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Silvia
Stelzer
Mit Musik geht alles besser
Lydia patschte mit ihrer kleinen, gnubbligen Hand an meinen Arm und gluckste vor Vergnügen. „Ba-ba-da-ma-ma-ma.” Herrlich! - Möge doch das Mütterjahr nie vergehen. Könnte ich doch die Zeit einfach festhalten!
Die Tür fiel ins Schloss. Lothar kam von der Nachtschicht. Küsschen. Er setzte sich auf meine Bettkante, grinste und sagte: „Du kannst jetzt in den Westen fahren.“
„Du spinnst ja“, gähnte ich schläfrig und rollte mich auf die andere Seite.
„Doch, die Grenze ist offen. Sie haben es sogar auf DT 641 gebracht. Du kannst es dir im Frühstucksfernsehen angucken“, erklärte Lothar.
Ich räkelte mich aus dem Bett und schaltete SAT 1 ein; Massen, Massen, Massen schoben sich durch die Nadelöhre von Grenzen. Trabbis im Schleichgang wurden von Sektflaschen besprüht und mühten sich durch die jubelnde Menschenmenge; Tränen, Umarmungen; ratlose, stotternde Grenzposten.
Argwöhnisch betrachtete ich den ganzen Rummel. „Mh“, murmelte ich und schaltete wieder aus.
Natürlich hatte ich am Abend zuvor Schabowskis Pressekonferenz gesehen. Innerlich rieb ich mich an seiner arroganten, selbstgefälligen Art und hatte dem berühmten Nachsatz nicht die Bedeutung beigemessen, die er eigentlich hatte. Die Information hatte ich als „Das-wird-sicher-noch-ewig-mit-der-Umsetzung-dauern-und-gilt-wahr-scheinlich-nur-fur-Leute-mit-Westverwandtschaft-Ausreisewillige-usw.“ abgetan. Fertig. Ab ins Bett. Wer weiß, ob Lydia in der Nacht noch „kommt“.
Am nächsten Tag war unser Hochhaus wie leergefegt. Während ich Babybrei kochte, erkundeten die Nachbarn den „goldenen Westen“.
Mir ging das alles viel zu schnell. Die Ereignisse überschlugen sich.
Gerade war ich dabei, die aufmüpfige Kundgebung vom 4. November auf dem Alex zu verdauen und gerade war ich in den „Verband der Freidenker“ eingetreten, um das Gefühl zu haben, nicht auf der Stelle zu treten.
Klar, mich ärgerte vieles. Ich hatte zwei Eingaben geschrieben, z. B. weil der „Sputnik“2 eingestellt wurde; und die andere an ein gemüseverarbeitendes Kombinat, wegen liebloser Verpackung, die dafür sorgte, dass der angetaute Blätterteig in meinem Einkaufsbeutel aus dem Karton rutschte und sich auf dem Nachhauseweg mit den Erdklumpen vom Möhrenbund zu einer unbrauchbaren Masse vermischte.
Diese wohltuende Aufbruchstimmung war nun über Nacht (nämlich die vom 9. November) weg. Statt der Diskussion um politische Veränderungen wurden euphorisch Erfahrungen vom „grenzüberschreitenden Verkehr“ ausgetauscht. Mitleidig fragte man uns drei Wochen später: „Was, ihr wart immer noch nicht „drüben“?“
Um diese Zeit, so Ende November, fand unsere letzte gemeinsame Feier der Hausgemeinschaft statt, bei der die NAW-Gelder für die Beteiligung an der Bewegung „Schöner unsere Städte und Gemeinden - Mach mit!“3, verprasst wurden. Wie immer wurde ein Tapeziertisch aufgestellt und reichlich gedeckt. Jeder steuerte etwas bei, z. B. Salate, eingelegte Gurken oder warmen Zwiebelkuchen. Wie immer war es lustig; nur Frau Milling war völlig aufgelöst, weil sich ihre Tochter von den 100 DM Begrüßungsgeld (und man wusste damals wirklich nicht, ob man noch einmal eine DM bekommt); einen Pullover für 60 DM gekauft hatte. Sie jammerte den ganzen Abend darüber ...
Tags darauf fuhren wir das erste Mal „rüber“, um unser Begrüßungsgeld zu holen. Wir fuhren mit der blauen „Rennpappe“4 zur Bornholmer Brücke und bugsierten den Kinderwagen aus dem Auto. Wenn mir ein halbes Jahr vorher jemand gesagt hätte, dass ich mit meinem blauen Personalausweis die Grenze passieren würde, den hätte ich komplett für verrückt erklärt. Über der Brücke, auf der „anderen Seite“ fror eine geduldige Menschenmenge, bis die Pendelbusse kamen, die in Richtung Stadt, z. B. zum Ku’damm fuhren. Es war eiskalt.
Ich überlegte, wie es „dort“ aussieht. Ich dachte an Glitzerfassaden, an Perlodont-weiße Zähne, an süßlich lächelnde Frauen, die Jacobs-Kaffee trinken. Bestimmt rochen alle nach fluffigem Weichspüler, so wie ein geöffnetes Westpaket. Als gelernter DDR-Bürger wusste ich ja, dass der Kapitalismus eigentlich parasitär, faulend und sterbend sein musste, aber insgeheim hoffte ich für mich, dass das vorgegaukelte Schlaraffenland noch ganz intakt ist.
An der Bushaltestelle stand zur ordnungsgemäßen Überwachung ein fetter Polizist. Ein Polizist mit Vollbart! Ich starrte ihn an. Noch nie hatte ich einen Polizisten mit Vollbart gesehen.
Düster drein blickend trat er von einem Bein auf das andere - immer den dicken Bauch voran. Ein Bus kam. Er drehte seine Wendeschleife. Die Leute schoben und schubsten. Wir warteten mit dem froschgrünen Kinderwagen, bis alle eingestiegen waren und versuchten ihn reinzuhieven. Nun waltete der fette Polizist seines Amtes und schnauzte uns an, dass wir mit diesem Bus nicht mitfahren können, da er voll sei. Wichtig erklärte er, dass zuerst die Leute mitmüssen! Wie Leute!?? - das verstand ich nicht. Mein Kind im Kinderwagen war doch auch ein Leut - eben nur ein kleiner. Und wir waren doch auch - Leute. In unser kinderverhätscheltes Bewusstsein ging das nicht rein. Das war meine erste Begegnung mit dem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat.
Von unserem Begrüßungsgeld wollten wir in einer Apotheke ein Fieberthermometer kaufen. Wie jeder weiß, öffnen sich die Apothekentüren von selbst.
Allerdings nur, wenn man einen Schritt von der Tür entfernt ist und einen Augenblick wartet. Das wusste ich natürlich nicht. Als die Tür sich öffnete, war ich - in der Vermutung sie war verschlossen - bereits um die Ecke gelaufen, weil sich dort noch eine befand. An dieser Tür dasselbe Spielchen. Ich lief also wieder zurück. Das ging eine Weile hin und her. Ich fluchte, weil die Tür nicht aufging und klopfte heftig gegen die Scheibe. Mein Mann, der diesen Mechanismus bereits erkannt hatte, amüsierte sich köstlich. Ich war viel zu aufgeregt, hinter diese Logik zu kommen. Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie das erste Mal einen Einkaufschip benutzten?
In einem anderen Geschäft hielten wir nach Gummistiefeln Ausschau, welche die man an einem milden Regentag zum Pfützenpatschen anziehen kann.
Die Schuhboutique hatte ein reichhaltiges Angebot an Kinderschuhen, auch Gummistiefel.
Allerdings warm gefütterte, vielleicht für einen Spätherbsttag geeignet.
Die Verkäuferin sprach mit einem Kunden. Sie hatte Trachtenkleidung an.
Ihr Gesicht war solariumgebräunt und mit einer dicken Make-up-Schicht geschminkt. Sie redete nicht nur einfach mit dem Kunden - nein, ihre Rede glich einer Show, einem bedeutenden Auftritt. Mir fiel in diesem Moment Regine Hildebrandt ein. Sie hatte mal augenzwinkernd gefragt, warum Wessis ein Jahr länger Abitur machen müssen, statt der 12 Jahre Ost-Abi? Na, weil bei den Wessis ein Jahr Schauspielunterricht dabei ist.
Ich wartete also. Dann wandte sie sich mir zu. Ich fragte, ob im Lager noch andere Gummistiefel seien. Die Augenbrauen zogen sich zusammen. Die dicke Make-up-Schicht zog eine tiefe Furche. Jetzt wusste ich, warum. Mein Dialekt hatte mich verraten. Ich komme aus Thüringen. Das klingt für Ungeübte ein bisschen wie sächsisch. Sie schaute auf mich herab und sagte mit der Show-Stimme: „Alle Gummistiefel stehen im Regal.“ Ich versuchte ihr zu erklären, dass ich keine gefütterten, sondern nur ganz einfache brauche. Mit der allergrößten Verachtung sagte sie gedehnt: „Unsere Westkunden brauchen keine einfachen, unsere Westkunden kaufen nur solche!“ Dabei hielt sie mir ihren Weststiefel vor die Augen.
Anfang Dezember rief mich eine Bekannte vom Freidenkerverband an.
Sie machte sich in Richtung Fraueninitiative stark und fragte mich, ob ich zur ersten Ost- West-Frauenfete mitkommen wolle. Natürlich wollte ich. Das war für mich eine willkommene Abwechslung von Kind und Kochtopf. Wir, ca. zehn Frauen, trafen uns am S-Bahnhof und fuhren gemeinsam nach Kreuzberg. Ich war erstaunt, wie sich diese Frauen nach nur einem Monat Mauerfall zielbewusst und sicher im westlichen Bahnnetz bewegten.
Die Fete war in einem alten Saal. Viele Frauenverbände hatten Stände aufgebaut und verteilten Infomaterial. Wir wurden freudig begrüßt und wie exotische Paradiesvögel umringt. Über ein Saalmikrophon, das viel zu leise war, stellten sich die eiligst gegründeten Ost- Frauengruppen vor.
Bei der Fete waren wirklich Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können: Feministinnen, Frauenpolitikerinnen, Rockerbräute und biedere Hausfrauen. Eine hübsche junge Frau, ich glaube aus dem Iran, erzählte mir, dass sie aus ihrer Heimat geflohen sei und nicht zurück könne. Dort würde sie wahrscheinlich umgebracht, weil sie Lippenstift benutzt, keinen Schleier trägt, sich europäisch kleidet und verhält und ungefragt mal in Paris, mal in Berlin wohnt. Ich konnte das gar nicht glauben. Eben auch, dass man einfach mal so in Paris wohnen kann.
Zum ersten Mal sah ich ein lesbisches Pärchen. Eine schlanke, braunhaarige Schönheit lehnte lässig am Treppengeländer und knutschte eng umschlungen mit einer streng kostümierten Dame. Mir klappte der Unterkiefer runter.
Als Abschlussgeschenk bekamen wir eine Langspielplatte (!) geschenkt! Ich hörte sie mir zu Hause an. Eine Mädchenband hatte Revoluzzersongs gegen Männer aufgenommen - mit monotonen, ungeübten Stimmen und schlecht gespielten Instrumenten. Sie klang einfach grauenvoll. Ich gab sie Lydia zum Spielen. Sie rollte die LP mit großem Vergnügen den Flur rauf und runter.
Der Einheitsrummel rauschte an mir vorbei. Ich bekam davon nicht allzu viel mit. Lydia war oft krank. Sie nahm nicht entwicklungsgerecht zu. Mit viel Geduld musste ich sie regelrecht aufpäppeln. „Alete für ihr Kind“ - war für Lydia kein Thema. Sie verschmähte den Einheitsschmaus und wollte noch gestillt werden. Doch diese „Kräfte" musste ich aufsparen, denn Lydia sollte bald einen Bruder bekommen.
Im Herbst 1990 wurde Hannes geboren. Er war eines der letzten Kinder, welche im Polizeikrankenhaus Scharnhorststraße entbunden wurden. Kurze Zeit später wurde die Entbindungsstation geschlossen, da diese nicht „bundeswehrspezifisch“ sei.
Hannes machte nun flauschige Pamperswindeln voll. Das war eine enorme Erleichterung gegenüber der zeitraubenden Wäsche von Baumwollwindeln.
Von unserem ersten Westgehalt kauften wir Babyausstattung und eine Videokamera, um die ersten Augenblicke festzuhalten. Ich war fasziniert von der Vielfalt und konnte mich oft nicht entscheiden. Schnell merkte ich, dass der Geldbeutel für Entscheidungen verantwortlich ist.
Oft stellte ich mir die Frage, wie alles in Zukunft werden würde. In der DDR Mutter zu sein, war in vielerlei Hinsicht einfach entspannter. Es gab den bezahlten Haushaltstag für jede verheiratete Frau, bei der Geburt eines Kindes erhielt man 1 000,- M Kindergeld und junge Familien durften sich mit 5 000,- M zinslosem Ehekredit die Wohnung einrichten. Über Arbeit, finanzielle Zuwendung, gesundheitliche- und soziale Betreuung brauchte man sich keine Sorgen zu machen. Man konnte das Mütterjahr richtig genießen und die ersten Entwicklungsschritte sorgenfrei verfolgen.
Werte erkennt man immer dann, wenn sie verloren gehen. Hin und wieder hörte man ein Gerücht, dass Lydias Kindereinrichtung geschlossen würde. Irgendwann verdichteten sich diese und bei einem Elternabend wurde diese Vermutung deutlich artikuliert.
Daraufhin bildete sich ein Elternrat gegen die Schließung, sozusagen ein Krisenstab. Ich beteiligte mich daran. Da Hannes noch keinen Krippenplatz hatte, musste ich ihn zu allen Terminen mitnehmen Das ist für eine stillende Mutter eine äußerst anstrengende Sache Der Elternrat organisierte so ziemlich alles, was man gegen eine Schließung unternehmen kann friedliche und nicht so friedliche Gespräche mit Kommunalpolitikern, Demonstrationen mit und ohne Kindern, Petitionen (Eingaben) an das Abgeordnetenhaus. Wir suchten parteiübergreifend Verbündete in mehreren Ausschüssen. Presse, Rundfunk, Fernsehen berichteten davon und unterstützten uns Wir saßen im Jugendausschuss des Abgeordnetenhauses und übergaben Senator Krüger Kinderbilder unter dem Motto „Macht unseren Kindergarten nicht zu“.
Aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass die Politiker auf höherer Ebene mehr Verständnis hatten. Allerdings delegierten sie das Problem in die „untere“ Ebene. Erstaunlich verhielten sich manche Bezirksabgeordnete Sie waren für ihre rote Vergangenheit bekannt und ihre Loyalität zur DDR.
Genau diese hatten „hinterrücks“ bereits die Schließung des Kindergartens veranlasst.
Wir verlagerten also unseren Schwerpunkt auf die Bezirksebene Bei der nächsten BVV5 veranstalteten wir eine Riesenaktion. Wir informierten alle Medien und kamen mit allen Kindern, Eltern, Mann und Maus zu einer Demo vor das BVV-Gebäude.
Alle Kinder, Eltern und Erzieher machten ein Pfeif und Trillerkonzert Der Chef unserer Elterninitiative hatte ein Megaphon organisiert. So wurden wir weit gehört. Foto- und Fernsehkameras surrten. Puschliege Mikrophone wurden über die aufgebrachte Menge gehalten. Wir sangen mit den Kindern Lieder, zeigten Plakate und trillerten um die Wette.
Die ersten Abgeordneten trafen ein. Man erkannte sofort, wer auf unserer Seite stand Diese lächelten und nickten uns zu Die „anderen“ lachten verächtlich oder wütend, manche wiederum hetzten - weder links noch rechts schauend, schweißgebadet zur Eingangstür.
Ein Bezirksabgeordneter beschimpfte uns mit „rote Socken“ (weil wir viel Unterstützung von der PDS hatten), ein anderer fuchtelte mit dem Arm, zeigte dabei auf die Kinder und schrie „Das machen sie schon 40 Jahre mit den Kindern!“ Konnte der Mann nicht rechnen? Die anwesenden Kinder waren doch höchstens sechs Jahre alt!
All unsere Aktionen halfen nichts. Es war beschlossene Sache des Bezirkes. Und es war Methode, die Schließung erst bekannt zu geben, als die Messen schon gesungen waren.
Ziemlich oberfies - heimlich keine Kinder mehr in die Kindereinrichtung einzuweisen und dann offiziell zu behaupten, die Kinderzahl gehe zurück. Das alles unter dem Deckmäntelchen Demokratie. Wir diskutierten, ob wir den letzten Schritt gehen sollten, z. B. den Kindergarten besetzen. Bei all diesen Aktionen hatte ich Hannes immer unter großen Mühen mitgenommen. Als nun über diese Maßnahme geredet wurde, klinkte ich mich aus. Dieses Eisen war mir zu heiß.
Irgendwann stand ein Sperrmüllcontainer vor dem Kindergarten, in dem Spielzeug und Bücher(!) landeten.
Ich war von dieser ganzen Aktion ziemlich frustriert - am meisten wegen der Ohnmächtigkeit. Ohnmächtig nichts tun zu können, trotz (angeblicher) Demokratie.
Vor der Wende hätte man keine spontane Demo machen können. Das hätte Missmut erregt. Heute kannst du Demos ohne Ende machen. Aber es ändert sich dadurch nichts. Wo ist da der Unterschied?
Um von dieser Sache Abstand zu gewinnen, kümmerte ich mich wieder intensiver um meine Familie. An einem Wochenende im Mai 1991 fuhren wir ins FEZ6. Dort ist immer etwas für die ganze Familie los. Ich hatte dort ein Schlüsselerlebnis, das mein berufliches Leben total verändern sollte.
Im Foyer des Palastes stand ein Musikpädagoge und machte Klangspiele. Es war ein kleiner rundlicher Mann mit einem weißen Rauschebart. Lydia bemerkte „Guck mal, der Weihnachtsmann ist auch da“. Mit seinen großen Augen zog er alle unwillkürlich in den Bann. Er bezog alle Kinder und Erwachsenen in das Klangspiel mit ein. Ein Teppich war die Klangwiese. Jeder durfte sich ein Musikinstrument nehmen, z. B. Triangeln, Schellenringe u. A. Auf dem Klavier spielte er eine Melodie und sagte „Stellt euch vor, ihr seid im Märchenwald und diese Melodie ist die Waldwiese Welche Tiere treffen wir im Wald?“ Ein Kind meldete sich und sagte „Ein Specht könnte klopfen.“
Nun überlegten alle, welches Instrument dazu passt. Die Klanghölzer waren Spechte, der Schellenring das zitternde Espenlaub, die Pauke der Bär und die Tuba (von einem beherzten Vater gespielt) der Förster.
Es war eine singende klingende Märchenwiese Herrlich!!! Ich war davon total fasziniert und von diesem Moment an hämmerte es in meinem Kopf „Genau das muss ich auch machen!“
Zu Hause dachte ich immer wieder an die Klangspiele. Ich fuhr öfter ins FEZ, um diesen wunderbaren Kollegen bei seiner Arbeit zu belauschen, knüpfte Kontakte mit ihm und hospitierte regelmäßig. Von da an hatte mich diese Idee an die Hand genommen. Ich wusste nun, dass ich aus dieser Leidenschaft eine neue berufliche Tätigkeit machen wollte.
Abends liefen meine Ideen wie ein Film im Kopf ab Ich schrieb seitenweise Konzepte für Klangspiele und „Unterrichtsstunden“, verwarf sie wieder und kramte sie dann doch wieder hervor.
Ich „schlich“ mich in Musikschulen unter dem Vorwand, mein Kind anmelden zu wollen und hospitierte bei der musikalischen Früherziehung. Mit meinen Kindern als Alibi sah ich mir Musikveranstaltungen aller Art an, sprach mit Gleichgesinnten, besuchte Seminare, sprach mit Vereinen, die Ähnliches machen und telefonierte und telefonierte und telefonierte.
Allmählich formte es sich heraus: Mein Projekt sollte „Kinder-Musik-Mobil“ heißen.
Naiv, wie man so nach der Wende war, kündigte ich kurzerhand meine feste, sichere Stelle beim öffentlichen Dienst, schlug alle Warnungen in den Wind, horte nicht auf Miesepeter und trat bald als Musikerzieherin in einem ABM Projekt an. Das ABM-Projekt war bei einem Kinder- und Jugendverein angesiedelt In diesem Verein arbeiteten unter anderem damals ehemalige Mitglieder des FDJ-Zentralrats oder ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiter. Manche von ihnen fühlten sich sehr wichtig.
Anfangs hatte ich die Idee, mit Kindern auf Spielplätzen zu musizieren.
Diese Idee erwies sich als unbrauchbar, weil Instrumente dafür viel zu kostbar sind und auf Spielplätzen die leiseren Töne, die für Kinder auch wichtig sind, nicht gehört würden.
Über das Arbeitsamt wurden noch zwei Mitarbeiter vermittelt.
Anfangs passten wir gut zusammen. Gemeinsam entwarfen wir Kursstunden, lachten viel, kauften Requisiten, überlegten uns neue Melodien und stellten Programme zusammen.
Diese Phase war unheimlich schöpferisch und produktiv. Das erste Mal in meinem beruflichen Leben war etwas aus meiner Kraft entstanden. Dieses Glücksgefühl, dieses „flow“ (fließen) ist ein tolles Gefühl und setzt wirklich eine Menge kreativer Ideen frei.
Wir hatten in einem Neubaugebiet ein neues Kulturzentrum gefunden und boten dort Klangkurse an. Die Kinder - bzw. die Kindereinrichtungen - nahmen diese Form der musikalischen Früherziehung gut an.
Ein Klangkurs dauerte immer eine Woche. Die angemeldete Kindergruppe kam jeden Tag eine Stunde zu uns in das Kulturzentrum. Jede Stunde war sozusagen ein Baustein von vielen, die aufeinander aufbauten. Wir hatten den Anspruch, die Musik im Einklang mit anderen künstlerischen Elementen zu vereinen. Wenn die Kinder beispielsweise eine Bauchtrommel aus einem Pappkarton bastelten, gestalteten sie das Musikinstrument mit Mustern und farbenfreudigen Bildern. Wenn wir den Kindern die „Moldau“ von B. Smetana vorspielten, verwandelten die Kinder den Ballettsaal in ein Meer aus Krepppapierbändern und ließen diese auf und ab tanzen. So wie richtige Wellen. Das war ein Feuerwerk aus Farben, Klängen und Bewegungen.
Ein Klangkurs war wirklich eine Einheit aus Singen, Bewegen, Schminken, Verkleiden, Tanzen, Malen, Entspannen, Basteln und Musizieren. Genau, wie Kinder denken und fühlen.
Sie unterscheiden nicht nach solchen Oberbegriffen, wie Bildende Kunst, klassische Musik u. Ä. Alles ist für Kinder faszinierend, wenn es spielerisch und auf kindgemäße Weise an sie herangeführt wird.
Wir musizierten mit den Kindern auch in Behinderteneinrichtungen, Kindergärten und Freizeiteinrichtungen.
Anfangs war unser Klangkurs kostenlos, später nahmen wir einen kleinen Unkostenbeitrag.
Inzwischen mussten die Kinder- und Jugendvereine „lernen“, marktwirtschaftlich effektiv zu arbeiten. Das betraf auch uns. Einen Teil der Finanzierung sollten wir nun selbst erwirtschaften. Mit dem Klangkurs, für den jedes Kind 50 Pfennig als Kursgebühr bezahlte, konnten natürlich keine großen Summen eingenommen werden.. Das war also nicht geeignet. Eine andere Idee musste her.
Schon öfter hatten wir überlegt, eine Veranstaltung für viele Kinder zu gestalten. Denn die Klangkurse waren schon lange im Voraus ausgebucht. Also wäre doch ein Programm für ca. 60 Kinder nicht schlecht, wo man die Nachfrage für „Viele“ befriedigen konnte.
Wir entwarfen ein Programm zum Mitmachen unter dem Namen „Musikalische Weltreise". Die Musikalische Weltreise führte durch verschiedene Länder und stellte die typischen Melodien, Rhythmen und Instrumente vor.
Immer mit dem Anspruch, dass die Kinder mittanzen und sich bewegen.
Jeder von uns übernahm eine Rolle mit einem Namen. Ich schlüpfte in die Rolle des Florian, der die Kinder durch verschiedene Länder begleitete. Jeden Monat führten wir diese Veranstaltung mehrmals auf. Jedes Kind zahlte einen geringen Unkostenbeitrag, was der Finanzierung des Projekts zugute kam.
Ich war vor diesen Großveranstaltungen immer fürchterlich aufgeregt.
Die Klangkurse mit ihren 20 Kindern waren bisher eine überschaubare Größe gewesen.
Wenn man allerdings vor ein großes Publikum tritt, muss man eine schauspielerische oder sängerische Ausbildung haben. So mein Anspruch, denn es sollte ja perfekt aussehen. Meine Kollegen fanden sich auch so cool, was zu ersten Auseinandersetzungen führte.
Wir waren in den Neubaugebieten ein kleiner Geheimtipp für Kindereinrichtungen geworden.
In etlichen Zeitungen wurde unsere Arbeit vorgestellt. Wir versuchten, mit vielen Gleichgesinnten ins Gespräch zu kommen. Der berühmteste unter ihnen war wohl Prof. Kurt Schwaen. Sein Lied „Wer möchte nicht im Leben bleiben“, kennt gewiss jeder, der in der DDR in die Schule gegangen ist. Er schuf auch viele sinfonische Werke für Kinder, z. B. „König Midas“.
Als Schülerin hatte ich sein Bild jahrelang angestarrt, wenn wir im Musikraum Sonaten von Bach und Beethoven hörten. Er hing dort wie ein Heiliger gleichberechtigt neben Händel, Mozart und den anderen.
Und nun stand er live-haftig vor uns - ohne Heiligenschein, aber mit einem glückseligen Lächeln. Er engagiert sich - hochbetagt - in der Kulturlandschaft und möchte groß und klein für die Musik aufschließen - und vor allem der breiten Masse zugänglich machen.
Genau aus diesem Grund luden wir ihn ein. Er besuchte einen Klangkurs und eine „Musikalische Weltreise“. Voller Freude nahm er wahr, wie Kinder spielerisch an klassische Musik herangeführt werden.
Ich fand die Begegnung mit ihm sehr beeindruckend.
Die Nachfrage nach größeren Veranstaltungen nahm zu. Viele Kindereinrichtungen fragten, ob wir auch zum Kindertag, zum Fasching und anderen Gelegenheiten etwas anbieten.
So entwickelten wir ein Nonsens-Programm. Es war allerdings ein Bühnenprogramm geworden, welches eine aktive Teilnahme, wie wir sie bisher praktiziert hatten, nicht mehr zuließ - eben nur ein Mitdenken, aber kein direktes Mitmachen.
Auftritte gab es genug: in Ferienlagern, bei Kinderfesten und Volksfesten.
Damit hatte sich unser Projekt in eine völlig andere Richtung geschoben, als ich es am Anfang gedacht hatte.
Wie schon eingangs erwähnt, gehört ein großes Stück Professionalität dazu, vor ein breites Publikum zu treten. Gorki hatte einmal sinngemäß gesagt: „Man muss für Kinder genauso schreiben wie für Erwachsene - nur besser.“ Wenn man diesen Ausspruch auf unsere Arbeit bezieht, heißt das: muss man einfach Profi sein - egal ob man vor jung oder alt auftritt. Aber wir waren keine Profis. Wir hatten nur den guten Willen.
Kinder sind auch zu Recht ein sehr kritisches Publikum. Genau deshalb wurden mir diese großen Programme unbehaglich. Getreu dem Motto „Schuster, bleib bei deinen Leisten“.
Mir war klar geworden - meine „Leisten“ waren die kleinen Klangkurse.
Ich vermisste sie. Um das Projekt zu erhalten, mussten mehr und mehr die Bühnenprogramme aufgeführt werden. Nur sie konnten das Überleben des Projekts finanziell sichern.
Bedauerlicherweise funktioniert die Kultur im „Großen“ leider nur noch auf diese Weise - Massenspektakel, Volksbelustigung, Lach- u. Spaßgesellschaft, Konsumieren, statt aktiver Auseinandersetzung mit Musik. Individuelle Veranstaltungen bringen kein Geld, sind unrentabel. Der überschaubare Rahmen wird auch unangenehm, gibt ein Stück Individualität preis.
Unser Projekt konnte also, wenn es hipp und trendy sein wollte, nur noch mit Lach- und Spaßprogrammen überleben.
Das führte zu Spannungen unter uns. Nach drei Jahren Kinder-Musik-Mobil trennte ich mich von diesem Projekt. Ich schaute mich um und suchte eine Möglichkeit, um wieder hautnah mit den Kindern zu musizieren.
Für mich war das Kinder-Musik-Mobil eine wichtige Zeit. Am besten war es, seine Phantasie im vollsten Maße auszuschöpfen, eine Idee zu verwirklichen und die Reaktion der Kinder hautnah zu spüren.
Fakt ist, in der DDR wäre so eine Arbeit nicht möglich gewesen. Fakt ist auch, in diesem jetzigen Staat kann sich ein solches Projekt mit individuellem Anspruch nicht über Wasser halten.
Bald darauf bewarb ich mich an anderer Stelle, um meinem Lebenstraum wieder näher zu kommen und mit Kindern zu musizieren. Doch davon beim nächsten Mal.
1 DT 64 war ein Sender für Jugendliche
2 „Sputnik" war eine Zeitschrift der UDSSR, teilweise kritisch
3 NAW und „Schöner unsere Städte und Gemeinden - Mach mit“ Das Nationale Aufbauwerk regte zur Verschönerung des Umfeldes an, z B. Pflege der Grünanlagen, Renovieren des Hauses usw.
4 Rennpappe war der Trabant
5 BVV ist in Berlin die Bezirksverordnetenversammlung
6 FEZ Freizeit u Erholungszentrum in der Wuhlheide; das ist der ehemalige Pionierpalast
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