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Karin Weber 

Der Zettel

Erinnerung, durch 12 Jahre Lebensgeschichte gebrochen

 Der Kreisvorstand der SED-PDS tagte. Die Mitglieder waren alle, bis auf den Vorsitzenden, neu in kreislicher Funktion. Auf der Tagesordnung standen Themen wie die Abwicklung des hauptamtlichen Parteiapparates, die organisatorische Gliederung der verbliebenen wenigen Mitglieder der Partei und am Rande die Vorbereitung der nächsten, am kommenden Abend stattfindenden Sitzung des „Runden Tisches für Demokratie“.

Die Hoffnung auf eine bessere DDR war schon verloren gegangen. Es galt zu sichern, was erhaltenswert und notwendig schien.

Der rasante Umbruch der gesellschaftlichen Verhältnisse ließ ein gründliches Nachdenken kaum zu. Politische Arbeit war vordringlich durch Aktionismus und pragmatisches Handeln geprägt.

Ich war Mitglied dieses Kreisvorstandes, der sich schon nicht mehr Sekretariat nannte. Durch das Zeitgeschehen in eine weiter vorn liegende Linie der politischen Arbeit gespült.

Es begann eine Zeit, in der sich mein Körpergewicht annähernd für zwei Jahre monatlich um ein Kilogramm vergrößerte.

Für die Teilnahme am Runden Tisch wurden ein Vertreter der FDJ und ich bestimmt. Bislang hatte ich nur einmal diesem Gremium als „zweiter Mann“ beigewohnt. Doch mittlerweile waren uns die erste und zweite Reihe unserer Kreisparteiorganisation verloren gegangen und ich somit für die verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit den politischen Gegnern für würdig und kompetent genug befunden worden, was mich mit einem gewissen Stolz erfüllte.

Zum Ende der Vorstandssitzung schob mir der Vorsitzende einen Zettel im Format A5 zu. Er dürfe mir nicht sagen auf welchem Wege er ihn erhalten habe. Darauf waren zwei Anträge der neu gegründeten SPD vermerkt, welche sie am folgenden Tag beim Runden Tisch stellen wollte. Ich sollte mich schon mal damit auseinandersetzen und überlegen wie dem entgegnet werden könnte.

Wesentlicher Inhalt der Anträge war, dass alle Verantwortungsträger der DDR aus dem öffentlichen Dienst entlassen werden sollten.

Mit diesem Zettel setzte ich mich in meinen Trabbi und fuhr in unsere nahegelegene Wohnung, wo ich erst einmal die abendliche Versorgung meines Mannes und meiner zwei Kinder abwickeln musste. Den Zettel im Unterbewusstsein.

Erst nach flüchtiger Vorbereitung auf meinen Unterricht als Lehrerin an der Hilfsschule konnte ich zu Bett gehen und mich bewusst mit diesem Zettel auseinandersetzen. Es wurde eine durchgrübelte Nacht. Wachphasen müssen mit Dämmerzeiten und Tiefschlaf beständig gewechselt haben.

Ich versuchte zu erfassen, welche Konsequenzen die Durchsetzung dieser Anträge hätte. Was war eigentlich öffentlicher Dienst? - Mitarbeiter beim Rat des Kreises, Angehörige der Justiz, Angestellte in Krankenhäusern, Lehrer. Und ich war Lehrerin, über lange Zeit auch Pionierleiterin an der kreislichen Hilfsschule. Es betraf also auch meine Berufsgruppe.

Und wer waren eigentlich Verantwortungsträger? Abgeordnete, Verwaltungsmitarbeiter, Leiter, Parteisekretäre, Schulräte, Polizisten?

Trugen nicht alle, die täglich ihrer Arbeit nachgingen (wie es so schön hieß) zur Stärkung der Republik bei und somit Verantwortung für die Entwicklung in diesem Land?

Als Lehrerin und Pionierleiterin auch Parteisekretärin einer Parteigruppe mit 6 Genossinnen an der Hilfsschule, ein sehr kleiner Baustein in dieser Republik, der sich verantwortlich fühlte, als Verantwortungsträger im Sinne der Anträge. Hatte ich doch meine Tätigkeit immer auch als Stärkung des Sozialismus und somit als Arbeit für soziale Sicherheit, Frieden und gegen Faschismus aufgefasst.

Ängste schlichen sich ein. Fragen stellten sich. Was sollte aus uns werden? Der Umgang mit Arbeitsamt, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe war so fremd. Wie sollte unser Leben weiter gehen, wenn der Zettel Gewalt annahm?

Warum bin ich so geworden, wie ich bin? Warum musste ich mich bedingungslos an die Seite des Sozialismus stellen? Warum habe ich den realen Sozialismus in der DDR nie in Zweifel gestellt?

Von Natur ein lebhaftes Temperament, war ich immer auf der Suche nach Aktivitäten. In der Jugendzeit gleichermaßen in der FDJ- und Pionierorganisation wie in der Jungen Gemeinde. Heute würde man sagen: Hauptsache Action. Erfolge und Anerkennung blieben nicht aus, spornten an.

Aufgewachsen als ältestes von fünf Kindern, eines mit schwerer körperlicher Behinderung. Dadurch mit Verantwortungsbewusstsein, Hilfsbereitschaft und großem Gefühl für Gerechtigkeit ausgestattet, die Autorität von Eltern und Älteren achtend. Ich hatte bis 1989 meinen 1968 in der 9. Klasse als Aufsatz zum Thema „Ein jeder möchte glücklich sein - Worin siehst du dein Glück?“ aufgezeichneten Lebensplan getreulich abgearbeitet - Schulabschluss, Studium an einer Fachschule, Arbeit mit Behinderten, Heirat, zwei Kinder (sogar wunschgemäß erst ein Junge dann ein Mädchen), kleine Wohnung, Auto, Garten.

Die Eltern hatten ein neues Haus gebaut. Jedes meiner Geschwister war in seinem erlernten Berufe tätig.

Wenn mich jemand gefragt hätte, ob ich glücklich wäre, hätte ich geantwortet: ja glücklich und zufrieden.

Gab es keine Probleme, keine Unzufriedenheit, keine Kritik an der großen Politik?

Traten Schwierigkeiten auf, die lösbar schienen, wurde gekämpft. Das hatte weniger mit Mut und Klugheit, als mit dem ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl zu tun.

Wo lag der Fehler? Was hatte ich falsch gemacht?

Kritische Gedanken zur Politik und zum Staat wurden verdrängt. Dir fehlt der Überblick. Du kennst die Zusammenhänge nicht gut genug. Begründungen wurden autoritätsgläubig akzeptiert, neue Wege nicht gedacht.

Der Aufstieg aus einer sozial schwachen, mit Problemen beladenen Familie in das sozialistische Bürgertum erfüllte mit Genugtuung und führte zur Genügsamkeit, dankbar für die besondere Förderung der Arbeiter- und Bauernkinder.

Zum ersten Mal setzte ich mich in jener Nacht gedanklich mit meinem inneren Verhältnis zur DDR auseinander. Mir wurde bewusst, dass andere Menschen in unserem Land Gedanken, Ideen, Kritik, welche ich nur leicht an meinem Bewusstsein vorüber streichen ließ, aufgegriffen und weiter gedacht hatten.

Darin lag meine Verantwortung für dieses Land.

Dieser Verantwortung wollte ich mich stellen, wollte sie tragen. Aber nicht indem ich mich in eine Nische zurückzog oder aus dem gesellschaftlichen Leben, dem ich mich nie zuvor so nah fühlte, ausgrenzen ließe.

Plötzlich wusste ich, dass genau das, was ich unter der Rubrik „das verstehst du nicht, dafür bist du nicht klug genug“ in das Reich des Nichtgedachten schob, Richtiges enthielt, wert war, weiter gedacht zu werden. Das gab Mut und Zuversicht für die bevorstehende Auseinandersetzung am kommenden Abend.

Im Anschluss an einen Arbeitstag begann gegen 17.00 Uhr die Beratung. Am Tisch (eigentlich in Hufeisenform) saßen ca. 20 Personen der verschiedenen Parteien und Bürgerbewegungen. Für die SED saß ich allein. Alle wähnten sich als demokratisch legitimiert und erhoben für sich den Anspruch, den neuen Weg zu gestalten und mit dem Alten zu rechten. Lediglich ich, als Vertreterin der Partei, die bislang die führende Rolle inne hatte, sollte als Verantwortungsträger die Last der verlorenen DDR tragen.

Den Zettel hatte ich in meinen Unterlagen versteckt. Es sollte ja niemand wissen, dass er auf unerklärten Wegen zu mir gelangt war.

Als der Tagesordnungspunkt aufgerufen wurde, bat ich um eine Verlängerung der üblichen fünfminütigen Redezeit, da ich eine Erklärung in eigener Sache zu diesem Punkt abgeben wolle. Nach Erteilung des Rederechtes stand ich unüblicherweise auf (im Stehen habe ich schon immer lieber gekämpft, als im Sitzen) und krempelte im wahrsten Sinne des Wortes meine Ärmel hoch.

Ich berichtete über mein Leben als Kind (1953 geboren) dieser Republik und versuchte deutlich zu machen, worin ich meine Verantwortung für das Scheitern dieser Republik sah. Gleichzeitig stellte ich die Frage, ob diese Verantwortung nur von den Mitgliedern und Funktionären der SED zu tragen sei. Ich wandte mich persönlich an den ehemaligen Funktionär auf Bezirksebene und führenden Vertreter der uns bislang so nahestehenden Bauernpartei, die sich noch nicht der westlichen CDU hingegeben hatte, ob er nicht die gleiche, vielleicht sogar größere Verantwortung zu tragen habe wie ich. Schließlich wäre er Mitglied des Bezirkstages gewesen, schließlich habe er bei Feierlichkeiten bis zum privaten Geburtstag mit meinen im Kreis führenden Genossen an einem Tisch gesessen, einem Tisch, zu dem mir der Zugang verwehrt war. Weshalb solle ich, die ich bereit war, zu meiner Verantwortung zu stehen und nicht wie viele Tausende die Flucht in die Anonymität suche, aus dem Öffentlichen Leben ausgeschlossen werden, und Leute wie er, die staatstragende Verantwortung hatten, nur in anderer Partei, über mich rechten dürfen. Sich der Verantwortung entziehen.

Alle Anwesenden folgten meinen Worten aufmerksam. Die Vertreter der CDU und der Grünen wandten ein, dass niemand wolle, dass ich persönlich aus meinem Beruf gestoßen werde.

Die Entgegnung, dass dies die Konsequenz des vorliegenden Antrags sei, stimmte sie nachdenklich.

Der Antrag wurde mit den Stimmen von CDU, Grünen, meiner und anderen mehrheitlich abgelehnt.

Aus heutiger Sicht betrachtet, war dieser Runde Tisch ein Meilenstein in meinem politischen Handeln. Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein wurden wesentlich befördert.

Nach wie vor arbeite ich als Lehrerin, nun an einer Förderschule, bin Vorsitzende der PDS unseres Landkreises und Kreistagsabgeordnete. 


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