher eine Konsultation beim Generalsekretär in Aden, wo er die Meinung der JSP darlegte. Der Jemen ist ein arabisches Land und damit ein Land mit Muslimen. Er habe den Würdenträgern des Islam gesagt, er fände im Koran, in den fünf Säulen, wichtige Hinweise auf den Sozialismus, den sie aufbauen wollen.

Im Seminar konnte ich mich zuerst auf die Autorität der eigenen Partei stützen. Dann aber wurde es konkret. Plötzlich stand in der letzten Reihe Atwa auf und klagte zornig die Männer in der eigenen Gruppe an: "Ihr redet davon, dass im Jemen, im Sozialismus alle Menschen, Männer und Frauen gleich sein können. Aber eure eigenen Frauen werden von euch verstoßen, wenn ihr es wollt; ihr braucht nur dreimal barra-barra zu sagen, dann müssen sie mit ihren Kindern flüchten, nur ihren Brautschmuck dürfen sie mitnehmen. Denn so steht es im Koran und so ist es üblich. Seid ihr wirklich schon Sozialisten oder Paschas?" Die betroffenen Männer blickten zu Boden. Es folgte ein Vorschlag der Gruppe, dass die Frauen in der ersten Reihe sitzen sollten. Ich sollte zustimmen, was mir leicht fiel, schließlich hatte Marx die Stellung des schönen Geschlechtes in der Gesellschaft zum Maß einer neuen Gesellschaft gemacht.

In den Sommermonaten waren wir zum Thema Arbeit gekommen, behandelten die entfremdete und die befreite Arbeit. Auf einer großen Konferenz, auf der ich auch zum Thema Arbeit sprechen konnte, hatte der Generalsekretär erklärt, nach den Erfolgen der Bildungsreform müsse im Jemen eine neue Arbeitsmoral einziehen. Seine Losung war Lenin folgend: "Nicht acht Stunden auf Arbeit sein, sondern acht Stunden arbeiten!" Dazu gab es im Seminar wieder eine harte Diskussion, an deren Ende der Vorsitzende Ali Nasser zu einem Subbotnik, einer Mubadara, auf den Feldern seines Dorfes aufrief. Die Tomaten müssten geerntet werden, jeder Jemenite könnte so in den Gemeinschaftsküchen seine rote Soße genießen, Tomatensaft sollte auch exportiert werden. Ich schloss mich mit meiner Frau an, und wir erlebten den wohl schwersten Arbeitstag unseres Lebens. Bei über 40 Grad galt es Tomaten zu pflücken, zu sortieren und abzutransportieren. In der Mittagspause zeigte mir Ali die Felder und Bewässerungskanäle. Ein Kanal war gerade an den Innenkanten undicht geworden, eine Baubrigade, ausgebildet von unserer FDJ-Brigade, war am Abdichten und Betonieren. Ich zeigte ihnen, wie ich es als Kanalmaurer gelernt hatte, die Hohlkehle auszurunden. Dazu nahm ich eine Flasche und stellte die Rundung her, die dicht war und Wirbel verhinderte. Mein Ansehen als Maurer wuchs landauf landab, meine Spur deutscher Maurerkunst.

Unser gemeinsames Jahr war bald zu Ende, die Zeit der Examen rückte näher. Nach sowjetischem Vorbild wurden an den Schulen harte Einzelprüfungen abverlangt, gegen den Willen fast aller Studenten. Mit meinem Kollegen Ökonomen aus der SU vereinbarte ich gemeinsame Gruppenprüfungen in Gesprächsform, Achmed führte das Protokoll. Alle Prüfungen verliefen harmonisch, alle hatten fleißig gelernt. Aber ein Verkehrspolizist war höchst beleidigt, weil er erklären sollte, warum ein Polizist im Jemen Ökonomie und Philosophie täglich brauche. Er wollte uns unter Protest verlassen, weil wir ihn für dumm hielten. Er erklärte uns, dass er als Erzieher von Menschen eingesetzt sei, er für Ordnung zu sorgen habe, die auch Geld einsparen kann, wenn alle vernünftig Auto fahren.

So waren wir am Ende des Lehrgangs angekommen, es galt Abschied zu nehmen; wir hatten voneinander viel gelernt. Bei der Abschiedsfeier entstand vor der Schule das Foto mit den Frauen.

Ich hatte im Gepäck soviel Material über das Bildungswesen der VDR Jemen, von den Grundschulen, der Universität und der Hochschule gesammelt, dass ich daraus eine Promotionsschrift an der HUB einreichen und verteidigen konnte. Über die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften konnten sich DDR-Lehrer auf ihr Wirken in arabischen Ländern vorbereiten, so sie es wollten, z. B. in Afghanistan.

Aus meinen Erfahrungen hatte sich mein Blick auch auf die politische Lage in der DDR verfremdet. Doch das ist alles Geschichte.

Inzwischen sind bewegte Zeiten über die Welt gegangen, die Welt des 21. Jahrhunderts hat neue Kräfteverhältnisse und Lebenswelten gebracht, die das Leben der Menschen, ganzer Völker und Regionen in alte Bahnen zurückgeworfen haben.

Ich schaue heute auf das Foto mit den jungen, schönen arabischen Frauen aus Zingibar. Was wird aus ihnen geworden sein? Ich hoffe von Herzen, sie haben ihr persönliches Glück gefunden, haben weiter gelernt und ihr Selbstbewusstsein, ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben bewahren können.

Nicht alles ist so verlaufen, wie wir es in unseren Träumen von einer humanen Gesellschaft gehofft hatten. Das Schicksal unserer beiden Länder DDR und VDR Jemen ähnelt sich: wir haben die sozialistische Option verloren und die nationale Einheit gewonnen. Der Sozialismus des ersten Versuchs aber ist gescheitert, ein bitterer, aber notwendiger Weg der Erkenntnis. Die inneren und vor allem die äußeren Gegenkräfte haben gesiegt. Ihr Triumph ist scheinbar unbegrenzt und global. Dabei haben sich die Jemeniten besser gehalten als wir, ihre vermeintlichen Ratgeber, aber auch militärische Gegenwehr half nicht, bei vielen Opfern in den eigenen Reihen.

Marx ahnte schon sehr früh (1853) den Verlauf sozialer Revolutionen. Ein solches Brechen mit allen alten Formen der Ausbeutung und Entfremdung ist nicht in einem Schritt zu vollenden, beachtet man die Gegenkräfte der alten Gesellschaft und die eigenen subjektiven Fehler und Schwächen. Wir hätten mit unseren Widersprüchen nicht schöntun dürfen und für völlig neue humanistische Lösungsformen dieser Widersprüche Sorge tragen müssen.

Aber die alten Widersprüche der alten Welt sind geblieben, belasten die Welt und das Leben der Völker und jedes Menschen. Und die Ideen einer humanistischen Gesellschaft in der Zukunft leben weiter in den Menschen, gehen auf wie die Sonne über der Wüste, jeden Tag, und drängen zur Verwirklichung.

Diese Ideen gedacht zu haben, sie vermittelt zu haben, nach ihnen praktisch gelebt und gehandelt zu haben, das sind unsere Spuren in die Zukunft.

Mit diesen befriedigenden Erinnerungen und realistischen Hoffnungen auf die Zukunft kann ich leben.


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