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Gudrun Benser

Rechtspflege in der DDR - aus dem Blickwinkel eines Staatsanwaltes

Nach den harschen Attacken gegen die DDR-Justiz infolge der deutschen Einheit muß ich darauf aufmerksam machen, daß die Rechtspflegeorgane in der DDR zu über 90 Prozent allgemeine Kriminalität zu verfolgen hatten, wie sie auch in der BRD verfolgt wird. Politisch motivierte Handlungen gegen die DDR waren die Ausnahme. Letztere führten zu den bekannten Strafverfahren gegen DDR-Juristen vor BRD-Gerichten seit 1990.

Das Strafgesetzbuch der DDR nennt in Artikel 2 den Zweck der strafrechtlichen Verantwortlichkeit: „... die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung, die Bürger und ihre Rechte vor kriminellen Handlungen zu schützen, Straftaten vorzubeugen und den Gesetzesverletzer wirksam zu ... Staatsdisziplin und zu verantwortungsbewußtem Verhalten im gesellschaftlichen und persönlichen Leben zu erziehen." Wie sollte das geschafft werden?

Das war nur möglich, wenn die Bedingungen für Kriminalität zumindest weitgehend eingeschränkt werden konnten und der Einzelne über Rechte und Pflichten genau informiert war. Ferner mußte es stets Anliegen der gesamten Gesellschaft sein, Straftaten und Gesetzesverletzungen allgemein vorzubeugen.

„Nur ums Strafen geht es nicht", hieß das erste Heft einer populärwissenschaftlichen Schriftenreihe in der DDR zur Rechtsaufklärung. In dieser Reihe wurden wichtige Kapitel der DDR-Gesetzgebung allgemeinverständlich behandelt. Im ersten Heft wurde ein wichtiges Anliegen der Rechtspflege erklärt: Vorbeugen ist besser als heilen! Wir wollten gesellschaftliche Konflikte möglichst so lösen, daß kein Nährboden für Kriminalität entsteht. Straf- und Rückfälligkeit sollte weitgehend zurückgedrängt werden, zum Nutzen des Einzelnen und der Gesellschaft. Es ging um wirkliche Lösung von Konflikten, aber nicht durch Erhöhung der Strafen.

Die DDR hatte tatsächlich eine viel geringere Kriminalitätsrate aufzuweisen als die BRD. Die dabei gesammelten Erfahrungen könnten auch heute von Nutzen sein. Schon manches, was in Siegermanier hinweggefegt wurde, ist nach und nach - manchmal unter anderem Namen - wieder eingeführt worden. Aus den Polikliniken wurden zum Beispiel Ärztehäuser.

Was ist aus der DDR-Rechtspflege bewahrenswert? Wenn ich auf die über 30 Jahre meiner Tätigkeit als Staatsanwalt zurückblicke, meine ich: es gab auf jeden Fall mehr Nähe zum Menschen und zur Wahrheit! Wer jetzt statt der Bereitschaft nachzudenken gleich wieder „Stasi, Stasi" schreit, fühlt sich der Wahrheit bestimmt nicht verpflichtet.

Die Bedingungen für die Kriminalitätsvorbeugung und -bekämpfung sind heute durch die Massenarbeitslosigkeit völlig andere als in der DDR. Wie soll ein Bewährungshelfer für jemanden Arbeit beschaffen, wenn es einfach keine gibt? Erwerbsarbeit und Wohnung sind für die meisten Haftentlassenen die Voraussetzung für die Rückkehr ins normale Leben innerhalb der Gesetze. Das war in der DDR immer gewährleistet. So schnell wie möglich, spätestens nach 4 Wochen, mußte eine Arbeitsstelle her. Die Betriebe hatten Auflagen, einen bestimmten Prozentsatz Wiedereinzugliedernder einzustellen. Da fragte niemand, ob sich das rechnet. Die Kostenfrage darf nicht immer an erster Stelle stehen. Sicher ist sie stärker zu beachten, als es in der DDR üblich war. Für den Erfolg einer Wiedereingliederung sorgten ehrenamtliche Betreuer, die Abteilungen für Inneres in den Kreisen und Stadtbezirken, die Gerichte und auch die Staatsanwaltschaft.

Das Anliegen der DDR-Rechtspflege wurde in vielfältigen Formen verwirklicht. Es ist nicht möglich, alles erschöpfend zu behandeln. Eine ganze Reihe von Möglichkeiten direkter Mitwirkung von Werktätigen und verschiedene Formen der Öffentlichkeitsarbeit von Richtern und Staatsanwälten kann hier aufgezählt werden: Die Schöffentätigkeit, die Arbeit der gesellschaftlichen Gerichte, die Arbeit in gesellschaftlichen Kommissionen und Arbeitsgruppen einerseits und das Auftreten der Richter und Staatsanwälte und anderer Mitarbeiter der Staatsorgane in Betrieben und Wohngebieten andererseits.

Die Nähe zum Menschen

In der Staatsanwaltschaft existierte die Faustregel: jeder Staatsanwalt sollte mindestens zweimal im Monat in die Kollektive von Werktätigen gehen. Das wurde auch statistisch erfaßt. Die Möglichkeiten waren sehr vielfältig. Als Jugendstaatsanwalt ging ich oft in Jugendklubs und sprach zum Thema „Jugendkriminalität". Wir besuchten Kollektive in den Betrieben, um gesellschaftliche Mitwirkung für Strafverfahren zu erreichen - als Kollektivvertreter, gesellschaftliche Verteidiger oder gesellschaftliche Ankläger. Im Wohngebiet gab es Aussprachen mit Hausbewohnern, etwa im Rahmen der Nationalen Front. Wir stellten uns für Schulungen bei gesellschaftlichen Gerichten zur Verfügung und für Schöffen bei Themen, die die Staatsanwaltschaft betrafen. Wir arbeiteten auch direkt in gesellschaftlichen Gremien mit.

Als Jugendstaatsanwalt im Stadtbezirk Friedrichshain gehörte ich einer Arbeitsgruppe an, die sich mit Prophylaxe befaßte. Wir suchten u. a. kinderreiche Familien auf, die eventuell Hilfe durch die Gesellschaft brauchen konnten. Zweimal war ich mit bei Familien, die jeweils neun Kinder hatten. In der einen Familie kam ich mir vor wie bei den sieben (neun) Zwergen. Die Jacken, Schuhe und Mützen hingen bzw. standen der Reihe nach ordentlich wie die Schulranzen bei den größeren Kindern nebeneinander. Jeder hatte seine Aufgabe. Die Eltern befaßten sich mit den Kindern. In der andern Familie war der Vater mit den Kindern allein. Die Mutter hatte die Familie verlassen. Die Großen mußten die Mutter mit ersetzen. Die Jugendhilfevertreter legten möglichst an Ort und Stelle mit dem oder den Erziehungsverpflichteten die erforderlichen Maßnahmen fest. Eine andere Arbeitsgruppe befaßte sich mit der Nachsorge bei bereits straffällig gewordenen Jugendlichen. Auch hier wurde versucht, im Lebensumfeld der Jugendlichen bessere Bedingungen für ihre Entwicklung zu schaffen. Es ging um die richtigen Lehrstellen, um Erziehungs- und Kontrollmaßnahmen bei Bewährung u. a.

Bei unseren vielseitigen Kontakten zur Bevölkerung nimmt es nicht Wunder, daß Leute in unsere Sprechstunden kamen, die Rat suchten, um ihre persönlichen Probleme zu lösen. Sie hatten einfach Vertrauen zu uns. Auch wenn wir nicht zuständig waren, schickten wir sie nicht einfach weg, sondern übergaben die Sache an die zuständigen staatlichen Organe. Der Bürger wurde informiert, wer ihre Anliegen weiter zu bearbeiten hatte. Die Bearbeitung von Eingaben der Bürger war gesetzlich geregelt. Innerhalb kurzer Fristen mußte die Bearbeitung und die Information an den Bürger erfolgen. Wenn die Einreicher einer Eingabe mit dem Resultat nicht einverstanden waren, stand ihnen ein Beschwerderecht zu. Auch das wurde statistisch erfaßt.

Es wurde sich lohnen darüber nachzudenken, wie heutige Richter und Staatsanwälte mehr Nähe zur Bevölkerung herstellen konnten. Dabei soll nicht unsere gesamte Öffentlichkeitsarbeit übernommen werden! Aber das Prinzip war richtig. Ein Beamter im gehobenen Dienst sollte schon wissen, wie es heute anderen Leuten geht.

Das Beispiel der Jugendrichterin Samain steht für die Nahe zu den Menschen wie kein anderes. In einigen Strafverfahren gegen Jugendliche stellte sich heraus, daß das Elternhaus für die Jugendlichen nicht existierte. Die Eltern waren dem Alkohol verfallen oder die Jugendlichen wollten um keinen Preis ins Elternhaus zurück. Hinzu kam, daß es in den ersten Jahren in der DDR sicher nicht genügend Jugendheime gab. Die Richterin erledigte nicht nur ihren Richterspruch, sondern entschloß sich, einzelne, bis zu fünf Jugendliche glaube ich, in ihrem Hause aufzunehmen.

Vergleiche § 4 Strafprozeßordnung der DDR.

Der Wahrheit verpflichtet

Selbst Rechtsanwälte, erst recht Richter und Staatsanwälte waren der Wahrheit verpflichtet. Nicht wer Tatsachen verdreht sollte Erfolg haben, sondern wer der Wahrheit zum Durchbruch verhilft. Das hatte den einfachen Grund, daß nur dann Veränderungen möglich wurden, wenn von (richtigen) Tatsachen ausgegangen werden konnte. Nur dann waren gesellschaftliche Konflikte im günstigen Falle lösbar. Formaljuristisch scheinbar glatte aber fiktive Urteile dagegen bieten keinen Ansatz für Problemlösungen. Insbesondere wurde größter Wert darauf gelegt, „... als Voraussetzung der Entscheidung über die strafrechtliche Verantwortlichkeit die Straftat, ihre Ursachen und Bedingungen und die Persönlichkeit des Beschuldigten und des Angeklagten allseitig und unvoreingenommen festzustellen.... Der Beschuldigte und der Angeklagte haben das Recht, an der allseitigen und unvoreingenommenen Feststellung der Wahrheit mitzuwirken." (§ 8, Abs. 1 und 2 StGB/DDR) Das Gesetz ist die Forderung an den Einzelnen, wie er sich zu verhalten hat und enthalt zugleich sein Recht, was er von der Gesellschaft erwarten kann (vergleiche §§ 2, 8 Strafprozeßordnung der DDR).

Entscheidende Bedeutung kam dabei den Beweisen zu und nicht der „Überzeugung des Tatrichters", wie eine bestimmte Sache gewesen sein konnte. In der DDR mußte „der Weg zur Wahrheit" aus den Akten lückenlos ersichtlich sein. Die Protokolle der Hauptverhandlungen waren so ausführlich, wie eine Protokollantin in Langschrift die einzelnen Aussagen festhalten konnte. Durch Protokolleinsicht war die Richtigkeit einer Mitschrift überprüfbar und nötigenfalls die Berichtigung zu fordern. Bei notwendigem Fachwissen in den verschiedensten Verfahren, falls es der Richter nicht haben konnte, wurden Sachverständige und Gutachten nach meiner Erinnerung weit häufiger herangezogen als heute. Gerade in den politischen BRD-Prozessen gegen DDR-Amtsträger wurden Beweisantrage, namentlich Gutachten, reihenweise abgelehnt.

Erst wenn alle objektiven belastenden und entlastenden Umstände geklärt sind und der Angeklagte auch schuldhaft gehandelt hat, muß der Staatsanwalt in seinem Antrag und der Richter in seinem Urteil feststellen, ob der Angeklagte X. als Täter zu überfuhren ist. War dies nicht der Fall, mußte Freispruch beantragt oder vom Richter auf Freispruch erkannt werden. Die objektive und subjektive Seite einer Handlung unterliegen der gleichen Beweispflicht. Es durfte nicht behauptet werden, daß der Täter eine bestimmte vom Gesetz geforderte Schuldform — Vorsatz oder Fahrlässigkeit — verwirklicht hat, sondern es mußte bewiesen werden. In den Rechtsbeugungsverfahren gegen Richter und Staatsanwälte der DDR wurde z. B. die Schuldform des direkten Vorsatzes nicht bewiesen, sondern nur behauptet.

Die Beweisführung im gerichtlichen Verfahren hängt natürlich vom Ermittlungsergebnis, vom Beweismaterial ab, das dem Richter übergeben wird. In der DDR war das Anzeigenprüfungsverfahren sehr umfassend, bevor ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Nur bei dringendem Tatverdacht durfte jemand einer Straftat beschuldigt werden. In der BRD wird dagegen sehr schnell ein Strafverfahren eingeleitet. Auch das konnten wir in Tausenden eingeleiteter Ermittlungsverfahren gegen DDR-Amtsträger - vorrangig Juristen - feststellen. Daraus wurden nur einige Hundert Gerichtsverfahren und der „Rest" wurde wieder eingestellt. Etwas vereinfacht ausgedrückt: bei Einleitung eines Strafverfahrens in der DDR mußte ein „begründeter Tatverdacht" bestehen, d. h. die Täterschaft mußte objektiv und subjektiv nahezu sicher sein.

Vergl. §§ 98,105 Strafprozeßordnung der DDR.

Gesellschaftliche Gerichte

Besondere Bedeutung kam in der DDR den Konfliktkommissionen in den Betrieben und den Schiedskommissionen im Wohngebiet zu. Die gesetzlichen Voraussetzungen für ihre Bildung und Tätigkeit waren zuletzt festgelegt im Gesetz über die Gesellschaftlichen Gerichte, in der Konfliktkommissions-Ordnung und der Schiedskommissions-Ordnung vom März 1982.

Deren Mitglieder waren wählbar und oft jahrelang in diesen gesellschaftlichen Gerichten tätig. Ihre Rechtskenntnisse erwarben sie in Schulungen, durch Selbststudium und in der Praxis. Viele entwickelten sich juristisch so ausgezeichnet, daß sie mit Berufsrichtern vergleichbar waren.

Richter und Staatsanwälte realisierten die Schulungen und standen auch nach Übergabe einer Strafsache zur Beratung bereit. Beide Formen gesellschaftlicher Gerichte sind bewahrenswert. Dies besonders unter dem Gesichtspunkt, daß heute viele Gerichte mit Verfahren geradezu vollgeschüttet sind und oft Monate und Jahre bis zu einer Entscheidung vergehen. Ebenso war die Regelung zu den Verfehlungen, vergl. „Verfolgung von Verfehlungen" vom 19.12.1974, eine Entlastung für die Gerichte. Bei Wegnahme ganz geringer Werte war durch Verfugung des Leiters einer Kaufhalle z. B. eine Ermahnung und Geldbuße bis zum dreifachen Wert des Diebstahls, höchstens 150,- Mark, möglich. Die Polizei war davon zu unterrichten. Auf diesem Gebiet ist in der BRD seit Jahrzehnten nichts bewegt worden.

Das Arbeitsfeld der Gesellschaftlichen Gerichte umfaßte u. a. Vergehen, Verfehlungen, Ordnungswidrigkeiten, kleine zivilrechtliche Streitigkeiten.

Schöffen in der DDR

Die Schöffen waren gewählte, gleichberechtigte Richter. Ihre Arbeit war entschieden bedeutender als heute. Sie wirkten im Eröffnungsverfahren, in Vorbereitung der Hauptverhandlung bereits mit, an der Urteilsfindung und auch noch nach dem Urteil. Sie waren an den Kreisgerichten in Strafverfahren, in Zivil-, Familienrechts- und Arbeitsrechtsverfahren und in erster Instanz an den Bezirksgerichten tätig. Sie befaßten sich gründlich mit dem Studium der Gerichtsakten und wirkten auch aktiv in den Verhandlungen mit. Eine Statistenrolle war ihnen fremd. In den Verfahren, die ich vertreten habe, stellten sie zumeist sachdienliche Fragen, die der Wahrheitsfindung dienten.

Vergl. §§ 52,188, 197 ff. Strafprozeßordnung.

Auf diese Weise könnten heute Berufsrichter wesentlich entlastet werden.

Wahl der Richter und Schöffen

Sowohl Berufsrichter als auch ehrenamtliche Richter (Schöffen) wurden in der DDR gewählt, die Schöffen in ihren Betrieben und Einrichtungen auf Betriebs- und Gewerkschaftsversammlungen und die Berufsrichter von den Volksvertretungen jeweils gleicher Ebene. Das hatte Vorteile gegenüber der Ernennung von Richtern und mag auch Nachteile haben, denn mitunter wurde auch nur der Form Genüge getan. Also muß abgewogen werden. In Vorbereitung dieser Wahlen hatten auch wir, Richter und Staatsanwälte, über die gesetzlichen Grundlagen und die gesellschaftspolitische Bedeutung des Richteramtes Aussprachen in Kollektiven zu führen.

Bei der Wahl muß ein Kandidat Rede und Antwort stehen und wird von vielen Augen kritisch betrachtet - und die sehen mehr. So kam es auch zur Ablehnung einzelner Kandidaten. Nachteilig könnte sich auswirken, daß sich der Gewählte dem Gremium verpflichtet fühlt, das ihn gewählt hat. Ein Richter darf aber nur nach dem Gesetz und seinem Gewissen entscheiden. Mir ist allerdings in den über dreißig Jahren meiner Tätigkeit am Gericht kein einziger Fall einer Rechtsbeugung oder Korruption bekannt geworden. Heute dagegen hört man aus Staatsämtern - nicht von Richtern - immer wieder von Vorteilsnahmen und Korruptionsskandalen aller Größenordnungen. Ich weiß noch aus unserer Dienstelle in der Berliner Staatsanwaltschaft, daß regelmäßig Hinweise zur Unbestechlichkeit erfolgten und die Regel: „Wehret den Anfängen!" eingehalten wurde. Selbst wenn z. B. jemand Blumen in die Sprechstunde mitbrachte, auch ohne irgend einen Zweck damit zu verbinden, habe ich diese noch in Anwesenheit des Besuchers in die Geschäftsstelle gebracht. Ich wollte aus Prinzip nichts behalten. Einmal brachte jemand eine Schachtel Pralinen mit, die ich ganz und gar mit den Worten zurückgewiesen habe: „Wir nehmen nichts an!" Ich wollte sie auch meinen Kolleginnen in der Geschäftsstelle nicht zumuten. Daß Richter und Staatsanwälte in der DDR generell unbestechlich waren, ist, glaube ich, allgemeine Kenntnis gewesen.

Vergl. Artikel 94 ff. Verfassung der DDR.

Weiterbildung der Richter und Staatsanwälte Einsatz in Industrie und Landwirtschaft

Richter und Staatsanwälte kamen aus dem Volke und gehörten zu ihm. Zugegeben, Fabrikarbeit und Landarbeit sind nicht jedermanns Sache, aber diese Tätigkeit brachte uns direkt in die Kollektive der Arbeiter und Bauern. Weiterbildung ist dagegen für alle Juristen ständig notwendig. Die folgenden Beispiele waren in der DDR eher ein Versuchsfeld in den ersten Jahren und wurden später nicht mehr praktiziert (weshalb eigentlich nicht?). Die jüngeren Staatsanwälte und Richter kennen diese Praxis auch nicht mehr.

Ein Fortbildungsstudium nach dem Staatsexamen war nicht schlecht. Etwa 1972 war ich damit an der Reihe. Neben der Arbeit studierten wir planmäßig und erhielten zum Schluß nach 2 Jahren ein Zertifikat. Regelmäßige Seminare vertieften das Selbststudium. Zum Teil wurden wir auch von der Arbeit freigestellt.

In den ersten Jahren meiner Tätigkeit als Staatsanwalt gab es noch den Einsatz in der Produktion und auf dem Lande. Ich war im VEB NARVA, Berliner Glühlampenwerk in Friedrichshain beschäftigt. Etwa jeden Monat einige Stunden setzten wir uns an die Werkbank. Die Arbeit war dort sehr fummelig und man mußte höllisch aufpassen, daß man keinen Schaden anrichtete. Später war ich noch im VEB 7. Oktober Berlin, Großdrehmaschinenwerk, in der Konsumgüterabteilung in Weißensee beschäftigt. Dort stellte ich kleine Schraubstöcke für den Bevölkerungsbedarf mit her. Die Arbeit machte Spaß, jeder sah, was er schaffte. Der Kontakt zu den Werktätigen war zweifellos das wichtigste, aber die eigene Bestätigung war auch von Nutzen.

Danach hatten wir in Mitte Patenschaften zu Brigaden im VEB Werkzeugmaschinenfabrik. Hierbei ging es um gegenseitige Besuche von Versammlungen und Kulturveranstaltungen. Wir übernahmen zu einigen Themen die Gewerkschaftsschulung. Ferner gaben wir Unterstützung, wenn im Betrieb nach Urteilen Bewährungszeiten aus Strafverfahren anstanden.

Auf dem Lande halfen wir den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften bei der Ernte, hauptsächlich beim Kartoffellesen. Wir schwitzten manchmal ganz schön an diesen Sonntagen und kehrten abends kaputt aber froh nach Hause. In jenen Kollektiven erfuhren wir direkt von den Sorgen und Nöten der körperlich arbeitenden Menschen. Hin und wieder konnte Abhilfe geschaffen oder organisiert werden. Gewiß war dies alles unter anderem auch dem Arbeitskräftemangel in der DDR geschuldet, und es lassen sich gewiß bei intensivem Nachdenken andere Formen von Kontakten finden. Das Anliegen, Funktionäre oder Beamte mit der Basis in direkte Verbindung zu bringen, ist jedoch nicht falsch!

Allgemeine Aufsicht

Die Staatsanwaltschaft hatte früher eine Abteilung für Allgemeine Aufsicht. Auch dort habe ich vielleicht zwei bis drei Jahre gearbeitet. Wir hatten die Einhaltung von allgemeinen Gesetzen und Verordnungen nach vorgegebenen Plänen in den Betrieben und Einrichtungen zu kontrollieren. U. a. ging es nach meiner Erinnerung um die Durchsetzung von Wettbewerbsbestimmungen innerhalb der Betriebe, zwischen den Kollektiven. Auf diesem Wege erlangten wir Kenntnisse über die Wirtschaft und die Arbeit der Gewerkschaften. Später wurde dieser Zweig unserer Tätigkeit wieder abgeschafft. Geschadet hat solcher Einsatz den Beteiligten nicht, sondern ihre Erfahrungen bereichert. Wir hatten bei dieser Tätigkeit stets die Vorbeugung durch Rechtserziehung mit im Auge. Weniger Gesetzesverletzungen kann sich die heutige Gesellschaft doch nur wünschen! Neue Wege suchen und finden sollte ständige Aufgabe sein.

 

Die Gesetzgebung in der DDR

Die DDR hatte auf allen Gebieten neue Gesetze geschaffen, die unserem Gesellschaftssystem entsprachen. Selbstverständlich die Verfassung und auch im Straf-, Zivil-, Arbeits- und Familienrecht, um nur die bekanntesten zu nennen. Es kann von mir nicht analysiert werden, was alles davon bewahrenswert ist. Das müßte eine Gruppe von Rechtswissenschaftlern und Praktikern tun. Die einfache und verständliche Sprache der DDR-Gesetze fällt jedoch sofort auf. Dem entsprachen die Schriftsätze an die Bürger. Das Gegenteil davon trifft auf Äußerungen aller Art in der heutigen Rechtsprechung zu. Bei den Schriftstücken zur Strafverfolgung von Richtern und Staatsanwälten der DDR fiel es anfangs selbst uns Juristen nicht leicht zu verstehen, was die Gerichte von uns wollten. Dann kam noch Naturrecht (falsch angewandt) ins Spiel, so daß man alles mehrmals lesen mußte. Aber wir haben es durchschaut. Wer keine juristische Ausbildung hat, muß wohl noch paarmal mehr lesen. Deshalb kann heute, wer mit dem Gericht zu tun bekommt, kaum auf einen Rechtsanwalt verzichten. Und den muß sich der Rechtsuchende leisten können.

Das alte Bürgerliche Gesetzbuch gilt nun schon mit relativ wenigen Änderungen über hundert Jahre. Das Strafgesetzbuch mit etwas mehr Änderungen schon seit 1871! Da die Eigentumsverhältnisse - anders als in der DDR - unverändert blieben, werden sie wohl noch lange gültig bleiben.

 

Es ging auch ohne Robe: Staatsanwältin Gudrun Benser

 

Die Kleidung vor Gericht

Bis Ende der fünfziger Jahre wurden in Berlin, Hauptstadt der DDR, die schwarzen Roben getragen. Parallel gab es einheitliche dunkelblaue Kostüme (und Anzüge?). Als ich 1957 meinen Dienst in der Staatsanwaltschaft Berlin antrat, erhielten wir keinen Kostümstoff mehr auf dienstlichem Wege. Ich übernahm die abgelegte Robe eines ausscheidenden Kollegen. Seit Ende der fünfziger Jahre hatte jeder die Auflage, in solider dunkler Kleidung zur Gerichtsverhandlung zu erscheinen. Das schmälert die Autorität des Gerichtes bestimmt nicht. Ich hatte mir entsprechende Kostüme bei der Schneiderin arbeiten lassen. Das war eher erschwinglich als heute, aber Richter werden ja nicht schlecht vom Staat bezahlt. Die heute immer noch vorgeschriebenen Roben in der BRD erinnern an längst vergangene Zeiten. Bei den Gerichtspersonen ist doch die Persönlichkeit ausschlaggebend und nicht der umgehangene Stoff. Eine Modernisierung wäre in diesem Jahrtausend und neuem Jahrhundert endlich angebracht! Es würde schon rein äußerlich mehr Nähe zu den Menschen schaffen, die vor den Schranken des Gerichtes stehen.

 


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