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Erich Buchholz

Spurensicherung aus der Sicht eines Rechtsanwalts

Was die ehemaligen DDR-Bürger auf dem Gebiete des Rechtswesens und der Rechtspflege, der Gerichtsbarkeit durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik verloren, habe ich als Rechtsanwalt bei der Vertretung von Bürgern der ehemaligen DDR, in den Mandantengesprächen und auch am Rande solcher, hautnah erlebt.

I.

Meine folgenden Ausführungen beschränken sich auf mir bekannt gewordene und mitgeteilte Wahrnehmungen von Mandanten und anderen Bürgern, vornehmlich aus dem Beitrittsgebiet, sowie von ihnen selbst angestellte Vergleiche und auf allgemeine Informationen über das DDR-Rechts- und Justizsystem.

Dieser Beitrag ist keine Abhandlung über dieses Rechts- und Justizsystem der DDR als solchem und auch keine Beurteilung desselben. Er kann deshalb auch nicht auf Strafprozesse eingehen, die später eine unterschiedliche Beurteilung erfuhren, die z. B. Janka, Harich oder Havemann betreffen. Dazu gibt es Literatur, auch von mir.

Wenn bei dieser „Spurensicherung" auch „Spuren in die Zukunft" aufgezeigt werden wollen, so ist dies auf dem Gebiete des Rechtswesens und der Justiz besonders schwierig.

Die gesellschaftlichen Grundlagen, das maßgebliche Fundament des Rechts und der Justiz in der DDR unterschieden sich grundlegend von denen des Rechtswesens und der Justiz in der Bundesrepublik.

So wie man ein Hausboot nicht einfach auf einen Berg oder eine Berghütte nicht einfach in einen Fluss setzen kann, so kann man auch das Rechts- und Justizwesen der DDR nicht einfach in ein anderes Land verpflanzen, ja nicht einmal Elemente desselben ließen sich einfach in das völlig anders geartete und gesellschaftlich anders fundierte bundesdeutsche Rechts- und Justizwesen einfügen oder einbringen.

Es darf vor allem folgendes nicht übersehen werden:

Zu dem Rechts- und Justizwesen der DDR kam es aufgrund einmaliger historischer Ausgangsbedingungen.

Mit dem Zusammenbruch des Hitler-Staates im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges war auch sein Justiz- und Rechtssystem in die Brüche gegangen.

Das „Rechts"-System des NS-Staates war in weiten Teilen von der NS-Ideologie geprägt und musste daher weitgehend erneuert werden.

Wegen der Verquickung der Staatsanwälte und vieler Richter in die Verbrechen des Hitler-Regimes war eine weitgehende Ablösung dieser geboten, musste neues Blut in die Justiz kommen.

Danach konnte über vier Jahrzehnte eine solche bürgernahe Justiz und ein volksnahes Recht geschaffen werden, wie es im weiteren beschrieben wird.

Es erscheint aber nicht völlig abwegig, nach bestimmten wertvollen Elementen im Rechts- und Justizwesen der DDR Ausschau zu halten und zu prüfen, inwieweit solche in der größer gewordenen Bundesrepublik Platz finden sollten.

Dafür besteht auch deshalb Anlass, weil in der Bundesrepublik seit mehr als einem Jahrzehnt verschiedene Rechtspflege-Vereinfachungs-, Entlastungs- und Justizreformgesetze auf den Weg gebracht wurden und weitere Änderungen am Rechts- und Justizsystem der Bundesrepublik vorbereitet oder angedacht werden.

II. Zum DDR-Recht:

1. Es war einfach, volksnah, sprachlich verständlich gestaltet und auch der Aufbau und die Gliederung der Gesetze war überschaubar.

Auf allen wichtigen Gebieten, die den Alltag der Bürger betrafen, gab es solche Gesetze, so ein Familiengesetzbuch, ein Arbeitsgesetzbuch, ein Zivilgesetzbuch, eine Zivilprozessordnung, Gesetze der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, auch ein Strafgesetzbuch und eine Strafprozessordnung.

Alle diese Gesetze, so auch die Verfassung, waren zuvor mit den Bürgern breit diskutiert worden; zahlreiche Vorschläge von ihnen wurden berücksichtigt.

Bis auf den heutigen Tag gibt es in der Bundesrepublik kein Arbeitsgesetzbuch: die Rechtsvorschriften sind außerordentlich zersplittert und vor allem durch die Tarifvereinbarungen schwer zu überschauen.

Das Familienrecht findet sich immer noch als Bestandteil des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), als dessen Buch vier.

Gemessen an heutigen Ansprüchen sind die - meist noch aus der Kaiserzeit stammenden - Gesetze kompliziert geschrieben und schwer verständlich, wobei deren zahlreiche Änderungen, oft durch so genannte Artikelgesetze, es dem gewöhnlichen Bürger fast unmöglich machen, den aktuellen Stand der Gesetzeslage zu erkennen, geschweige die Gesetze zu erfassen und zu verstehen.

Nicht minder kompliziert und kaum verständlich sind die Schriftstücke von Behörden und der Gerichte sowie die Schriftsätze von Anwälten, namentlich der gegnerischen Anwälte.

In einer solchen Situation fühlt sich der normale Bürger fremd, auch wenn nicht mehr lateinisch gesprochen und geschrieben wird; die juristische Sprache wirkt heutzutage in der Bundesrepublik im Unterschied zur Sprache der DDR-Gesetze auf die Mehrzahl der Bürger wie eine Fremdsprache.

Unter solchen Verhältnissen, bei solcher Gesetzeslage, ist der Bürger notwendig auf den rechtlichen Beistand und die rechtliche Vertretung eines Rechtsanwalts angewiesen, inzwischen gibt es in Deutschland über 120 000 Rechtsanwälte. In der DDR genügten 600, ohne dass die Bürger einen Mangel an Rechtsanwälten beklagt hätten.

Sind aber auf Grund der Kompliziertheit des Rechts Rechtsanwälte nötig, wird diese Zunft alles daran setzen, dass die Gesetze so schwer verständlich bleiben, wie sie sind. Denn andernfalls würden die Rechtsanwälte ja arbeitslos.

Da Rechtsanwälte auf Grund eines Dienstleistungsvertrages „gemietet" werden können (unentgeltlich dürfen Rechtsanwälte nicht tätig werden), werden zwangsläufig nur die sich genügend guter Rechtsanwälte bedienen können, die das Geld dafür haben.

Der Unterschied zwischen Arm und Reich wirkt sich daher zwangsläufig dahingehend aus, dass die hinreichend Begüterten ihr Recht und ihre rechtlichen Interessen mit Hilfe entsprechender Rechtsanwälte auch durchsetzen können, wahrend die finanziell weniger gut Ausgestatteten in einer ungünstigen Lage bleiben. Da hilft auch die Beiordnung von Rechtsanwälten im Strafverfahren und die Prozesskostenhilfe (falls sie gewährt wird) wenig. Denn für diese geringe, nicht einmal kostendeckende Bezahlung (bei Pflichtverteidigungen oder auf der Basis von Prozesskostenhilfe) wollen Anwalte verständlicherweise nicht gern arbeiten.

Da in der DDR kein Anwaltszwang bestand, mussten sich die Gerichte selbst eingehend mit der Sache beschäftigen, in sie eindringen, und zwar nicht nur mit den Rechtsfragen, sondern auch mit den tatsachlichen Umstanden. Diese mussten sie mit den Bürgern erörtern.

Demgegenüber bereiten in der Bundesrepublik die Rechtsanwälte mit ihren Schriftsätzen den Prozessstoff in tatsachlicher und rechtlicher Hinsicht vor, und zwar in einer Denkweise und Sprache, die dem Richter vertraut ist, sodass er sich mit den Rechtsanwälten über den Prozessstoff und die anstehenden Rechtsfragen verständigt, ohne das Gespräch mit dem rechtsuchenden Burger, mit den Parteien suchen zu müssen. So erlebt es dann auch der Bürger, wenn er als Partei, als der eigentliche Betroffene, an derartigen Verhandlungen teilnimmt; er fühlt sich in der Situation eines Zuschauers.

2. In der DDR war die Justiz bürgernah; die Richter kamen buchstäblich aus dem Volk (70 % der Richter kamen aus der Arbeiterklasse; 40 % der Richter waren Frauen). Bei Gericht konnte man unentgeltlich Auskünfte erhalten.

Auch sonst bestand vielfach Gebührenfreiheit, so namentlich im Arbeitsgerichtsprozess. Soweit Gebühren erhoben wurden, waren diese gegenüber den heute anfallenden außerordentlich gering. Anwaltsgebühren fielen ohnehin selten an.

Für die Bürger war die Inanspruchnahme der Justiz somit sehr kostengünstig.

Es bestand kein Anwaltszwang, wodurch die Verhandlungen vor Gericht notwendigerweise so gestaltet werden mussten, dass die beteiligten Burger sie verstanden. Sobald Anwälte eingeschaltet werden, tritt zwangsläufig die juristische Auseinandersetzung in den Vordergrund, das „eigentliche" Anliegen der Bürger, der Parteien, verschwindet oft dahinter.

Zur Bürgernahe und Volksverbundenheit der Justiz trug auch bei, dass Richter und Staatsanwälte in Betrieben und in den Wohngebieten Justizaussprachen durchführten und auch in Sprechstunden für die Rechtsfragen der Bürger zur Verfügung standen.

In der DDR gab es enge Kontakte der Richter zu den Bürgern; in der DDR waren die Richter, die ja keine Roben mehr trugen, keine „Götter in Schwarz".

Viele kleine Rechtsstreitigkeiten und Auseinandersetzungen zwischen den Bürgern wurden in der DDR vor den Gesellschaftlichen Gerichten, d. h. vor den Konfliktkommissionen in den Betrieben und Schiedskommissionen in den Wohngebieten bzw. den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, in einer offenen Aussprache einvernehmlich geklärt.

Arbeitsgerichtstreitigkeiten wurden zu 90 Prozent abschließend vor den Konfliktkommissionen behandelt; soweit gegen deren Entscheidungen Rechtsmittel eingelegt wurden, war das Kreisgericht damit befasst.

Von allen Strafsachen wurde etwa ¼ von den Gesellschaftlichen Gerichten verhandelt und entschieden.

Für Rechtsfragen des Wirtschaftslebens und Rechtsstreitigkeiten zwischen Betrieben, die den Bürger im Alltag nicht unmittelbar tangierten, gab es besondere Verfahren und eine besondere Gerichtsbarkeit in Gestalt von Vertragsgerichten und auch Schiedsgerichten.

3. Übersichtlich war auch die Struktur der Gerichtsbarkeit in der DDR; sie war ausdrücklich an die Struktur der staatlichen Verwaltung, des Staatsaufbaus, angegliedert und entsprach dieser.

Auf der Ebene des Kreises gab es das Kreisgericht, auf der Ebene des Bezirks das Bezirksgericht, und im Republikmaßstab gab es das Oberste Gericht. An diesen Gerichten wurden alle für die Bürger bedeutsamen Rechtsgebiete behandelt: Arbeitsrechtssachen, Familiensachen, Zivilprozesse, Rechtsstreitigkelten zwischen den Bürgern, Strafsachen. Im Jahre 1989 wurden nach langjähriger Diskussion unter Juristen über die Einführung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit in der DDR bei den Gerichten auch Kammern bzw. Senate für bestimmte Verwaltungssachen gebildet; sie konnten aber kaum noch wirksam werden.

4. An allen (staatlichen) erstinstanzlichen Gerichten wirkten neben dem den Vorsitz innehabenden Berufsrichter zwei Schöffen mit, so im Arbeitsrecht, in einem Zivilprozess, in Familiensachen und auch in Strafsachen. Auch dadurch wurde die Bürgernähe der Rechtspflege gefördert.

Die Schöffen waren - anders als in der Bundesrepublik - in jeder Hinsicht gleichberechtigte Richter. Sie hatten das gleiche Stimmrecht; daher konnten die beiden Schöffen den einen Berufsrichter überstimmen, z. B. sich für eine Strafe ohne Freiheitsentzug entscheiden, wenn der Berufsrichter für eine Freiheitsstrafe war, oder den Angeklagten hinsichtlich bestimmter Taten nicht für schuldig befinden; der Berufsrichter musste dann das gemeinsam verfasste nicht seiner Auffassung entsprechende Urteil mit Gründen gegen seine persönliche Überzeugung verkünden.

Solches durfte in der Bundesrepublik aufgrund der völlig anderen Rolle und Stellung der Schöffen ausgeschlossen sein.

In der DDR hatten die Schöffen das Recht, direkt - und nicht über den Vorsitzenden - Fragen an Angeklagte, Zeugen und Sachverständige zu richten.

Im Unterschied zur Bundesrepublik, wo nur die Berufsrichter Urteile und Beschlüsse unterschreiben, unterschrieben in der DDR auch die Schöffen die Entscheidungen mit, an denen sie mitgewirkt hatten.

Auch kannten sie, was heutzutage ausgeschlossen ist, vor der Verhandlung die Akten, sie wussten also genau, worum es ging.

Demgegenüber sind Schöffen in der Bundesrepublik, sofern sie überhaupt in Strafsachen beteiligt werden, in einer ähnlichen Situation wie die Zuhörer in einem Prozess: sie kennen die Akten nicht, kommen ohne jede Vorkenntnis des Sachverhalts wie die Zuhörer zum Gericht und lassen sich davon überraschen, was Angeklagte, Zeugen und Sachverständige erklären und welche Urkunden aus den Akten oder auch sonst vorgelegt werden.

Gerichtsvorsitzende fühlen sich mitunter in ihrer Verhandlungsführung gestört, falls etwa ein Schöffe anfangen wollte zu fragen oder etwas zu sagen. Es verwundert daher nicht, dass die Schöffen vielfach nur beisitzen, in einzelnen Fallen in den ihnen langweilig erscheinenden Verhandlungen sogar einschlafen, sodass man von „Beischläfern" spricht.

Die Schöffen in der Bundesrepublik kommen ganz überwiegend aus dem Kreise von Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst. Unternehmer und Gewerbetreibende sind nicht abkömmlich und Arbeiter können es sich nicht leisten, der Arbeit fernzubleiben. Manchmal sind unter den Schöffen auch Hausfrauen, denen womöglich zuhause die „Decke auf den Kopf fällt.

Demgegenüber waren die Schöffen in der DDR regelmäßig qualifizierte Werktätige aus den volkseigenen Betrieben, staatlichen, wissenschaftlichen, pädagogischen und anderen Einrichtungen; sie kamen aus der Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens und brachten ihre Erfahrungen in die Verhandlungen und Entscheidungen ein.

Durch den Informationsvorsprung der Richter sind die Schöffen heutzutage diesen von vornherein unterlegen und daher in die Lage versetzt, sich auf den Richter und dessen Meinung zur Sache einstellen zu müssen.

In der DDR war die Tätigkeit der Schöffen so organisiert, dass diese in der Regel 14 Tage hintereinander bei ihrem Gericht zum Einsatz kamen. In dieser Zeit studierten sie die Akten der unmittelbar bevorstehenden Verfahren, sie wurden auch zum Erlass anderer Entscheidungen der Gerichte, insbesondere von Beschlüssen, herangezogen, wo die Mitwirkung der Schöffen gesetzlich vorgesehen war, so bei Beschlüssen über die Eröffnung des Hauptverfahrens, über die Gewährung einer Strafaussetzung auf Bewährung (also einer vorzeitigen Entlassung aus der Strafhaft) oder bei Beschlüssen, die den Widerruf einer gewährten Bewährung bei Nichtbewährung bzw. bei Verletzung von Bewährungspflichten betrafen.

Die Schöffen kontrollierten gemeinsamen mit den Kollektiven der Werktätigen die Verwirklichung von Strafen ohne Freiheitsentzug, insbesondere die Erfüllung von Bewährungspflichten bei der Verurteilung auf Bewährung oder der Strafaussetzung auf Bewährung.

Dadurch, dass die Schöffen zwei Wochen hintereinander im Gericht waren, hatten die Richter zu ihnen und umgekehrt die Schöffen zu den Richtern einen engen Kontakt. Auch das forderte die Bürgernähe der Justiz.

Die große Zahl von Schöffen (etwa 50 000 in der DDR, davon die Hälfte Frauen) und Mitgliedern der Gesellschaftlichen Gerichte, etwa 300 000, forderte ebenfalls die Nähe und die enge Verbundenheit zwischen Justiz und Bürgern.

Nicht wenige Schöffen waren auf Grund ihrer langjährigen Schöffentätigkeit und nicht wenige Mitglieder von Konfliktkommissionen, insbesondere deren Vorsitzende, auf Grund langjähriger Erfahrung vielfach soweit mit dem Recht der DDR vertraut, dass sie, namentlich auf den ihnen geläufigen Gebieten, unverbindlich und formlos den Bürgern Hinweise und Erläuterung zu geben vermochten.

Auf diese Weise war es für die Rechtssuchenden nicht schwer, zumindest eine erste Anlaufstelle für ihre Probleme zu finden.

Richter und Schöffen wurden ebenso wie die Mitglieder der Gesellschaftlichen Gerichte gewählt. Sie waren den Bürgern, den Wählern, nicht unbekannt, und umgekehrt verpflichtet, über Ihre Tätigkeit zu berichten.

Selbstverständlich war in der Verfassung und im Gerichtsverfassungsgesetz - wie in anderen Ländern - festgelegt, dass die Richter, auch die Schöffen, und die Mitglieder der Gesellschaftlichen Gerichte in ihrer Rechtssprechung unabhängig und nur der Verfassung und dem Gesetz unterworfen sind.

Richterliche Unabhängigkeit bedeutet „Weisungsfreiheit", also dass nicht externe Stellen, insbesondere nicht die Exekutive, einem Richter vorschreiben, wie er im jeweiligen Fall zu entscheiden hat. Ich persönlich kenne keinen derartigen Fall. Ich weiß von Richtern, bei denen solche Einflussnahme versucht wurde, dass sie sich dagegen verwahrten.

Im Unterschied zu den Richtern gilt bei Staatsanwälten keine solche Unabhängigkeit, keine Weisungsfreiheit. Sie erhielten und erhalten bei besonders bedeutsamen Prozessen Instruktionen oder sie hatten sich die von ihnen zu stellenden Antrage zuvor bestätigen zu lassen. Vielfach folgen die Richter den Anträgen der Staatsanwaltschaft.

Auch muss die unterschiedliche Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung der Richter beachtet werden, die in der DDR weitgehend anders verlief als zuvor in Deutschland und in der Bundesrepublik. Es darf auch nicht übersehen werden, dass Richter in für die Öffentlichkeit und die Politik bedeutsamen Verfahren einem besonderen Erwartungsdruck ausgesetzt sind. Nicht jeder Richter hält dem stand.

Die Berichterstattung der Richter über ihre Tätigkeit bedeutete keine Rechenschaftslegung über die Rechtsprechung, denn diese betreffend waren sie nur dem Gesetz unterworfen.

Die große Verantwortung der Schöffen, als einem demokratischen Element in der Justiz, zeigte sich auch daran, dass sie gleichberechtigt an der Beratung des Urteils mitwirken, das sie dann auch mitunterschrieben.

In der DDR mussten die Urteile wahrend der Beratung unmittelbar im Anschluss an die mündliche Verhandlung geschrieben, wie die Juristen sagen, abgesetzt werden. Das geschah also unter dem unmittelbaren Eindruck der Verhandlung.

Demgegenüber erlebt man heutzutage, dass der Gerichtsvorsitzende zwar nach der Verhandlung das Urteil verkündet und mündlich erläutert, aber das schriftliche Urteil erst viel später, unter Umständen Monate später abgefasst wird und vorliegt. Von einer Unmittelbarkeit des Eindrucks der mündlichen Verhandlung kann dann wahrlich nicht mehr die Rede sein.

Schöffen und Mitglieder der Gesellschaftlichen Gerichte waren zwar Laien, aber juristisch nicht ungebildet und nicht unvorbereitet. Es wurden regelmäßig Schöffenschulungen durchgeführt und ebenso Schulungen für die Mitglieder der Gesellschaftlichen Gerichte.

Es gab eine monatliche Fachzeitschrift für die Schöffen, die auch den Mitgliedern der Gesellschaftlichen Gerichte diente. Diese Zeitschrift hieß „Der Schöffe". Das war ein Unikat nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern, glaube ich, sogar in Europa.

Auch dieses Unikat wurde nach dem Beitritt abgewickelt - es kam ja aus der DDR, einem „Unrechtsstaat"!

5.   In der DDR wurde vor allen Gerichten, vor allen Instanzen auf allen Rechtsgebieten Protokoll geführt, in Strafsachen ein Wortprotokoll; man konnte also nachlesen, was der Angeklagte, die Zeugen, der Sachverständige, der Staatsanwalt und der Verteidiger vor Gericht gesagt hatten.

Die höhere Instanz konnte bei einer Berufung das Urteil und die Urteilsgründe mit diesem inhaltlichen Protokoll vergleichen und schon so überprüfen, ob das Urteil Bestand haben konnte.

Heutzutage wird jedenfalls in den Strafverfahren vor dem Landgericht kein Wortprotokoll geführt. Die Protokolle enthalten nur die „Förmlichkeiten" des Verfahrens, so wann die Verhandlung begonnen hat, wann sie beendet wurde, wann Pausen waren, wer vernommen wurde, ob die Zeugen belehrt und auch vereidigt wurden, ob ein Verteidiger anwesend war und wie lange, ob womöglich ein anderer Rechtsanwalt kam, welche Anträge gestellt und wie diese vom Gericht beschieden wurden usw. Worüber verhandelt wurde, was die Prozessbeteiligten erklärt haben, ist diesem Protokoll nicht zu entnehmen.

Die Richter, die das Urteil viel später, wie gesagt, nicht selten Monate später absetzen, sind ausschließlich auf ihre persönlichen Notizen darüber angewiesen, die sie sich während der Verhandlung gemacht hatten. Diese sind in keiner Weise überprüfbar.

Es ist nicht selten, dass das Urteil dann Aussagen enthält, die nicht dem entsprechen, was in der Beweisaufnahme vorgetragen bzw. von Angeklagten, Zeugen und Sachverständigen erklärt worden war.

Nimmt man dann noch hinzu, dass gegen Strafurteile der Landgerichte nur die Revision zum Bundesgerichtshof zu gelassen ist, die ausschließlich auf Rechtsfragen beschränkt ist, die also die tatsächlichen Feststellungen der ersten Instanz, des Landgerichts, nicht mehr überprüft, dann ist dies für einen gewöhnlichen Bürger, namentlich einen Bürger aus der DDR, nicht mehr nachvollziehbar. Es ist insbesondere dann nicht mehr für ihn nachvollziehbar, wenn er sich damit abfinden muss, dass in den nicht mehr angreifbaren „tatsächlichen Feststellungen" des Gerichts Aussagen zu finden sind, die nicht der Wahrheit entsprechen.

6.  In der DDR gab es für die Durchführung der Verfahren gesetzliche Fristen. Sich über Jahre hinziehende Verfahren, besonders in Familiensachen und vor den Verwaltungsgerichten, aber durchaus auch vor Strafgerichten und Zivilgerichten, wie sie heutzutage gang und gäbe sind, gab es in der DDR nicht.

Die zügige Bearbeitung der Verfahren war für die Bürger von großem Vorteil: sie wussten sehr bald, woran sie waren, wie die Rechtslage war, welche Rechte ihnen von Rechts wegen durch gerichtliche Entscheidung zustanden und welche nicht.

Wenn heutzutage Bürger jahrelang nicht wissen, ob ihre Ehe geschieden wird, ob sie ihr Haus behalten können, ob sie ihren Schaden ersetzt bekommen, ob sie Unterhalt zahlen müssen und in welcher Höhe bzw. ob sie für sich und die Kinder Unterhalt verlangen und den Unterhaltsanspruch notfalls durchsetzen können usw., dann ist das für die einfachen Menschen, die kein finanzielles Hinterland besitzen, eine ganz schlimme Sache, ein riesiger Nachteil.

7.  In der DDR konnte bereits im Strafverfahren auch der zivilrechtliche Schadensersatzanspruch behandelt und konnte über ihn entschieden werden.

Heutzutage erlebt der Geschädigte, der vor Gericht als Zeuge vernommen wurde, auf seine Frage nach dem Ersatz des ihm durch die Straftat zugefügten Schadens die Antwort: „Dafür sind wir nicht zuständig!"

Der Geschädigte muss also selbst wegen seines Schadensersatzes Klage erheben und ein oft kompliziertes und langwieriges Verfahren betreiben, für das er die Kosten vorzuschießen hat, ohne zu wissen, ob er diese jemals erstattet bekommt.

In der DDR hatte der Geschädigte im Ergebnis eines Strafverfahrens einen durchsetzbaren Anspruch gegen den Schädiger, einen vollstreckbaren Titel.

Da in der DDR die Bürger in aller Regel in einem Arbeitsverhältnis standen, also regelmäßige Einkünfte hatten, war es - gegebenenfalls über Lohnpfändung - unkompliziert, seinen Zahlungsanspruch durchgesetzt zu bekommen.

Dabei ist zu betonen, dass für die Vollstreckung von Ansprüchen dasselbe Gericht zuständig war, vor dem der Anspruch (im Zivil- oder im Strafverfahren) zuerkannt worden war.

Heutzutage ist für die Zwangsvollstreckung ein anderes Gericht zuständig als das Prozessgericht, selbst wenn dies mitunter im gleichen Hause ist; aber sehr viel häufiger ist im Hinblick auf den Wohnsitz des Schuldners ein Gericht an einem anderen Ort zuständig, was die Sache weiter kompliziert. In der DDR gab es keinen Gerichtsvollzieher.

8. Für andere Angelegenheiten stand den Bürgern die Möglichkeit zur Verfügung, Eingaben (Vorschläge, Hinweise, Anliegen oder Beschwerden} an die verschiedensten Stellen zu richten. Das Eingabenwesen war in der DDR auf gesetzlicher Grundlage sehr stark entwickelt. Die Bürger machten von dieser Möglichkeit in großem Umfang Gebrauch, zumal es für die Bearbeitung der Eingaben strikte Fristen gab. Allerdings konnten nicht alle Anliegen der Bürger in ihrem Sinne beschieden werden, z. B. konnte auch der Staatsrat keine neuen Wohnungen „aus der Tasche ziehen"; aber womöglich trug eine entsprechende Eingabe dazu bei, zu überprüfen, ob das Anliegen des Betreffenden ordnungsgemäß und sachgerecht bearbeitet wurde.

III.

Die eingangs erwähnten Reformgesetze der Bundesrepublik haben die angestrebten Ziele aus den verschiedensten Gründen kaum erreicht.

Die Justiz zeichnet sich traditionell durch ein besonderes Beharrungsvermögen aus; auch gibt es unter der Richterschaft wie auch in der Anwaltschaft des öfteren Vorbehalte gegen Neuerungen; entsprechende Gesetzesänderungen werden vielfach unterlaufen. Es dürfen die besonderen Interessen der Richter, so an ihrer Unabhängigkeit und ihren Privilegien, und die der inzwischen über 120 000 Rechtsanwälte nicht übersehen werden, die bei wesentlichen Änderungen des Rechts- und Justizsystems womöglich um ihre Einkünfte bangen.

Eine Lobby oder hinreichend starke gesellschaftliche Kräfte, die an einer progressiven Reformierung des Rechts- und Justizsystems genügend interessiert sind, kann man nicht erkennen.

Auch darf nicht übersehen werden, wie schwer es ist, an einem über Jahrhunderte gewachsenen, in der derzeitigen Form seit mehr als 100 Jahren bestehenden Justiz- und Rechtssystem etwas zu verändern. Insbesondere vermögen Erneuerungen einzelner Details wenig zu bewirken, da sie von dem Gesamtsystem „geschluckt", zumindest diesem in der Praxis „unter der Hand" entsprechend angepasst werden.

Dennoch sollten die „Spuren" des DDR-Rechts und der DDR-Justiz nicht verschüttet werden und der Vergessenheit anheim fallen.

-     Durch die letzte große Reform des Zivilprozesses wurde eingeführt – ähnlich wie in der DDR selbstverständlich - vor jeder erstinstanzlichen streitigen Gerichtsverhandlung eine Güteverhandlung durchzuführen; in der Praxis blieb diese Güteverhandlung indessen wegen mangelnder Bereitschaft oft von vorneherein zum Scheitern verurteilt.

-     Aktuell sind Bestrebungen im Bundesjustizministerium, an Stelle der bestehenden Viergliedrigkeit von Amtsgerichten, Landgerichten, Oberlandesgerichten und dem Bundesgerichtshof ein dreigliedriges System einzuführen, wie es in der DDR bestand, wobei vor allem Amts- und Landesgerichte in ihrer Funktion und Zuständigkeit zusammenzubringen wären.

In den neuen Ländern musste jedoch nach 1990 das dort zunächst fortbestehende dreigliedrige System von Kreisgericht, Bezirksgericht und „höherem" Gericht (das Oberste Gericht der DDR bestand schon nicht mehr) - historisch rückläufig - an das viergliedrige bundesdeutsche Justizsystem angeglichen werden.

-  Soweit bei neuen Gesetzen angestrebt wird, eine für juristische Laien verständliche Sprache zu finden, darf nicht übersehen werden, dass diese mit der Begrifflichkeit des gesamten Systems des Rechts übereinstimmen oder in Übereinstimmung gebracht werden müsste.

Mit dem Mietrechts-Modernisierungsgesetz wurde, über verschiedene sachliche Änderungen auch im Interesse der Mieter hinaus, versucht, einige altertümliche Begriffe durch verständliche Vokabeln zu ersetzen, so Mietzins durch Miete. Die Fachsprache sollte der Umgangssprache weichen.

Allerdings wurde dieses Millionen Bürger betreffende Gesetz, dessen Eckpunkte das Bundesjustizministerium am 1.1.2000 bekannt machte, anders als in der DDR im Wesentlichen nur in Fachkreisen und Verbänden diskutiert.

- Eine greifbare Entlastung der Strafjustiz könnte erreicht werden, wenn, wie bereits mehrfach vorgeschlagen, das Strafrecht von Bagatelldelikten, insbesondere kleinen Diebstählen in Warenhäusern und Selbstbedienungsgeschäften des Einzelhandels, entlastet würde. Aber die großen Handelsketten sperren sich wegen der „Heiligkeit des Eigentums" massiv dagegen.

-     Ausbaufähig ist das Bestreben, der außergerichtlichen Streitbeilegung mehr Raum zu geben, so das System der Schiedsstellen bzw. Schiedsmänner weiterzuentwickeln, und in Gestalt der so genannten „Mediation" statt streitiger Auseinandersetzung eine Schlichtung zwischen den streitenden Parteien herbeizuführen.

-        Auf gleicher Linie liegt die ausbaufähige Praxis des Täter-Opfer-Ausgleichs.

-     Freizeitarbeit anstelle von Gefängnis bei Ersttätern und weniger schweren Straftaten wäre zu begrüßen, erfordert jedoch unter den bundesdeutschen Verhältnissen einen besonderen organisatorischen und bürokratischen Aufwand, dessen es in der DDR nicht bedurfte.

-     Unerlässlich ist die Erhaltung und der Ausbau von juristischen Beratungsstellen
bei den Gemeinden und Bezirksämtern (in Berlin), um den weniger bemittelten
Bürgern unentgeltlich sachgerechte Rechtsberatung zu bieten.

-     Das Fehlen von Wortprotokollen in Strafsachen vor den Landgerichten könnte, was bereits mehrfach vorgeschlagen wurde, dadurch ausgeglichen werden, dass die Verhandlungen auf Tonband aufgenommen werden; auf diese Weise wäre später abhörbar und also feststellbar, wie die Verhandlungen tatsächlich abgelaufen sind.

Dass die Justiz mit moderner Technik ausgestattet werden muss, um schneller arbeiten zu können, ist vielfach gefordert worden; solches wird auch - schrittweise - eingeführt. Allerdings, allein die neue Technik bringt noch nicht eine Veränderung der Arbeitsweise.

-  Ebenfalls vielfach gefordert wurde, im Strafverfahren in einem so genannten Adhäsionsverfahren zugleich über Schadensersatzansprüche, zumindest dem Grunde nach, zu entscheiden, wie das in der DDR die Regel war.

Trotz entsprechender gesetzlicher Möglichkeit (§ 403 Strafprozessordnung) sperren sich die Strafrichter vielfach dagegen. Hier müsste eine verbindliche Vorschrift es den Strafrichtern unmöglich machen, auszuweichen; zumindest müss-ten sie genötigt werden, nachprüfbar zu begründen, warum sie über den zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch ausnahmsweise nicht bereits auch im Strafverfahren mitentscheiden.

- Sinnvoll kann es auch sein, wie in der DDR nicht nur einmal praktiziert, auf gesetzlicher Grundlage Justizexperimente durchzuführen, bevor Neuerungen in erlassenen Gesetzen allgemeinverbindlich werden. Wenn nunmehr der Bundesgesetzgeber in einigen Fällen den Ländern dahingehende Möglichkeiten eröffnet, ist dies ein begrüßenswerter Weg.

-  Eine stärkere Beteiligung von Schöffen an den Verfahren, jedenfalls in Strafsachen, aber auch in Arbeits- und vielleicht in Mietsachen (ähnlich wie bei den Handelskammern der Landgerichte) wäre zu begrüßen; allerdings dürfte es schwer sein, arbeitende Mitbürger dafür zu gewinnen, weil sie ihren Arbeitsplatz
nicht verlieren wollen.

Gegen eine vollständige Gleichberechtigung der Schöffen in Strafsachen, die einschließen würde, ihnen Akteneinsicht zu geben, dürften sich massive Gegenkräfte melden.


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