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Luise
Pansegrau
Rausgeworfen
In den frühen 60er Jahren erhielt ich - unterschrieben und gestempelt - Mitteilung vom Kreisschulamt, daß ich als Halbtagsarbeitende zum 1.9. aus dem Schuldienst entlassen wäre. Ich legte den Brief zur Seite und widmete mich weiterhin der Babyversorgung (1 1/2 Jahre und 9 Monate), ich kann mich nicht erinnern, auch nur ein wenig erregt gewesen zu sein. Als mein Mann kam, fand er den Brief und fragte: „Du bist entlassen?“ „Ja!“ „Und?“ „Nichts, sie werden es sich schon überlegen.“ Beide wandten wir uns häuslichen Pflichten zu. Einige Wochen später suchten mich zwei Herren draußen auf dem Hof auf. Ich war dabei, Windeln aufzuhängen und hatte kein Klingeln gehört. Sie entschuldigten sich vielmals wegen des ominösen Briefes, der Inhalt wäre falsch, ungesetzlich. Er hätte mich doch hoffentlich nicht in Aufregung versetzt?“ „Keinesfalls.“ Sie verabschiedeten sich.
Ein Mitarbeiter des Schulamtes verlor sein Aufgabengebiet, er nahm deshalb ein Fernstudium auf.
Etwa 30 Jahre später erreichte mich eine Einladung zu einem Gespräch im Kreisschulamt. Ich vermutete, es ginge um eventuelle Arbeit für die Staatssicherheit der DDR, die bei mir nicht vorlag. Ich hatte vor einer Tür zu warten, bevor ich herein gerufen wurde. Um einen Tisch herum saßen Damen und Herren. Ich glaube, mir waren alle unbekannt. Vielleicht wurden sie mir vorgestellt, ich weiß nur noch das Wesentliche. Ich sei ja nun alt und müßte mit der Arbeit aufhören. Eine schwerwiegende Angelegenheit sei auch noch, daß ich nur ein Fach (Germanistik) studiert hätte. Also, es wäre ja nun wohl selbstverständlich, daß ich meinen Dienst beendete.
36 Jahre Arbeit waren wertlos geworden. Aber - ich wehrte mich wie ein Löwe; eine Pastorin äußerte Verständnis für meine Lage. Dann blieben alle Anwesenden stumm, ich glaube, mir wurde nur noch ein Termin genannt.
Draußen wartete mein Mann. „Rausschmeißen wollen sie mich!“ Er erschrak. Wir setzten uns beide ins Auto, um nach Hause zu fahren. Wir schwiegen. Ein Ruck, ein Krach, irgend etwas war uns passiert. Ein Bekannter mit seinem Auto! Wir überzeugten uns, daß an beiden Fahrzeugen Schrammen entstanden waren. Der Geschädigte meinte: „Fahrt ruhig nach Hause, es ist nicht schlimm.“ Erleichtert taten wir es. In der folgenden Nacht schlief ich wenig. „Das lasse ich mir nicht gefallen!“ beschloß ich.
Am nächsten Vormittag rief ich bei der Landesregierung an und erkundigte mich, ob es wahr sei, daß eine Lehrerin wegen Alters und Studiums in nur einem Fach entlassen wird. Ein deutliches „Nein“ war die beruhigende Antwort.
Am gleichen Nachmittag erschien der Schulrat unseres Kreises bei mir. Er entschuldigte sich für die Vorgehensweise. Ich durfte weiter unterrichten.
1992 ging ich in Rente und war froh,
dem neuen Schulbetrieb, der zu sehr dehnbaren Lehrplänen und Disziplinlosigkeit
führte, entfliehen zu können.
Eine Schlittenfahrt
Ich genoß es anders als meine Schüler. Ich vergaß die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen und dachte nur: Freude der Kinder an der Natur, an der Unterstützung durch uns wohlgesinnte Menschen - mehr brauchen wir nicht.
Und dann wurde mir die Gegenwart
bewußt. Ist nicht alles aus? Was wird aus den Kindern werden? Aber die
erfrischende waldreiche Umgebung ist uns geblieben. Das andere muß bezahlt
werden. Geld regiert die Welt.
Begegnungen
„Waren Sie schon einmal dort?“
„Ja, vor Jahren.“
„Dann wissen Sie ja, wie das ist. Vieles gefällt einem, aber man hat keine Freude daran. Man hat dauernd das Gefühl, sich selbst zu schaden. Man ist schlimmer dran als im Ausland, weil man die eigene Sprache hört. Man ist auf schreckliche Weise in der Fremde.“
Dieses Zitat über Westberlin trifft meine Gedanken und Gefühle über die anfänglichen deutsch-deutschen Beziehungen sehr genau. So war ich neugierig, wie die konkreten Kontakte von Menschen ablaufen würden. Besuche privater Natur gaben die Antwort: Es geht nur mit konstanter, ausgesuchter Höflichkeit; es entwickelte sich kein echtes Verstehen, wir sahen uns nie wieder. So kam uns eine Einladung von dem Bildungswerk der Humanistischen Union NRW (Essen) und der Grundvig-Stiftung e. V. (Potsdam) zu einem Seminar von je zehn West- und Ostdeutschen zu dem Thema „Geteilte Erfahrungen“ gelegen. Wir meldeten uns dazu, bekamen eine Einladung und erlebten eine Folge von solchen Veranstaltungen von 1992 bis 1993. Nach etwa fünf Jahren gab es noch ein weiteres Treffen.
Die erste wörtliche Äußerung von einem „Wessi“ lautete, nachdem er von uns hörte, wir kämen aus dem Land Brandenburg: „Die DDR war von Anfang an ein Unrechtsstaat.“ Die von einem Zweiten war nach der Begrüßung (meinem Mann gegenüber): „Ich habe vorher noch nie einen Ostdeutschen angefaßt. Beides war deutlich. Diese Herren lernten wir später als verständnisvolle, entgegenkommende Teilnehmer kennen.1
Ich erinnere mich an Diskussionen über die zwei Staaten; dazu über ihre Hymnen. Es ging immer wieder um die DDR als Diktatur. Dies wußten wir genau durch den Begriff „Diktatur des Proletariats“. Wir schwiegen dazu, so zeigten wir äußerlich Einverständnis.
Ich fühlte mich immer als die Unterlegene, Abhängige, die sich verteidigen muß. Ich bewunderte das Selbstbewußtsein. Beim Gedankenaustausch über die Hymne des neuen Staates nannte ich wenigstens Brechts „Anmut sparet nicht noch Mühe ...“, in der es heißt: „... und nicht über und nicht unter andren Völkern wolln wir sein ...“ Aber wir waren ja doch der alten Bundesrepublik „beigetreten“ und übernahmen so deren Text und Melodie (die zweite Strophe des „Deutschlandliedes“).2
Viele Teilnehmer stellten sich vor, daß wir „die Russen“ hassen und froh sind, sie losgeworden zu sein. So waren sie überrascht, daß die Soldaten uns leid tun. „Hier stehen die Kasernen leer und in ihrer Heimat haben sie keine oder sehr beengte Unterkunft. Das hatten wir geschafft, sie mit zu ernähren.“ In unserer Gegend sammeln Personen ganz privat für die GUS-Staaten und bringen alles direkt an Ort und Stelle, was oft große Schwierigkeiten an deren Grenzen zur Folge hat. Das Gefühl der Verpflichtung oder Verbundenheit nach der jahrelangen Anwesenheit der Armee muß vorhanden sein. CA (Sowjetarmee) und eine Nummer stand auf allen Militärfahrzeugen. „Communist Approved“ (Geprüfter Kommunist) wurde dafür spaßeshalber in der DDR übersetzt.
So konnten wir viele, viele Gedanken erörtern; persönliche Beziehungen entstanden. Alle sprachen offen über ihre Schwierigkeiten, Gefühle und Erkenntnisse.
Diesseits und jenseits der ehemaligen Grenze lebten und leben Menschen, die Beziehungen knüpfen. Die große Fremdheit haben wir überwunden. Am Ende einer Fahrt fragte mich ein Mitreisender: „Sie sind aus Brandenburg, aus dem Osten?“ „Ja!“ „Man merkt es aber gar nicht.“
1 Den Ablauf der Seminarfolge finden wir im Buch „Geteilte Erfahrungen - Ein deutsch-deutsches Dialogprojekt zur Geschichte nach 1945" von Heidi Behrens-Cobet/Anka Schafer; agenda Verlag Münster, 1994
2 Brecht hatte seinen Text - wie auch Becher die DDR-Hymne .Auferstanden aus Ruinen" - im Hinblick auf die angestrebte deutsche Einheit ursprünglich so geschrieben, daß man sie als neue gesamtdeutsche Nationalhymne nach der Haydn-Melodie des Deutschlandliedes singen konnte. Erst später wurden beide Texte von Eisler mit neuen Melodien versehen, und Brecht nannte seinen „Kinderhymne“
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