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Wer sich ans autobiographische Sagen macht, hat nicht bedeutend zu sein, aber was er sagt, sollte etwas bedeuten.
Hermann Kant, „Abspann"
Torsten Preußing
Soldat Büchel oder „lebenslänglich“
Gleich
mir gingen Anfang Januar etwa 150 andere Frauen und Männer durch den trüben
Morgen in die damalige Kufsteiner Straße, die heute in den Hans-Rosenthal-Platz
mündet, der unterdessen zur charakteristischen Adresse für den geschichtsträchtigen
Halbrundbau wurde. Wir kamen einzeln, nicht in Gruppen. Wir kamen aus allen
Himmelsrichtungen, aber von diesem Ort aus gab es immer nur eine und jetzt erst
recht für unsere Herkunft: den Osten. Schließlich lautete die von uns
verlassene Arbeitsanschrift: Nalepastraße 10-50, O-1160 Berlin-Oberschöneweide
- Hauptsitz des einstigen DDR-Rundfunks mit seinem letzten
„Spurenelement“, dem Deutschlandsender-Kultur. Sicherlich trug jeder auf
diesem Weg an neue Schöneberger Ufer die vielfältigsten Gedanken mit sich
herum, aber eins wird allen irgendwie einmalig und vielleicht auch nicht ganz
geheuer erschienen sein: „Wir erklimmen jetzt die Stufen zum RIAS Berlin,
einer freien Stimme der freien Welt.“ Und wir sollten Teil von ihm werden.
Dabei war natürlich von Rechts wegen der RIAS in dem Moment ebenso wie der
DS-Kultur von der Bildfläche verschwunden, da das Personal beider Sender sich
gemeinsam mit dem vom Kölner Deutschlandfunk anschickte, eine Radiostation mit
zwei Programmen für die gesamte Bundesrepublik Deutschland zu betreiben. Nach längeren
Verhandlungen hatte es die Ministerpräsidentenkonferenz der Länder so
beschlossen.
Aus drei mach’ eins: Das „DeutschlandRadio". Die „FRANKFURTER
RUNDSCHAU“ meinte dazu: „ Wenn aus drei Sendern ... ein nationaler Hörfunk
mit zwei Hörfunkprogrammen gestrickt werden soll, gibt es drei Möglichkeiten:
entweder man lässt einen Teil gänzlich verschwinden, belässt einen wie gehabt
und vereint zwei zu einem oder jedes der drei speckt etwas ab, so dass am
Schluss nur noch zwei übrig bleiben. Die dritte Alternative, zweifelsfrei die
demokratischste, würde die Gleichberechtigung der drei Sender voraussetzen. Da
es sich aber um zwei West- und einen Ostsender handelt, sind darob Zweifel
sicher berechtigt.“ (FR, 13. Mai 1992) Aber die Frage, wer da nun Teil von
wem zu werden hatte, geriet bei denen schnell in den Hintergrund, die vor allem
ihr Teil ab- und hernach in trockene Tücher bekommen wollten, ja, sie war für
sie gar keine Frage mehr.
Sollte der Traum doch noch wahr werden?
Mein Aufstieg währte zunächst am längsten. Er führte ins Dachgeschoss, wo sich das Domizil der Sportredaktion befand. Bereits im Herbst hatte es individuelle Gespräche zwischen DS-Kultur-Mitarbeitern und leitenden RIAS-Kollegen gegeben, deren Ziel darin bestand, das Oberschöneweider Personal in die vorhandenen bzw. künftigen Schöneberger Strukturen einzugliedern. Auch der Deutschlandfunk unterbreitete ähnliche Angebote für den Standort Köln. Und so begann jeder für sich abzuwägen, welcher Platz für ihn der rechte sei Besonders in der Redaktion Zeitgeschehen, zu der ich damals gehörte, begann erneut das Kartenmischen. Das war fast schon Routine, denn seit dem stürmischen Jahreswechsel 89/90 ist gerade dieser Bereich mehrfach neu- und umbesetzt worden, sodass er durchaus Züge eines Journalisten-Schmelztie-gels annahm, wo diese heiß gebadet und nicht selten gesotten und gewendet in zeitgemäßer Legierung zu neuem Leben erwachten. So fand sich plötzlich eine ehemalige Tanzmusikredakteurin als faktisch stellvertretende aktuell-politische Redaktionsleiterin wieder, nachdem sie zeitweise gar stellvertretende Chefredakteurin des gesamten Senders war. Eine gefällige Vormittagsplauderin auf früheren „bunten Wellen“ und liebevolle Betreuerin der Sendereihe „Wir über 60“ häutete sich zu einer der ersten und schärfsten Anklägerinnen in Sachen „stalinistischer Terrorherrschaft“ wider „die über 40“. Damit hatte sie freilich für die Fusion mit dem RIAS ein nicht nur gutes Blatt, sondern auch starke Trümpfe in der Hand, um bis zum heutigen Tag nicht passen zu müssen bzw. von Anderen in den Skat gedrückt zu werden.
An der Schwelle zum DeutschlandRadio wollte natürlich jeder im Spiel bleiben, meinte man doch, mit den letzten zwei Arbeitsjahren von 1992 bis 1993 im Deutschlandsender-Kultur unter dem Dach von ARD und ZDF bereits über den Hund gekommen zu sein, weshalb man den Sprung über den Schwanz sicher auch noch schaffen werde. Und in der Tat schien dieser Wechsel im Vergleich mit dem Eintritt in die öffentlich-rechtlichen Strukturen und die zeitweilige Aufnahme in die Personalrolle des Zweiten Deutschen Fernsehens (das klingt doch, oder?) ein Katzensprung zu sein.
Es war im Spätherbst 1991, als die Stellenausschreibungen im Berliner Funkhaus Nalepastraße öffentlich ausgehängt wurden und von der Weiterführung des DS-Kultur kündeten. Alle anderen Sender der „Einrichtung nach Artikel 36 des Einigungsvertrages“ - wie die verbrämte Bezeichnung für DDR-Hörfunk und -Fernsehen lautete - hatten gemäß dieser Festlegungen zu verstummen. Den Mitarbeitern, inklusive denen vom Deutschlandsender, war fristgemäß gekündigt worden. Doch uns blieb ja die Hoffnung auf die Stellenausschreibung, auch wenn beinahe das halbe Funkhaus darauf setzte. Immerhin kursierte bereits seit Januar dieses Jahres das Bonmot auf dem Flur „Wir hängen am dicksten Strohhalm. Aber es bleibt ein Strohhalm. Und wie schwimmt man an diesem um des Überlebens willen? Man strampelt nicht!" (Notiz aus der Redaktionssitzung „Klassisch aufstehen“ vom 14 1 1991)
Die in dieser Zeit angestaute Spannung und der permanent gewachsene Druck entlud sich binnen eines Tages, doch ohne Knall. „Heute kommt der Personalchef aus Mainz“, hieß es, „und dann werden wir erfahren, wer übernommen wird und wer nicht.“ Die mich betreffende Entscheidung erfuhr ich allerdings erst am Morgen des Folgetages gegen 3.00 Uhr. Und ich war noch nicht mal der Letzte. Dafür entschädigte mich die nächtliche Botschaft für die schier endlose Warterei. Ich durfte bleiben! Befristet. Bis zur Gründung eines nationalen Hörfunks.
Den ganzen Tag über bis in die Nacht hinein trieben damals Bangen und Hoffnung, Zuversicht und Verzagen mit uns ein zermürbendes Spiel, das keinerlei Müdigkeit aufkommen ließ. Da jubelten die Einen, die ihren Vertrag unterzeichnen durften. Aber sie jubelten nur mit den Augen, weil Andere schweigend ihrer Enttäuschung Herr zu werden suchten, da ihnen die z. B. angebotene freie Mitarbeit nach schleichender Entlassung roch. Am schlimmsten traf es aber wohl den bisherigen Chefredakteur Stefan Amzoll, der diesen Kultur-Kanal erst mit der Fusion der Sender Stimme der DDR und Radio DDR II zum Deutschlandsender-Kultur auf den Weg gebracht hatte. Er gehörte 1990 zu seinen Erfindern und Realisatoren. Doch was zählt der Ruhm von gestern? Amzoll war wohl politisch nicht kompatibel und deshalb abgelehnt worden. Mit schweren Schritten, gesenkten Kopfes und schlotterndem Mantel stieg er die Haupttreppe hinab, ohne eines Abschiedswortes fähig zu sein. Die Mehrheit aber konnte nach diesem Rekrutierungskreisel weiter machen. Die heutige Internet-Homepage des DeutschlandRadio nimmt von dieser Geschichte in ihrer Rubrik „Geschichte“ indes keine Notiz mehr. Vielmehr meldet sie wider besseres Wissen, der DS-Kultur sei „auf Beschluss des Runden Tisches“ entstanden. Die originäre Herkunft könnte wohl zu streng nach DDR riechen.
Die Mannschaftsaufstellung für das DeutschlandRadio war dann kein Personal-Roulette mehr. Je nach Neigung und/oder Eignung ging die/der Eine - wie z. B. mein Kollege Hans-Günther Möhricke - in das Metier zurück, in dem einst ihre/seine journalistische Laufbahn begann, Andere hingegen hatten noch einmal Lust bekommen, etwas Neues auszuprobieren. Während Günther also in die Nachrichtenredaktion wechselte, entschloss ich mich mit ziemlichem Fracksausen, an meinen Jugendtraum anzuknüpfen (vgl. „Spurensicherung III“, a. a. O. ). Ich meldete mein Interesse für den Sport an. Doch dahinter - und ich bin mir sicher, Möhricke hatte ähnlich gedacht - stand auch die Überlegung, im Beruf bleiben zu wollen, ohne sich politisch, weltanschaulich und charakterlich der vorherrschenden Windrichtung anpassen zu müssen.
Zu diesem Zeitpunkt leitete gerade Christian Fürstenwerth die RIAS-Sportredaktion (gerade wieder, muss es korrekt heißen). Zwischenzeitlich war er auf einen Hauptstadtdampfer aufgestiegen, der in den heftigen Stürmen der Bewerbungskämpfe um die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 2000 erst von der „Peking-Ente“ angekratzt wurde, bevor er an den Klippen von Sydney zerschellte. Als Pressesprecher gehörte Fürstenwerth zum Olympia-Werbekomitee, das die Spiele nach Berlin holen sollte. Dass daraus nichts wurde, ist sicherlich manchem hausgemachten Skandal aber nicht dem RIAS-Sportchef anzulasten. Vielmehr lernte ich ihn als sachlichen, selbstbewussten aber keineswegs überschäumend selbstgerechten Mann kennen, der überdies ein gutes Maß an gewinnender Freundlichkeit ausstrahlte. Außer den üblichen Grußworten war noch nichts weiter zwischen uns ausgetauscht worden, als der Sportchef mich mit Genugtuung musterte und sagte „Doch. Ja. Ich denke, das wird ‚was. Wir werden miteinander können.“ Ihm sei ein persönlicher Eindruck wichtig, das Gefühl beim Gegenüberstehen gewissermaßen, und in dieser Hinsicht sei er nun nicht unzufrieden.
Wir hatten uns etwa zwei Wochen vor dem ersten gemeinsamen Arbeitstag in einem kleinen Cafe - ich glaube - an der Wexstraße verabredet, gleich in unmittelbarer Nachbarschaft zum RIAS-Funkhaus „Vorstellungsgespräch“ wäre eine zu hochtrabende Bezeichnung für diesen Schnuppertreff. Doch auch ein Sportredaktionsleiter kauft nicht gern die Katze im Sack, und ein Telefongespräch ist kein Ersatz für den persönlichen Kontakt, zumal ich der einzige Bewerber für seinen Bereich war, obgleich ausgerechnet dort noch die meisten Leute hätten untergebracht werden können. Alles in allem tat mir diese runde Stunde mit Christian Fürstenwerth sehr gut. Doch wenn die Begegnung auch meine Unruhe vor dieser einschneidenden beruflichen Veränderung gemindert hat, mein Lampenfieber am ersten Werktag des Jahres 1994 war durch nichts zu vertreiben, auch dadurch nicht, dass ich neben Tasse und Löffel als Einstand ein Pfund Kaffee mit mir hinauf in die nunmehr Sportredaktion des DeutschlandRadio Berlin getragen hatte. Es wurde auch nicht geringer, als mich ihr Leiter mit einem burschikosen „Na, alles in Ordnung, Herr Preußing?“ begrüßte.
Sollte es ein Albtraum werden?
Trotz eines zugewiesenen halbwegs leeren Schreibtischs, einer intakten Kaffeemaschine, meiner Einstandsmischung und dem gleichsam hilfreichen wie geduldigen Sportkollegen Christe, der sich jeder Frage des Newcomers gewachsen zeigte, kam ich mir irgendwie vor wie Falschgeld. Selbst dass der minutiös für den gesamten Monat erstellte Dienstplan auch mir bereits für jeden Tag eine konkrete Aufgabe zuwies, ließ mich nicht ruhiger werden. Statt dessen griff mit wachsender Macht beklemmende Nervosität nach mir, die alte, große, tiefe Unruhe. Ein kurzer Telefonanruf hatte sie einen Monat zuvor ausgelöst und mir regelrecht ins Herz gebrannt. „Hier ist Appelt“, meldete sich der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung Reinhard Appelt, bekannt aus Funk und Fernsehen, hätte man zu besseren Zeiten gesagt. Und seine besseren Zeiten lagen fraglos bei ZDF und Deutschlandfunk, wo er Chefredakteur bzw. Intendant war und darüber hinaus mit Sendungen wie „Bürger fragen - Politiker antworten“ nicht wenig Publikum erreichte. Als aber seine alten Brötchengeber gemeinsam mit der ARD zeitweilig die Verantwortung für den Hörfunksender DS-Kultur übernommen hatten, erinnerten sie sich ihres Urgesteins und reaktivierten ihn für die Aufgabe des ZDF-Rundfunkbeauftragten. Gleiches tat die ARD, allerdings stellte sie mit Lothar Loewe ein im Pulverdampf des Kalten Krieges ergrautes Schlachtross an die Spitze und gab damit gleichermaßen Marschrichtung wie Ziel vor. „Auch wer nur einen Hauch Rosa mit sich herumträgt", so wurde er zitiert, „hat kein Recht darauf, im nationalen Hörfunk mitzuwirken." Ergo kamen die Weißmacher und Schwarzseher zur bevorzugten Wirkung. Im Grauschleicher der Beitrittsmasse stocherten sie unentwegt, solange die missliebige Farbe nicht aus dem Spektrum getilgt war. Höchstens leichte Grünstichigkeit wurde noch hingenommen. Und so entstanden bald ganze Spektralanalysen, die jeder „Multispektakelkamera“ hätten Konkurrenz machen können. Leute, die Luxaugen wie ein Adler hatten, lieferten den Stoff für die neuen Saubermänner, um den alten Schmuddelkindern an die eingefärbte Wäsche gehen zu können, gewissermaßen „mit Gaucken und Trompeten“, denn in eben dieser Behörde, die nach dem dort zu Chefehren gelangten Pastor Gauck benannt wurde, war aller Raster Anfang. Dort wandelten sich Akten in Äxte, Menschen in Monster, Aufstiege in Abgründe. Und alles tat sich beinahe gleichzeitig auf beim Stichwort- „Anhörung!", was explizit auch „Aufhörung“ einschloss, weil nur angehört wurde, wer irgendwie dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR als nützlicher Aspirant, Anwärter oder Akteur angehört hatte bzw. hätte angehören können und deshalb - vor allem im öffentlichen Wirkungsfeld - zwangsläufig aufhören musste, seines Amtes, Berufes oder Mandats zu walten, frei nach Karl May „Gauck, ich habe gesprochen „
Appelt nannte am Telefon dieses Stichwort, und er meinte mich, als er mir den Termin setzte, zu dem zu erscheinen er bat, um einer großen Anhörungskommission Rede und Antwort zu stehen. Nach Loewes Vorgaben gab ich kaum einen Deut auf die in Aussicht gestellte Einzelfallprüfung, aber andererseits fiel mir beim besten Willen nicht ein, was mir eigentlich vorzuwerfen war - außer dass ich weiland deutlich über Vierzig war („Trau keinem über 40“), mithin zur volksverbundenen, wissenschaftlich und parteilich orientierten DDR-Journalistengeneration gehörte, die sich als kollektiver Agitator, Propagandist und Organisator des sozialistischen Aufbaus verstehen sollte, so wie die heutige sich meinetwegen u. a. dem kapitalistischen Aufbau Ost verpflichtet sieht, ohne dies allerdings so offen und freimütig einzugestehen. Zwar hat es da mal Mitte der 70er Jahre den Versuch gegeben, mich für den verdeckten Einsatz in Westberlin und Westdeutschland zu gewinnen. Doch dafür war ich einfach ungeeignet und auch unwillig, was sich recht bald herausgestellt hatte. Trotzdem. Mir war speiübel. Die Kübel von Schmutz, Verleumdung und Verachtung, die über so genannte enttarnte Stasi-Spitzel bislang ausgeschüttet wurden, hatten ihre Wirkung hinterlassen. Ich sah mich deshalb schon am Pranger mit jedwedem Dreck beworfen. Ein Albtraum gewiss, doch vor allem war es der Anfang vom Ende meines Berufsweges als Rundfunkjournalist. Da reizte mich noch nicht einmal der Anhörungstermin dazu, in meinen Wermuts-Becher einen ansonsten stets gemochten Schuss Selbstironie hineinzugießen: 13. Dezember 1993 - Pioniergeburtstag.
Der Schuss wäre ohnehin nach
hinten losgegangen. Die Anhörungskommission war ein auf mich relativ groß
wirkender Kreis von Verantwortungsträgern des ZDF aus Mainz und des Berliner
SFB, die in diesem Fall die ARD vertraten. Und der einzige, der vielleicht
einmal unterm flatternden blauen Pionierwimpel mit dem Flammen gekrönten
Buchstabenpaar JP im Ferienlagerwind gestanden haben mag, war unser
Personalratsvorsitzender Torsten Kamin, ein grundsolider Kollege aus dem Bereich
Studiotechnik. Doch seine Rolle im Anhörungsgremium war die eines Zuhörers.
Womöglich
hatte er hinterher etwas zu sagen, aber das entzieht sich meiner Kenntnis. Das
Wort führte eindeutig der Verwaltungschef aus Mainz. Und der tat das in
Anbetracht des zu klärenden Sachverhalts auf angenehme Weise. Doch wie ich
diesen ersten Eindruck noch festzuhalten suchte und mich seine aktengestützten
Mitteilungen über eine mich betreffende Beurteilung aus den Tiefen der
MfS-Archive erreichten - Kommentar. „Dagegen können auch wir erst mal
nichts sagen, allgemein hört es sich gut an.“ - fiel mein Blick auf eine
Kopie, die meine Handschrift trug und von ihr den Namen „Senta“. Ich weiß
nicht mehr, wer sie mir unter die Augen geschoben hatte, aber eine Täuschung
war ausgeschlossen. Doch größer als über das Fundstück war mein Entsetzen
darüber, dass ich auf dem Weg zur Einvernahme meinte, jede Dunkelkammer meines
Herzens ausgeleuchtet zu haben und nun trotzdem völlig unerwartet unter vollen
Scheinwerfern ins Hinterstübchen meiner fast vergessenen Kasernenzeit gestoßen
ward. Und die war für mich eigentlich seit 25 Jahren abgehakt und verriegelt
wie die heilige Pforte am Petersdom. Nicht mal im Albtraum hatte ich an sie
gepocht, zumal dieser bereits Realität geworden war, bevor ich ihn überhaupt
zu träumen vermochte.
Soldat Buchet lässt grüßen und wer muss büßen?
Meine Armeezeit verbrachte ich am Dassower See, der als Ausbuchtung der Travemündung auch so etwas wie ein „Wurmfortsatz“ der Lübecker Bucht ist. Ich hatte mich für drei Jahre gemeldet. Aber nicht, weil ich musste, sondern weil ich mich vielmehr meiner Familientradition verpflichtet fühlte. Immerhin war mein Opa mütterlicherseits 1919 in Hennigsdorf bei Berlin Mitbegründer der KPD-Ortsgruppe und zuvor Wahlkampfhelfer von Karl Liebknecht. Und dem Karl Liebknecht, dem hatten wir’s ja geschworen, nicht wahr?
Auch dass ich in Grenznähe zur alten Bundesrepublik stationiert wurde, entsprach meinen Wünschen. Wer in seiner Kindheit - wie ich bis 1961 in dieser Kleinstadt am unmittelbaren Nordwestrand Berlins - die verhängnisvollen Wirkungen offener Grenzen auf Charaktere, Lebenslagen und Gefühlswelten selbst körperlich gespürt hatte, den brauchte man nicht großartig über die Rolle und Bedeutung sicherer Staatsgrenzen zu agitieren. Außerdem: Die großen Kasernen der NVA-Landstreitkräfte - wie etwa Eggesin, Karpin, Torgelow oder Oranienburg - wirkten auf mich furchteinflößend militärisch. Die Unterkünfte der Grenztruppen hingegen muteten im Vergleich dazu beinahe familiär an. Sie waren ja auch für viel kleinere Einheiten in den von ihnen zu überwachenden Abschnitten errichtet worden. Aber selbstverständlich gelangte man nicht gleich beim ersten Anlauf in eine Grenzkompanie. Ob Freiwilliger oder Wehrpflichtiger, zuerst musste jeder das Ausbildungsbataillon durchlaufen, und das dauerte ein halbes Jahr. Aber auch hier - im ABB 6 des Grenzregiments 6, in das ich am 2. Mai 1966 eingezogen wurde - war die dezentrale Lage der Kompanien charakteristisch. Die drei Kasernen in Siems bei Schönberg und Dassow in Nordwestmecklenburg trennten gut und gerne 10 bis 12 Kilometer. Und nach der Ausbildung erfolgte in der Regel die Versetzung in eine der neun Grenzkompanien des Truppenteils.
Dieser Umstand ist unterdessen in den nach wie vor aufgeregten und häufig unsachlichen Grenzdebatten völlig ausgeklammert, aber im Vergleich zum heutigen Grenzschutz erscheint er mir notierenswert: Das Gros der DDR-Grenzsicherung an vorderster Linie wurde ab 1962/63 von Wehrpflichtigen gewährleistet. Ein Jahr lang zogen sie in der Regel gemäß den gesetzlichen Bestimmungen auf Posten, um hernach wieder in ihre angestammten Berufe und Heimatorte zurückzukehren. Die länger Dienenden waren in der gleichen Zeit zu Unteroffizieren ausgebildet worden und traten ihren Dienst als Gruppenführer an. Ich machte da keine Ausnahme, allerdings verschlug es mich nicht an die Grenze, sondern ich blieb sozusagen im Dorf, zog lediglich von einem Rand an den anderen, und zwar vom östlichen zum südlichen der kleinen Ackerbürgerstadt (etwa 4.000 Einwohner), deren Attraktion „die letzte Tankstelle in der DDR“ war. Gemeint war die letzte vor dem Grenzübergang Selmsdorf. Das war eine Doppel-Zapfsäule, die sicher auch berechtigte Ansprüche auf das ergänzende Schmuckwort „die Allerletzte“ hätte geltend machen können. Auch meine neue Kaserne versprühte den Charme einer in die Jahre gekommenen Schönheit und den Reiz zerbröckelnder Schminke. Als Schloss Lütgenhof einst samt Gesindehaus und Nebengelass erbaut, hatten die Quartiermeister das zwischenzeitlich herrenlose Areal für die Rekrutenausbildung der 2. und 3. ABK auserkoren. Die zuletzt genannte Ausbildungskompanie war in dem ehemaligen Gutsarbeitergebäude untergebracht, und als junger Unteroffizier wurde ich ihr zugeteilt. „Gleich und gleich gesellt sich gern“, wird das Motto nicht gewesen sein, aber das Stammpersonal machte es mir leicht, mich zumindest wie unter Gleichgesinnten gut angenommen zu fühlen, vom Kompaniechef Manfred Fischer bis zum Spieß Edgar Dornau. Der Eine verkörperte die vierschrötige aber herzliche Art der Erzgebirgler, der andere war ein schlaksiger Mecklenburger Hagestolz, der es mit seinem unverwüstlichen Motorrad AWO zu einigem Ansehen gebracht hatte und über eine dialektgeprägte Stimme verfügte, bei der man nicht wusste, ob man lachen oder zusammenzucken sollte. Doch mit seiner feinen Ironie erreichte er mehr als all die schnarrenden Kasernenhofwächter, die sich gern „Mutter der Kompanie“ nennen ließen aber als „Stiefmutter der Soldaten“ nicht selten viel Unheil anrichteten. Überdies war ich mit meinem Kumpel Wolfgang Haack von der U-Kompanie, einem Hochseefischer aus Rostock, zusammen geblieben, was das Einleben spürbar erleichterte. Er hatte mir, dem schwärmerischen Pennäler, der gerade den Abiturprüfungen entsprungen war, schon auf der Unteroffiziersschule geholfen, die ärgsten Klippen zu umschiffen. Dass der gleichaltrige Haack bereits vor den Labradorinseln so manchen Sturm erlebt und sein jugendliches Mädchen im heimatlichen Hafen geschwängert hatte, bevor er zur Fahne eilte, verlieh ihm in meinen Augen eine Aura von Manneskraft und Schutzpatron. Gelegentlich hatte ich beides nötig und bediente mich ihrer, besonders eben während der Unteroffiziersausbildung, die zum Beispiel auch von einem ganz anderen Typ von Hauptfeldwebel beherrscht wurde.
Er hieß Schmolinski und verteilte seine Sympathiewerte nach dem Grad der Schulabschlüsse seiner Unterstellten, natürlich gemessen an seinem eigenen. Je weiter einer nun von diesem entfernt war, desto schlechter dessen Karten beim Morgenappell und überhaupt. Mit Abitur gehörte ich nach seinen Maßstäben gewiss auf einen anderen Stern, und ich wollte ja noch weiter. Schmolinski hingegen hatte achte Klasse. Und so erhärteten die täglichen Gesichts-, Stiefel- und Kragenbindenkontrollen mit der Anzahl ihrer Wiederholungen seine eherne Gewissheit: „Je höher die Schulbildung, desto schmuddeliger werden die Leute.“ Hauptfeldwebel Dornau hätte dagegen nur kurz gesagt: „Genosse Preußing, Sie müssen die Kragenbinde teeren, da kommt schon das Weiße durch!“ Und der Chef der U-Kompanie war aus dem gleichen Holz geschnitzt wie sein Spieß, nur konnte er wesentlich fieser als dieser reagieren. Als er mich drängen wollte, noch vor Ablauf der Ausbildungs- und Wettbewerbsperiode meine Aufnahme als Kandidat in die SED zu beantragen, ich unter Verweis auf meine Jugend und geringe Lebenserfahrung aber ablehnte, fuhr er mich an: „Sie haben doch nur Angst, dass es einmal anders kommt!“ Da war doch klar, dass ich fast gleichzeitig mit der Meldung bei Oberleutnant Fischer in der 3. Ausbildungskompanie um einen Aufnahmeantrag bat, damit er dieser „Schweinebacke“ (ein „Kosename“, der dem Hauptmann seit U-Schüler-Gedenken anhaftete) die Wettbewerbspunkte, die es auch dafür gab, wegschnappen konnte. Selbst die kleine Rache kann so süß sein.
Haacki und ich waren also nahezu glücklich, bei diesem Lütgenhofer Gesinde Aufnahme gefunden zu haben. Dabei kam uns noch nicht mal die Spur des Gedankens: „Warum haben sie uns eigentlich nicht an die Grenze geschickt?“ Dass ich neben dem Politstellvertreter des Kommandeurs der einzige Abiturient im Bataillon war, erklärte mir alles. So sahen wir unseren ersten Soldaten fraglos auch ohne Zweifel erwartungsfroh entgegen.
Manöverpause. Erster von links (mit Mütze) Hauptfeldwebel Dornau; vor ihm, in die Kamera schauend, der Autor 1968
Der erste Schub kam aus dem
Raum Aue-Schwarzenberg. Wir wollten es kaum glauben. Das konnte eigentlich nicht
wahr sein. Vom äußersten Südosten der Repu
Ein halbes Jahr später schien beim VEB Landesverteidigung, Abt. Streuung, der Groschen gefallen zu sein, zwar pfennigweise aber immerhin. Man schickte uns Wehrpflichtige aus dem Hinterland. Aus Rostock, Laage, Schwaan, Stavenhagen, der Reuterstadt, usw. Und die „Fischköppe“ waren uns genauso lieb wie die „Schluchtenjodler“ vom Schwarzwassergrund, wo die Hasen Husen und die Hosen Hasen haßen. Einer von den zehn, die im Frühjahr 1967 in meine Gruppe kamen, war ein flachsblonder, beinahe schüchterner Bursche mit blauen Augen, der geradezu die Inkarnation des „Jungen von der Waterkant“ hätte sein können: Das war der Soldat Büchel aus Rostock, ich glaube, damals 19 Jahre alt. Und hätte ihn jemand „Milchbart“ genannt, was allerdings keiner tat, Büchel hätte darüber nur still gelächelt. Mit der gleichen Gemütsruhe ließ er sich Uniform und Ausrüstung verpassen, Stube, Spind und Bett zuweisen sowie ohne Murren die ersten launigen Hinweise auf die nicht gerade bequemen Gepflogenheiten in einer Ausbildungseinheit der Grenztruppen über sich ergehen. Während andere „Frischlinge“ froh waren, am Ende des militärischen Einstandstages endlich auf die Matratze fallen zu können, setzte sich Soldat Büchel an den Tisch, nahm Kuli, Ansichtskarte und Briefmarke zur Hand, notierte das für ihn wesentliche Ereignis des Tages, fügte herzliche Grüße sowie die Adresse hinzu und steckte dieses, sein erstes militärisches Lebenszeichen in den Kompaniebriefkasten, der täglich vom Hauptfeldwebel geleert und dessen Inhalt von ihm geprüft wurde, ob die Kuverts auch richtig beschriftet waren und meinethalben die offen zu lesenden Karten ja keine militärischen Geheimnisse in die öffentliche Umlaufbahn brachten. Am nächsten Morgen - Büchels zweitem Diensttag von etwa 545 - landete die Karte auf dem Tisch von Hauptfeldwebel Dornau, und womöglich dachte er in diesem Augenblick für sich: Guck an, Soldat Büchel lässt grüßen - das wird er sicher büßen.“
Soll das eine Provokation sein?
Was sich dem Spieß an jenem Morgen mitten in der Post auftat, war weder Abgrund noch ein Entsetzen. Es war vielmehr blankes Staunen. In seinem Briefkasten fand sich eine Ansichtskarte im klaren Schwarz-Weiß-Look der sechziger Jahre („echt Foto“) aus Rostock an der Warnow, die er gemäß Anschrift weiterbefördern lassen sollte nach Hamburg an der Elbe. Absender: Soldat Büchel, Postfach, 2424 Dassow. Erste gedankliche Regung: Das kann doch nur ein Lausejungenstreich sein, dass der Bursche in sauberer Handschrift seiner Hamburger Cousine mitteilen will, er könne ihr in den nächsten 18 Monaten nicht mehr schreiben, da er in dieser Zeit seinen Wehrdienst nicht weit von Lübeck entfernt ableisten müsse. Aber weiß man’s? Natürlich nicht. Also entlud sich das gebündelte Misstrauen, das dieser Staat schon beizeiten über seine tragenden Teile wie Mehltau gelegt hatte, im Angesicht des scheinbar explosiven Schriftstücks mit gebieterischer Schärfe. „So dumm kann niemand sein, so naiv und unbedarft, hier nicht das Provokativ-Demonstrative seines schmählichen Tuns zu erkennen!“ Die Karte wurde mehr und mehr zum Brandsatz, an der sich die Kompanieführung zu verbrennen drohte. Denn wenn etwas noch tabuer als tabu war in all den Gliederungen der Landesverteidigung, dann war es die wie immer geartete „Kontaktaufnahme mit dem Gegner“. Meldung musste gemacht werden, immer höher, immer weiter auf dem Dienstweg - doch nie und immer durfte diese Sendung auf den Postweg.
Der Kartengruß nach Hamburg blieb Thema des gesamten Ausbildungshalbjahres. Doch während wir niederen Chargen gelassen und auch ein bisschen diebisch vergnügt Büchels Unbefangenheit und Arglosigkeit besprachen, einen NVA-Briefkasten als Postreiter in den Westen zu benutzen (zumal gerade dieser Soldat im Dienst keinerlei Anlass zu Beschwerden gab, im Gegenteil, alle Ausbilder waren des Lobes voll), während dessen zog die entlarvende Kartenbotschaft ihre immer breitere Bahn durch alle Sicherheitskreise. Weder Bataillonsstab noch diverse Sicherheitsinstanzen des Regiments blieben davon unberührt. Und je näher das Ausbildungsende und damit die Zeit der Versetzung an die Grenze heranrückte, desto deutlicher zeichnete sich die offizielle Haltung ab, Soldat Büchel sei an der Staatsgrenze nicht zu halten, jedenfalls an der westlichen. Denn wer solche Karten auf den Weg bringe, der möchte sicherlich hinterher. Doch da stehen wir aber davor!
Ich erinnere mich, in diesem Jahr als unmittelbarer Vorgesetzter immer wieder einvernommen worden zu sein, meistens von Politoffizieren aus dem Bataillon. Und immer wieder redete ich mir beinahe Fusseln an den Mund, dass man dem Büchel wie jedem anderen vertrauen könne. Wenn er wirklich so ein Fiesling wäre, der nur auf den Absprung über den Zaun lauerte, dann hätte er doch nie und nimmer ein so dreistes auffälliges Signal dafür gegeben. Aber warum hat er denn der Hamburger Dame nicht noch von zu Hause aus geschrieben, bevor er eingerückt war? Büchel selbst meinte auf Befragen, an diese „blödsinnigen“ Zusammenhänge gar nicht gedacht zu haben. Ihm sei nur eingefallen, dass die sich hätte wundern können, plötzlich keine Post mehr von ihm zu bekommen. Und ergo standen wir wieder am Anfang und hielten bei der Meinung unserer Obrigkeit: „So blöd kann einer alleine nicht sein! Da steckt mehr dahinter, deshalb setzen wir uns keine Laus in den Pelz.“
Diese Auffassung widersprach völlig meinen Erfahrungen, die ich mit Büchel selbst im dicksten Schlamm und bei anstrengendsten Bataillonsübungen gemacht hatte. Ich meine noch heute, obwohl ich ihm nie wieder begegnet bin: Der Junge war schwer in Ordnung. Folglich gab ich mich auch nicht mit der Entscheidung zufrieden, ihn zum Dienst an die Grenze zu Polen abzuschieben. Damit wäre er doch - so meine Befürchtung - gezeichnet fürs ganze weitere Leben. Niemand könnte mehr in seinem Falle so recht von Ehrendienst reden. Und dann erst seine Kollegen zu Hause ... Aber mit diesen und anderen Bedenken durchzukommen hatte ich keine Chance, ich war ja auch nur Unteroffizier. Doch einer wenigstens ließ mir recht lange das Gefühl, nicht aussichtslos zu strampeln. Es war ein Offizier aus dem Bataillonsstab, der meinen Berlin-Brandenburger Dialekt sprach, und darüber hinaus dadurch auffiel, dass eine braune Lederjacke mit Schulterstücken seine Dienstuniform komplettierte. Er bot den Anblick legendärer Politkommissare der Roten Armee im II. Weltkrieg, aber er war das natürlich nicht. Der Leutnant war der Sicherheitsoffizier des Bataillons, gestellt vom Ministerium für Staatssicherheit und seit Büchels „Briefkastenbombe“ ließ er sein besonders wachsames Auge auf unserer Kompanie ruhen.
Für Büchel verdeckte Buße tun?'
Vielleicht zwei oder drei Mal hatte ich nach diesem einzigartig unerhörten Vorfall für meinen inkriminierten Unterstellten eine schriftliche Beurteilung zu verfassen. Dennoch variierte ich die Schriftstücke lediglich stilistisch und kam immer zu dem gleichen Schluss, Soldat Büchels Einsatz an der Westgrenze aus meiner Sicht als Gruppenführer für unbedenklich und begrüßenswert zu erklären. Ich weiß nicht, was mehr wog: Meine Unnachgiebigkeit im Urteil oder aber die Fähigkeit, Beurteilungstexte stilistisch zu variieren, bzw. überhaupt in der Lage zu sein, solche Sachen zu verfassen, egal, der Lederjacken-Leutnant ließ mich bald wissen, dass auch die anderen Einschätzungen, die ich - wie jeder andere Gruppenführer - in Zusammenarbeit mit dem Zugführer am Ende der Ausbildung über die mir unterstellten Soldaten abzugeben hatte, für ihn sehr hilfreich seien. Mit meiner Unterstützung könne er sich sogar vorstellen, künftig solche Peinlichkeiten wie mit diesem unmöglichen Rostocker Kartenschreiber auszuschließen, was natürlich nicht hieße, Abstriche an Wachsamkeit und innerer Sicherheit hinzunehmen. Doch rechtzeitige Information ist eine wesentliche Bedingung dafür. Und er hätte es gern, könnte ich ihm bei Gelegenheit solche Beurteilungen über die Kompanie und ihre Angehörigen schreiben. Zur Untermauerung seiner Bitte konnte er gewichtige Argumente aus der täglichen Sicherheitslage an der Grenze anführen bzw. einzelne Details über die Anfechtungen zum besten geben, denen die Posten im unmittelbaren Grenzabschnitt ausgesetzt waren. Geradezu klassisch ist dabei die Anekdote zu nennen, der niemand ausweichen konnte, der in den sechziger Jahren in den Bereich des Grenzregiments 6 einberufen wurde. Sie behandelt ein hochnotpeinliches Vorkommnis, das vor allem die 1. Grenzkompanie in Pötenitz wochenlang in Aufregung gehalten haben soll. Diese Kompanie hatte einen mehr als zwanzig Kilometer langen Grenzstreifen zu bewachen, der an der Ostsee gegenüber von Travemünde begann und im Süden am Dassower See endete. Aber nur zwei- bis dreihundert Meter davon waren echte Landgrenze. Das war die alte Trennlinie zwischen Mecklenburg und Schleswig-Holstein auf der zu Lübeck gehörenden Landnase Priwall. Und jedes Mal, wenn die Pötenitzer Grenzer ihren Kontrollgang unternahmen, mussten sie an einem kleinen Wachhäuschen des BGS (Bundesgrenzschutz) vorbei. Da die Beamten von der anderen Feldpostnummer natürlich die rigorosen Schweigsamkeitsgelübde der „Stoppelhopser von drüben“ kannten, bereitete es ihnen einen Heidenspaß, diese auf die Probe zu stellen. Geeignete Mittel hatten sie {nicht wenige - von Apfelsinen bis Apfelkorn u. Ä. Es war nur eine Frage der Zeit, bis so ein unauffälliger Zwischenstopp zu Stande kommen sollte. An dieser Stelle verfallen dann die Anekdotenerzähler ins Schwärmen und mit jeder Wiederholung wuchs das Ausmaß des Gelages, stiegen die Mengen des Konsumierten und mit beidem nahm , die Abgefeimtheit der Gastgeber vom weißen Bundesadler zu. Das habe sich besonders darin gezeigt, dass sie - man will es kaum glauben - die gehobene bis ausgelassene Stimmung dazu nutzten, ganz beiläufig all die Widrigkeiten des DDR-Grenzerlebens nicht nur zu erfragen, sondern gleich auch zu verdammen. Wie die unsäglichen Leuchtsignale, die z. B. die Alarmgruppe an die Grenze beorderten oder andere Ereignisse vermeldeten, in deren Folge sofort die ganze Kompanie alarmiert werden musste - auch und gerade, wenn es in tiefer Nacht geschah. Von da an - ging mein Leutnant zur Pointe über - sollte es für Pötenitz allerdings keine tiefe und schon gar keine ruhige Nacht mehr geben. Auf dem nahen Priwall spielte man mittels BGS-Leuchtpistolen immer wieder die gesamte Alarmklaviatur der 1. Grenzkompanie herunter und die reagierte stoisch arglos wie antrainiert, von ein Stern rot bis fünf Stern grün. Es habe lange gedauert, ehe jemand ahnte, dass da etwas nicht stimmte, und noch länger bis herauskam, wer und was da nicht stimmte.
In der Quintessenz hieß das: „Der Anschiss lauert überall. Deshalb Augen auf, um vor dem Schaden klug zu sein.“ Für mich eine einleuchtende Folgerung, auch deshalb, weil mich mein mutmaßlicher Anteil an dem Schaden belastete, den der Soldat Büchel wegen dieser Postkarten-Schnapsidee zukünftig wohl würde auszubaden haben. Es kann natürlich auch sein, dass er, an die Ostgrenze verbannt, seine Wehrdienstzeit bequem auf einer Arschbacke abbrummte. Aber auf wesentlich längere Zeit erwartete ihn sein Betrieb, namentlich in Gestalt von Kaderleiter, Parteisekretär, Gewerkschaftsonkel, FDJ-nik oder meinethalben DSF-Kassierer (DSF - Gesellschaft für deutschsowjetische Freundschaft). Ich meinte förmlich sehen zu können, wie die guckten, wenn Büchel von seinen Deichläufer-Touren an der Oder berichtete, und sie ihn doch beim selbstlosen Schutz des friedlichen Aufbauwerks in der bedrohten Hauptkampfrichtung wähnten. Eine weitere ungerechtfertigte Verurteilung schien mir ebenso unausweichlich wie die mich immer wieder bedrängende Frage, ob ich nicht doch noch mehr hätte für Büchel machen können (vor allem am ersten Tag). Und so lief der Leutnant von „Horch&Guck“ schließlich halboffene Türen bei mir ein, als er mich für künftig reale, von niemand anderem sonst wahrgenommene Soldatenanalysen gewinnen wollte. „Verdeckte Buße für Buchel, warum nicht?“, das war meine Selbstmotivation wie auch -rechtfertigung, wiewohl zu der Zeit kaum einer auf die Idee gekommen wäre, Rechenschaft von mir zu fordern. Doch die Truppe auch von innen her unangreifbar zu halten war für mich so selbstverständlich wie auch immer wieder notwendig, und ich willigte ein, das mir mögliche beizutragen.
Erleichtert - doch wie weiter?
Die hochrangige Anhörungskommission in den Räumlichkeiten der alten DS-Kultur-Chefredaktion hatte mich kaum unterbrochen, als ich ihr diesen Werdegang schilderte, der in den handgeschriebenen Zettel mündete, von dem ich kein Auge lassen konnte. Der Wortführer zitierte Passagen aus zwei von mir verfassten Soldateneinschätzungen, die er für nicht anrüchig lediglich für erklärungsbedürftig hielt, weil sie „das FDJ-Leben“ in einer Kompanie betrafen. Allein das hatte nichts zu besagen, entscheidend war einzig und allein das Schriftstück, das die weithin Angst einflößende Überschrift „Verpflichtungserklärung", meine Unterschrift und den Tarnnamen „Senta" trug, damit auch wirklich kein Außenstehender Wind von der Sache bekommen konnte. Dabei erhellte mir dieser Name - in der Konfrontation 25 Jahre später - meinen damaligen Reifegrad, immerhin war ich noch nicht mal 21. Wir hatten im Gras des Übungsplatzes Holm gesessen und mein Leutnant meinte, um der Form Genüge zu tun, müsste ich mir - neben der Verschwiegenheitserklärung - auch einen Decknamen zulegen. Ohne zu zögern, nannte ich „Senta“, denn das war die Hündin, mit der ich aufgewachsen bin, ein englischer Wels-Terrier, den meine Mutter wie einen Menschen behandelte (heute weiß man ja sicher, dass die Hunde die besseren Menschen sind). Und es hat mich zutiefst berührt, dass ich es war, der sie auf ihren letzten Weg zum Einschläfern beim Tierarzt bringen musste. Die Wirkung war eine so nachhaltige, dass ich ehrlich meinte, mit dieser Namenswahl das Andenken an die Spielgefährtin meiner Kindheit ehrenvoll zu bewahren.
Vor dem erlauchten Kreis von Verwaltungsleitern und Personalchefs bzw. -räten konnte ich am Ende des Jahre 1993 damit natürlich noch nicht mal ein gutes Wort für mich einlegen geschweige denn Ehre. Aber angesichts der vordergründigen und Klischee beladenen Pauschalverurteilungen, der zügellosen Verteufelung all derer, die auch nur in den Dunstkreis des Staatsicherheits-Ministeriums geraten waren, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, trotz allem keine traurige Figur abgegeben zu haben und auch vorurteilsfrei angehört worden zu sein. Eine Entscheidung fiel jedoch nicht. Ich durfte weiter arbeiten und die letzten Sendungen des letzten DDR-Senders mitgestalten. Dennoch fühlte ich mich erleichtert, und dass mir der ZDF-Beauftragte für den DS-Kultur, auf dem ich nach der Anhörung im Vorzimmer traf, sogar die Hand drückte, ließ fürs Erste jede Last von mir abfallen und löste den Druck in der Brust.
So kam Weihnachten, der Jahreswechsel, ein paar Urlaubstage zwischen beiden. Alles lief so, als sei nichts geschehen. Dabei war auf dem Gang und in den Studios schon längst gemunkelt worden, dass selbst der letzte Kabeltrommelträger aus den Nachrichteneinheiten der Grenztruppen, der jetzt als Strippenzieher in der Studiotechnik wirkte, zur Anhörung einbestellt, für den neuen Sender aber nicht mehr eingestellt worden sei. Nichts von dem widerfuhr mir. Im Gegenteil. Am Montag, dem 3. Januar 1994, stieg ich dem RIAS unters Dach, setzte mich an einen Schreibtisch der Sportredaktion und erst die Frage des Chefs ließ mich knabbern: „Na, alles in Ordnung, Herr Preußing?“
Sicher wusste Christian Fürstenwerth schon an diesem Tag das, was mir bei seiner Frage nur schwante. Als ich vom ersten Arbeitstag endlich nach Hause kam, schien es auch für mich zur Gewissheit zu werden. Die Post benachrichtigte mich, ein Einschreibebrief sei für mich eingegangen und in der für mich zuständigen Filiale ab dem Folgetag abholbereit. Darum führte an diesem Dienstag mein erster Weg zur Post. Das Einschreiben war von außen gesehen ein weißer Brief, und doch war er für mich sofort ein blauer. Das sagte mir mein Gefühl, mit bloßem Auge erkennbar war es nicht. Das Kuvert wies nicht einmal einen Absender aus. Doch der Poststempel vertrieb alle trügerischen Hoffnungen. Die Postleitzahl war die von Berlin-Karlshorst, und dort wohnte die Chefsekretärin, also die Sekretärin der Beauftragten von ZDF und ARD, Appelt und Loewe. Es gab wohl kein Entrinnen, gleichwohl die Zustellungsart recht eigenartig anmutete. Dafür war der Inhalt, am 31.12.1993 auf formlosem Bogen mit einer elektrischen Schreibmaschine aus DDR-Produktion geschrieben, eindeutig: „Gemäß § 3 Ihres Arbeitsvertrages“, so hieß es im Namen von ZDF und SFB (für die ARD), „endet dieser für den Fall, daß das Deutschlandradio seine Funktion aufnimmt. Dies ist zum 31.12.1993 der Fall. Wir teilen Ihnen hierdurch mit, daß eine Übernahme zum Deutschlandradio nicht möglich ist.“
Der Rest war Telefonsache, ein kurzer Abwasch für den Redaktionsleiter: „Leider ist keineswegs alles in Ordnung. Ich bin nicht übernommen worden und werde statt in die Redaktion nun zum Arbeitsamt fahren.“ Keine weiteren Fragen, ein Gruß noch und beste Wünsche für die Zukunft, Kulanz in Reinkultur. Selbst das Entlassungspapier verwies mit keiner Silbe auf den wahrscheinlichen Hintergrund dieser Entscheidung. Dass sie aber sozusagen auf dem letzten Drücker gefallen war, machte mich auch nicht froher, selbst wenn man meinetwegen erklecklich mehr Zeit gebraucht haben mag, um zu einem Urteil zu gelangen. Es änderte nichts daran, dass nun ich „der Buchel“ war, bei dem Pro und Contra in Größenordnungen aufeinander trafen und letztlich die Furcht vor der „Laus im Pelz“ den Ausschlag gab. So charakterisiert, wenn auch nur für Eingeweihte, fühlte ich mich fortan für den Rest des Lebens gezeichnet und war selbstredend für den öffentlich-rechtlichen Medienbereich suspekt, weil zudem jederzeit angreifbar.
Oft entpuppt sich der Rest des Lebens als der längere Teil, sagt man, doch auch diese Länge wird kaum reichen, die Einsicht zu befördern, dass es nicht nur eine Akte ist. Erst die vermeintlich lockenden Verwertungsmöglichkeiten der Delinquenten schaffen solchen Überlegungen Raumgewinn. Leute wie Ingo Dubinski und Hagen Bostorf beim ARD-Fernsehen, die jung und biegsam genug waren, konnten in letzter Zeit davon profitieren, während Dutzende namenlose Mitarbeiter beim Mitteldeutschen Rundfunk dennoch oder vielleicht gerade deshalb noch am Beginn des 21. Jahrhunderts durch die entwürdigende Überprüfungsmühle gejagt und mit der Stasi-Keule auf Trab gehalten oder vor die Tür gesetzt, in jedem Fall aber recht erfolgreich diszipliniert wurden. Doch so wenig ich mich von einem machtbesessenen Kompaniechef 1966 der Angst zeihen ließ, „dass es einmal anders kommt“, so gering war meine Neigung 1994 ausgeprägt, mich dafür zu krümmen, dass ich zwischen 1967 und 1968 etwa anderthalb Jahre meinem Berliner Lederjackenleutnant zur Hand gegangen bin. Auch käme es mir nicht in den Sinn, das wundersame Soldatenkindchen Büchel dafür zu verdammen, dass es an seinem allerersten Wehrdiensttag nichts Besseres anzufangen wusste, als schnell noch per Post nach Hamburg seine künftige Unerreichbarkeit zu melden und damit eine Lawine loszutreten. Darauf nun aber „lebenslänglich" sitzen zu bleiben, mag der Eine komisch, der Andere tragisch empfinden. Ich neige jedoch mehr und mehr zu der Meinung: „Bloß gut, dass es so gekommen ist.“ Allein die vorgeschobenen Wutausbrüche wie der einer 65-jährigen Frau aus Woltersdorf, den die SUPER-ILLU mit Hochgenuss im Schokoguss präsentierte, können mich noch in die Wolle bringen - Zitat: „Mit Hilfe der Stasi hätten wir ein schönes Leben führen können! Wer damals zur Stasi ging, hatte nur seinen eigenen Vorteil im Auge. Wir sind mittlerweile Rentner und kämpfen in diesem Staat ebenfalls wieder ums Überleben (Abwasser- und Straßengebühren). Aber diese Leute leben heute wieder wie die Made im Speck! Wo bleibt da die Gerechtigkeit?“ ( SUPER-ILLU, Nr. 15/01 - 5. April 2001, S.24)
Die Stimme des Volkes kann
sich nicht irren. Bloß auf wessen Stimme hört das Volk? Nach dieser Lesart bin
ich von der „Laus im Pelz“ zur „Made im Speck“ avanciert. Allerdings
bekomme ich mal durch ABM und mal durch SAM mein Fett, aber - um der
Gerechtigkeit willen - das lasse ich mir, auch wenn es ziemlich dünn
aufgetragen
ist, nicht madig machen.
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