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Gert Wendelborn

Ohne Resignation

 Auch ich, früherer Theologieprofessor, gehöre zu den „Abgewickelten“. Es ereilte mich im April 1992 wegen „schweren Fehlverhaltens“ aus ausschließlich politischen Gründen, wie auch zwei meiner Rostocker Kollegen. Naturgemäß war das für mich ein schwerer Schlag, hatte ich doch den Lehrstuhl für Kirchengeschichte erst Anfang September 1989 erhalten, als mein Vorgänger die Altersgrenze erreichte.

Eigentlich resigniert aber war ich zu keiner Zeit. In der Dialektik von Kontinuität und Neuanfang setzte ich meine gesellschaftliche Mitwirkung fort. Für die Kontinuität steht besonders meine Friedensarbeit, obgleich sie inzwischen nicht mehr mein Hauptarbeitsfeld ist. Aber die nach wie vor und mehr denn je bestehende Lebensbedrohung der Menschheit führte doch dazu, dass ich mich in öffentlichen Reden und schriftlichen Beiträgen immer wieder zur Sache äußerte. Es zeigte sich mir dabei, dass die Position des Friedensrates der DDR prinzipiell richtig gewesen war, während sich die „kirchliche Friedensbewegung“, die schlagartig zu bestehen aufhörte, erst jetzt in ihrer Problematik ganz enthüllte, so gewiss eine Reihe von Persönlichkeiten der Wendezeit subjektiv ehrlich auch weiterhin um den Frieden bemüht sind und wir Altlinken mit ihnen unbedingt das Sachgespräch und auch die Kooperation suchen müssen.

Zum scheinbar Neuen meiner gesellschaftlichen Mitwirkung gehört zweifellos mein Hauptbetätigungsfeld, die Volkssolidarität. Ich war 6 1/2 Jahre lang 1. Landesvorsitzender in Mecklenburg-Vorpommern und arbeite auch jetzt noch in ihrem Landes- und Kreisvorstand mit. Als ich 1990 mein Amt antrat, schrieb mir ein erboster Pastor, ich solle mich endlich einmal hinten anstellen, statt gleich wieder an die Spitze zu treten. Doch der Schein trog ihn. Es war meine fromme Mutter, die mich Anfang der 80er Jahre für diese Mitgliedschaft ganz auf eigene Faust warb. Sie ging als Helferin ihres Gemeindepastors wie als Volkshelferin der VS durch die Häuser, kassierte Monatsbeiträge und war in beiden Eigenschaften um schlichte Seelsorge an Gleichaltrigen oder noch Älteren bemüht. Der Gedanke aber, mich zum 1. Landesvorsitzenden zu machen, ging vom bisherigen Bezirkssekretär aus, der mich noch aus den 50er Jahren aus der Jungen Gemeinde in der Rostocker St. Marien-Gemeinde kannte. Ich meine, einen kleinen Beitrag dazu geleistet zu haben, dass die VS bestehen blieb und nicht wie die meisten anderen Massenorganisationen der DDR von der Bildfläche verschwand. Erneuerung und Kontinuität waren für uns hier nach der Wende gleichrangig, und diese Linie erwies sich als tragfähig, wie gerade im März 2002 die Bundesdelegiertenversammlung in Potsdam zeigte.

Ich will im folgenden nicht erzählen, wo ich sonst noch praktisch mitzuwirken versuchte. Zeigen wollte ich nur, dass mir nach wie vor klar ist: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Schon in einem früheren Aufsatz lobte ich einmal Jesus, weil bei ihm Wort und Tat untrennbar verbunden waren, und schrieb schon als Dreißigjähriger, das habe seine Worte zu einer Tat und seine Taten so beredt werden lassen. Aber ich wirkte lebenslang bis zum von außen jäh über mich verhängten Ende meines Berufslebens als Intellektueller, und so lag auch in den 90er Jahren der Schwerpunkt meiner Tätigkeit auf geistigem Gebiet, wohl wissend, dass andere für die ökonomische Grundlage sorgen mussten, ohne die keine Gemeinschaft möglich ist.

Geistig suchte und suche ich gerade auch in der Volkssolidarität Einfluss auszuüben, vor allem durch meine Vorträge. Dabei wurde ich in ausnahmslos jedem Fall von anderen um diesen „Dienst“ gebeten und bewarb mich nie selbst. Aber ich bin überzeugt, dass Gott mir besondere Gaben verliehen hat, auf intellektuellem Gebiet Nächstenliebe zu üben. Es begann mit einer großen Vortragsserie über Weltreligionen in der Rostocker VS in der ersten Hälfte der 90er Jahre. Ich musste mich in diese Materie neu einarbeiten. Gleichsam aus dem Vollen schöpfen konnte ich nur, wo es sich um christliche Themen handelte, in gewissem Maß auch im Hinblick auf das Judentum. Zunächst bedauerte ich, dass ich mich nicht auf christliche Themen beschränken konnte. Meine eigene Theologie betrachtet das Christliche nicht als einen beliebigen Sonderfall des Religiösen. Aber bei der intensiven Beschäftigung mit den anderen Weltreligionen weitete sich mein Blick, und ich lernte Gemeinsames und Trennendes der Weltreligionen zu beachten. Meine Hörer waren ganz in erster Linie human empfindende Atheisten, die gerade hier Lücken in ihrem Wissen entdeckten und denen ich Hilfe zu geben versuchte. Ich bewundere meine Hörer, dass sie mir geduldig zuhörten, denn ich stelle hohe geistige Ansprüche an sie, versuche aber immer auch zu zeigen, wie aktuell die Grundfragen bleiben und uns aufgrund unseres Menschseins auch heute zu beschäftigen haben.

Ich hatte in der DDR im Gegensatz zur Mehrheit der Christen mit Marxisten bewusst zusammengearbeitet und darin nie einen Verrat am Glauben gesehen. Vielmehr schien mir, dass Sozialismus wie biblisch-reformatorisch verstandener Glaube im Wortsinn lebensnotwendig sind in Bezug auf das Wohl wie auf das Heil des Menschen. Die ungelösten Widersprüche des Sozialismus in der DDR, vor allem die in den Anfängen stehen bleibende sozialistische Demokratie, waren mir zu allen Zeiten bewusst, aber auch die Problematik des landläufigen Glaubensverständnisses, sofern es sich gegen den Klerikalismus nicht prinzipiell schützte - im Handeln und nicht nur im Reden.

(Unter Klerikalismus verstehe ich jedes kirchliche Streben nach Macht und Reichtum, darüber hinaus jedes Streben nach irdischer Daseinssicherung. Wer die „Sache der Kirche“ mit solchen Mitteln sichern will, tut in Wahrheit nur das, was alle Welt sonst auch tut. Demgegenüber strebe ich selbstlosen Dienst an in Umkehr landläufiger menschlicher Wertmaßstäbe, wobei man nicht sich selbst entschuldigt und andere beschuldigt, sondern hart zu sich selbst, dagegen sehr verständnisvoll zu anderen ist. Mir scheint, dass ein solches Glaubensverständnis durch Jesus voll gedeckt ist. Für die Stellung des einzelnen Christen wie der Kirchen als ganzer in der DDR war dieser heimliche Streit von prinzipieller Bedeutung.)

Ich wurde nie heimlich zum Atheisten. Das zeigen auch alle meine Bücher, die in der DDR, aber auch im kapitalistischen Ausland erschienen. Freilich ging es mir nie um eine beliebige Spielart des Religiösen. Ich lernte schon in den 60er Jahren, dass Menschen im Namen Gottes die edelsten Taten bis hin zum Opfer ihrer selbst, aber auch die schlimmsten Verbrechen verübten, und leitete daraus die Folgerung ab, dass es sehr wohl um die Wirklichkeit Gottes, aber nicht primär um die Vokabel Gott gehe.

Mit der Gottesfrage ist es besonders kompliziert. Ich unterscheide eben den einen wahren Gott und all die unterschiedlichen Götzen, die den Glauben an irdische Ziele binden. Das war im Ersten Weltkrieg und nicht nur dort der heidnische Götze Mars. Das ist heute wohl in Wahrheit Merkur. Und das ist natürlich auch immer wieder die Göttin Venus. Ich lernte Jahwe und die Baalim, den einen wahren Gott des Volkes Israel und die im „gelobten Land“ vorgefundenen Götzen, die an Jahreszeiten und an den Fruchtbarkeitskult gebunden waren, also wahren und falschen Glauben, zu scheiden, wozu sich gerade für den Kirchengeschichtler reiche Möglichkeiten ergeben, und danke noch heute den beiden Verlagen der CDU in der DDR dafür, dass sie in immer differenzierterer und tiefgründigerer Form die progressiven Traditionslinien der Kirchengeschichte sichtbar machten. Ich habe zu allen Zeiten auch in meinen Büchern ausgesagt, was mich vom Atheisten unterscheidet, wohl wissend, dass es auch zahlreiche Spielarten des Atheismus gibt, humane wie inhumane. Aber ich sagte es bewusst unpolemisch, weil ich nicht die Konfrontation mit meinen Bündnispartnern suchte und nicht Wasser auf die Mühlen der „Klerikalen“ leiten wollte.

Noch heute denke ich, dass diese Linie richtig und sachgerecht war. Freilich haben sich heute die Akzente meiner Argumentation etwas verschoben. Der Hauptakzent bleibt der, die möglichen Gemeinsamkeiten mit human empfindenden Atheisten auszuloten. Ich weise sie nun aber auch direkt darauf hin, dass ihr Menschenverständnis mir nicht in jeder Hinsicht tiefgründig genug zu sein scheint, was vermutlich auch Fehlentwicklungen in der DDR begünstigte. Dabei ist mir auch klar, dass die Säkularisierung als Ende des religiösen Zeitalters, als Ende der langen Zeitspanne, in der die Kirchen kulturbestimmend - dem Anspruch nach oder faktisch - waren, ein langfristiger und letztlich weltweiter Prozess ist, dessen Ende sich nicht absehen lässt. Aber manche (früheren) Marxisten gaben im wesentlichen ihre Weltanschauung auf, während sie wie selbstverständlich ihrem Atheismus treu blieben. Ich hoffe, meine Frage wird von ihnen nicht als zu provokant empfunden, ob sich damit bei manchen nicht auch ihr Atheismus in Richtung auf den vorherrschenden Konsum-Atheismus der spätbürgerlichen Gesellschaft veränderte. Dieser Atheismus aber, von den meisten Zeitgenossen als selbstverständlich ihrer Lebensgestaltung zugrunde gelegt, scheint mir schrecklich trivial zu sein und damit letztlich eine Gefahr für das Menschsein. Auf einer Kulturbundtagung wies ich darauf im Detail hin. Darum möchte mein bewusst nichtklerikaler Glaube den Dialog mit Atheisten führen, der gelegentlich auch die Form des Streitgesprächs annehmen kann. Worum es mir dabei positiv geht, wird vielleicht am besten mein in Kürze in der Zeitschrift „Neue Dialoghefte“ erscheinender Aufsatz über Ehrfurcht vor dem Leben und Ehrfurcht vor der Natur zeigen, in dem ich Albert Schweitzers diesbezügliche Gedanken darstelle.

Ich könnte auch schlicht sagen: Ich möchte, dass das „Ich darf“ und das „Ich soll“ eines jeden Menschen nicht nur intellektuell, sondern existentiell wahrgenommen wird. Ich möchte, dass möglichst viele Zeitgenossen wieder täglich empfinden, wie viel Grund zur Dankbarkeit besteht, weil uns Widerfahrendes nicht selbstverständlich ist, dass sie aber auch ihre Verantwortung, ihr In-Pflicht-Genommensein wach begreifen, weil es ohne dieses keine Solidarität, kein Zusammenwirken, überhaupt keine soziale Existenz geben kann. Darum ist auch über das Freiheitsverständnis dieser Gesellschaft in ihrer starken und guten, aber auch in ihrer problematischen, weil allzu egoistischen Seite geduldig zu diskutieren. Auch hier sind Klischees um des Menschen willen aufzubrechen. Die Diskussion sollte sich bis auf die Beziehung der Geschlechter erstrecken, denn da Gott uns nicht abstrakt als Menschen, sondern als Frau oder Mann schuf, ist dies ein bleibendes Grundproblem des Menschseins. Es wäre dann z. B. kritisch zu untersuchen, ob wirklich immer Erotik ist, was als solche ausgegeben wird.

Am Stellenwert des Sozialen hat sich für mich nichts geändert, und hier gilt es, berechtigte Anliegen der Armen und Schwachen im Weltmaßstab auch weiterhin offen zu benennen, also nicht dem neoliberalen Zeitgeist zu verfallen. Doch beim Nachdenken über das Thema Menschenwürde wurde mir zugleich deutlich, dass das Soziale im Menschenleben nicht alles ist. Das Existentielle reicht tiefer. Wir Linken sollten auch erkennen: Menschen leiden heute in unserem Kulturkreis trotz aller sozialen Probleme nicht mehr primär, weil ihnen die notwendigen materiellen Lebensgrundlagen fehlen, sondern weil ihnen der innere Kompass fehlt, weil sie keinen Mittelpunkt mehr kennen, auf den sie ihr Leben ausrichten können. Man kann das auch unter den Stichwörtern Klugheit und Weisheit bedenken, wie ich es kürzlich in der Urania Schwerin zum Thema „Dialog von Religion und Wissenschaft“ tat.

Meine Vorträge (die ich übrigens meist unentgeltlich halte), haben sich immer mehr ausgeweitet. In Warnemünde stelle ich an jedem Freitag in einer Begegnungsstätte der VS (eines in wunderschöner Umgebung gelegenen Hauses für „Betreutes Wohnen“) ein Buch vor, was allein mich in meinem Rentnerdasein schon ständig beschäftigt. In diese Zusammenkünfte, die seit Anfang November 1998 stattfinden, habe ich Werke vieler SchriftstellerInnen einbezogen, wozu ich hier am Schluss noch etwas ausführen möchte.

Schon lebenslang habe ich mich am Feierabend mit Belletristik auseinandergesetzt, was viele überraschen mag. Für sie ist solche Lektüre meist nur Unterhaltung, aber wer die Belletristik des 20. Jahrhunderts kennt, weiß auch, dass sie oft noch höhere Anforderungen als manches Fachbuch stellt. Zweierlei fasziniert mich an ihr: Zum einen macht sie Geschichte anschaulich. In diesem Sinne gestalte ich gerade eine große Serie über bedeutende Persönlichkeiten der Neuzeit und stehe dabei noch mitten im 16. Jahrhundert, also in ihren Anfängen, und dies anhand von Romanen wie von wissenschaftlichen Werken. Zum anderen geht es in der Belletristik um die schon im vorigen Abschnitt berührte Frage, was es denn um das Menschsein sei. Überall geht es um gelingendes und sich verfehlendes Leben, um Freude und Erfüllung wie um Leid, Versagen und Schuld. Dabei werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stets mitbedacht. Es wird Menschsein jedoch nicht auf diese reduziert. Die Rolle der Gesellschaft wie die des Einzelnen, der letztlich für sein Leben verantwortlich bleibt, werden in gleichem Maße beleuchtet. Ich selbst lerne bei alledem noch im Alter schier täglich hinzu und bleibe in diesem Sinne innerlich jung, behalte Lebensmut und -kraft und zeige so auch in der Praxis, dass rechtes Leben aus einem Geflecht von Geben und Nehmen besteht. Was ich in Vorträgen über den alten Menschen gelegentlich sage, suche ich auch zu leben: Weisheit des Alters besteht darin, gelassen auf alles zu verzichten, was unwiederbringlich dahin ist, sich dessen aber von Herzen zu freuen, was in unserem Leben erfreulich und vielleicht sogar ganz neue Wirklichkeit ist. So treten auch immer neue Menschen in meinen Lebenskreis, und es wird deutlich, dass die Geschichte stets nach vorn offen bleibt, auch wenn der Himmel zur Zeit wolkenverhangen scheint. 


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