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Manfred Steinert

Klar zur Wende? - Oder: Erlebnisse auf rauer See

(Eine Selbstbetrachtung zur politischen Wende in Deutschland)

Nichts war klar. Es war nicht klar wohin, es war nicht klar wie, es war nicht klar wer und obendrein kam alles wie eine Sturzsee über uns.

Erst riefen die Leute: „Wir sind das Volk", wenig später riefen sie dann „Helmut, Helmut" und gleich darauf: „Wir sind ein Volk".

Dann folgten Sprüche wie: „Kommt die D-Mark, bleiben wir hier, kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr"! Oder „Stasi in die Braunkohle!"

Das kam alles mehr oder weniger von „unten". Etwas später dann, aber da schon mehr von „oben" kommend: „Keine Experimente", „Freiheit oder Sozialismus" und ähnliches und bald darauf kam das „richtige" Geld und die erste freie Wahl.

Da war die Wende dann aber im Prinzip schon vollzogen. Ca. ein halbes Jahr hatte alles gedauert. Die später dann noch kommende offizielle staatliche Einheit war nur noch ein formaler Akt, da waren alle Messen schon längst gelesen.

Und gleich einem Dominoeffekt fiel mal gleich das ganze sozialistische Weltsystem mit.

Einer, der beiden bis an die Zahne bewaffneten Machtblöcke der Welt war fast über Nacht wie ein Kartenhaus zusammengeklappt.

Eine neue Zeitrechnung begann, zumindest ein neues Zeitalter.

Und viele Menschen irrten ziellos, ratlos, von erfreut bis verängstigt durch die Ge­gend. Holten sich, manche erfreut und aufgeregt, manche etwas verschämt, ihr Begrüßungsgeld, kratzten alsbald ihre ersten Westmark zusammen und reisten was das Zeug hielt. Bereits wenige Tage nach dem Mauerfall wurden die ersten Trabbis unter dem Arc de Triomphe gesichtet, später dann die Ossis an allen Ecken der Welt. Anfangs etwas täppisch noch und erstaunt feststellend, dass ihnen ihr Russisch fast gar nichts nützt. Aber auch das gab sich bald, Englisch-Kurse boomten, aber auch Sachsisch wurde mehr und mehr zur Weltsprache.

Alles in allem eine Zeit, einmalig und gewaltig, gleichsam die Krönung des an ein­schneidenden Ereignissen gewiss nicht armen 20. Jahrhunderts.

Schon immer wollte ich mal meine persönlichen Eindrücke aus dieser unglaubli­chen Zeit festhalten.

Aber erstens hatte auch ich mit mir zu tun, die gewaltigen Veränderungen im be­ruflichen und persönlichen Bereich zu verarbeiten und dabei, wenn irgend möglich, nicht unter Wasser zu geraten. Zum anderen wurde darüber bald soviel geschrieben, dass ich nicht glaubte, ein weiterer Beitrag könnte noch interessant sein

Zum dritten, hätte ich meine Eindrücke früher nur einseitig, noch zu sehr gezeich­net von den Ereignissen zu Papier bringen können. Zu sehr war auch ich, wie so viele mit mir, vom alten System beeinflusst.

Nun aber, nach ca. 12 Jahren Abstand geht es mir doch recht locker von der Hand Vieles geschah seither, viel Neues wurde assimiliert, gelesen, gedacht, erlebt, neue Ein­sichten gewonnen.

Natürlich bleiben persönliche Ansichten immer subjektiv, aber was nun durchschimmert ist nicht Angst, Freude, Furcht, oder sonst was, sondern Ergebnis eines mittlerweile durchdachten und gelebten eigenen Standpunktes.

Wie sehe ich alles aus heutiger Sicht? Was lief gut, was weniger gut, was hätte man..., und wer hätte..., etc.

Wie wird es weitergehen? Was auch ist mit der einst weltumspannenden marxisti­schen Theorie plötzlich geworden?

War ein dritter Weg, war der Weg über eine deutsche Konföderation realistisch? Was wäre und was hatte, wenn...? Nicht so sehr um zu spekulieren, sondern mehr um zu verstehen!

Was hat sich im persönlichen Inneren abgespielt seit dieser Zeit, diesem Einschnitt?

 

Was blieb besonders haften?

Natürlich nicht der 3. Oktober 1990, da war schon alles gelaufen An diesen Tag erinnert nur noch das Datum an sich und sein Zustandekommen Da hatte die Geschichte am 9. November eine einmalige Vorlage gegeben. Genau am 9 November, dem Schicksalstag der Deutschen im Guten (1918 Novemberrevolution, 1923 Niederschlagung des Hitler Putsches in München) und im Schlechten (1938 „Kristallnacht", Judenpogrom). Und nun genau am selben Tag 1989 wieder Steilvorlage würde man sagen - und verschossen!

Politisch verschossen! Nein, diesen Tag, an dem die Ossis ganz allein ihre Mauer niedergerissen und damit auch den Westen überrascht und aus dem Schlaf gerissen hatten? Diesen Tag, an dem die Ossis somit die deutsche Einheit erzwungen hatten, konnte man unmöglich zum Tag der deutschen Einheit machen! Da entschied man sich lieber erzkonservativ für den nichtssagenden 3. Oktober

Wie man auch schon vorher keine Wiedervereinigung, sondern mit viel Winkelzügen einen Anschluss oder Beitritt organisiert hatte. Ein Drittel ganz Deutschlands, in nichts zu vergleichen mit dem kleinen Saarland in den Fünfzigern, wurde schlicht und einfach Beitrittsgebiet.

Welche riesigen Chancen zur Erneuerung sich damit auch die mittlerweile verknö­cherte Bundesrepublik vergeben hatte, ist bis heute vielen immer noch nicht klar.

Heute, wo einschneidende Reformen bei Strafe unseres Unterganges nicht mehr zu umgehen sind, wird wie eh und je in ständigem Parteiengezänk um jeden Hosenknopf gefeilscht. In der Zeit der deutschen Sternstunde 1989/90, war nicht nur plötzlich die Mauer offen, auch die Köpfe der Menschen auf beiden Seiten waren es. Damals, in diesem Überschwang wäre fast alles möglich gewesen. Wenn man nicht schnell ange­schlossen, zusammengeschustert, sondern zwei Staaten, zwei Systeme wiederveremigt hatte Möglich wäre es gewesen Das Argument, dass die sich überstürzenden Ereignisse keine andere Wahl ließen, ist grundfalsch.

Dazu hätte es aber entsprechendem Willen, politischer und menschlicher Größe bedurft. Beides war zu diesem Zeitpunkt an den entscheidenden Stellen aber nicht verfügbar.

Also Schwamm drüber über „wenn" und „hätte"!

Was aber waren eigentlich die unmittelbar einschneidendsten und beeindru­ckendsten persönlichen Erlebnisse der entscheidenden Wochen und Monate 1989/90?

Zunächst im Sommer '89 immer stärker werdend, die Ausreisewelle. Egal, wie man dazu persönlich stand, das hat uns schon bewegt. Noch nie wurde so intensiv Nach­richten geschaut, erst Ost, dann, ob auch alles stimmt, West. Meist dasselbe an Fakten, unterschiedlich die Kommentare.

Budapester und Prager Botschaftsdrama, die Ereignisse an Ungarns Grenze zu Österreich, das alles ging schon unter die Haut.

Dazu die praktischen Auswirkungen im unmittelbaren Umfeld. Die sind auch abgehauen, ein paar Tage später, die ... auch, etc.

Sog. „Republikflüchtige" hatte es immer gegeben. Aber nun nahm es apokalypti­sche Ausmaße an, machte ratlos, gebar völlig neue Fragen. Es wurden ja immer mehr, wie lange kann ein Gemeinwesen einen solchen Aderlass durchhalten? Und es waren ja überwiegend Jüngere, die gingen. Und es herrschte ja in der DDR ohnehin schon permanenter Arbeitskräftemangel.

Nein, das kann auf Dauer nicht gut gehen, war wohl die allgemeine, wenn auch ratlose Feststellung. Aber gerade weil weder ich noch jemand in meiner Familie auf den Gedanken kam, selbst „abzuhauen", wuchsen auch die Sorgen und Ängste.

Ab nach Hause und Fernseher an, war nun die tägliche Devise. Wie viele heute und wie lange geht das noch gut, die tägliche Frage?

Mit dieser Frage begann der Tag, wie er auch endete.

Leipziger Montags-Demo - inzwischen zum Symbol für die sog. Friedliche Revo­lution geworden. So wie dort die Teilnehmer anschwollen, stiegen auch die Zahlen der „Ausreiser".

Auch Ängste dann, besonders im Oktober Die „Tian an men"-Lösung in Peking einige Monate zuvor, als mögliche Variante. Gerüchte über Zusammenziehung star­ker Polizei- und Armeekräfte in und um Leipzig, ja sogar über Räumung und Bereit­stellung von Turnhallen für mögliche Tote und Verletzte, machten unter der Hand die Runde.

Dann 4. November, Berliner Großkundgebung, bekannte Namen, Unerhörtes wurde da vorgetragen. Da war mir klar, hier gibt's kein Zurück mehr, der Zug ist ins Rollen gekommen, nur die Richtung war zu diesem Zeitpunkt noch etwas unklar. Ein 3 Weg wird intensiv diskutiert, ohne genau zu wissen, was das eigentlich so richtig werden soll und wie das zu organisieren wäre. Vieles sind nur Sprechblasen, Aufrufe zirkulie­ren, werden unterschrieben oder zerrissen. Aber trotzdem viel Hoffnung! Jedem nach seiner Facon, noch ist nichts entschieden. Dem einen die demokratische Erneuerung der DDR, dem anderen den schnellen Anschluss an den Westen und vor allem, die Westmark!

Dann, am 9. November - unnötig, das Jahr dazu zu nennen - das Unglaubliche. Freudenfest für die einen, Erschrecken für die anderen, aber fast unglaublich für alle.

Darüber ist schon zuviel geschrieben worden, um hier noch mal nachzulegen.

Aber unabhängig davon, wie das jeder empfunden hat, der Einmaligkeit des Geschehens, der Unerhörtheit, konnte sich wohl kaum einer entziehen.

Erschrocken waren nicht nur denkende Menschen in der DDR, sondern auch Poli­tiker aller Parteien bis zum Bundeskanzler. Der konnte nun kaum noch anders, als auf den anrollenden Zug aufspringen und sich die ganze Geschichte zu eigen machen. (Damit war er auch in der Lage, für sich persönlich eine politische Renaissance zu organisieren.)

Was Kohl in dieser Zeit außenpolitisch zusammen mit Genscher leistete, ist sicher ein bleibendes Verdienst. Innenpolitisch (s. o.) konnte man es wahrscheinlich kaum viel schlechter machen. Da fehlte einfach Größe, Vision, Mut, Modernität. Machtinstinkt war genug da, aber keine Intuition, die der Situation angemessen gewesen wäre.

Da war zuviel Konservatismus im Spiel, da war sich der „Dicke" zu sicher, dass er allein durch den Fakt der Vereinigung, egal wie, in die Geschichtsbücher kommen wurde.

Die eingangs erwähnten Sprüche taten ein Übriges, der Zug gewann an Fahrt und er schlug auch sofort eine ganz bestimmte Richtung ein (s. o.).

Ein „Dritter Weg" war somit nur für ca. drei Monate in der Diskussion, ohne dass jemand so richtig hätte sagen können, was damit eigentlich gemeint war.

Dann griff das Kapital zu, ungebremst und hemmungslos.

(Hierzu noch etwas im letzten Abschnitt.)

Hinterher ist natürlich immer klug reden. Aber, was passiert, wenn man dem Kapi­tal ungehindert und ungebremst Zugriff zur todkranken DDR gewährt, war voraus­sehbar und genügend kluge Leute haben versucht, gegenzuhalten und gewarnt.

Da wäre zum einen die wirtschaftliche Vereinigung. Auf die Dauer wäre es natürlich zu der Form gekommen, die wir heute haben, aber man hätte durchaus politisch ab­bremsen können und müssen, das Kapital an die (lange) Leine legen und nur langsam nachlassen dürfen. Da wäre Vielen Vieles erspart geblieben. So wie man jetzt für die EU-Osterweiterung siebenjährige Übergangszeiten einrichtet (um den Westen zu schützen).

Da wäre alles weniger raubritterhaft, mehr zivilisiert abgelaufen. Das hätte Politik durchaus zu leisten vermocht. Ob nun über den Konföderationsgedanken, oder aber auch schon im Rahmen einer staatlichen Vereinigung, die wohl nicht mehr abzubrem­sen war (vgl. hierzu auch Abschnitt: „Neues Geld").

Politik hätte organisieren müssen und können, dass für das Kapital keine Situation eintritt, als ob Sommer- und Winterschlussverkauf auf einen Tag fallen.

Na und politisch wäre es sowieso geboten gewesen, zu vereinigen und nicht anzu­schließen. Nochmals: Nicht als Seelenbalsam für die Ossis, sondern im blanken eige­nen Interesse der Wessis. Zum Aufbrechen eingetretener Verkrustungen der westdeut­schen Gesellschaft, zum Schritt in die gesellschaftliche Moderne!

Noch bevor das neue Geld kam, erhielten wir eine Einladung nach Wilhelmshaven.

Nordsee! Ganz toll. Aber noch war ein Zeitplan und die neue politische Richtung etwas unklar. Wir konnten zwar schon reisen, wohin wir wollten. Aber keiner konnte schon verbindlich sagen, ob, oder wie lange dieser Zustand ...?

Ein Blick auf die Landkarte brachte somit die Frage hoch: Sollte man nicht versu­chen, gleich mal von Wilhelmshaven einen Abstecher nach Amsterdam zu machen? Wer weiß, ob ...?

Aber noch kein Westgeld für Benzin? Also ging es los im neuen Wartburg mit vol­lem Tank und zusätzlich drei 20-Liter-Kanistern. Fast 100 Liter Benzin an Bord!! Es ging aber alles gut.

Der neue Wartburg, nach 16 Jahren ! (in Worten: sechzehn) Wartezeit im Septem­ber '89 für 32 000 Ost gekauft, beneidet von Freunden, gefahren mit stolzer Brust, war einige Monate später, nachdem sich die Flut von Westautos über die ehemalige DDR ergoss und Händler mit den autogeilen Ossis traumhafte Geschäfte machten, nur noch ein Butterbrot wert.

Dann kam das neue Geld. In meiner Erinnerung ein bleibendes Erlebnis. Nicht so sehr, dass ich, der ich vorher nie Zugang zu Westgeld gehabt hatte, darauf so gewartet hatte wie viele andere, für die das alles die Hauptsache der deutschen Vereinigung war.

Nein, es war einfach gespenstisch, wie sich Tage vorher die Regale in fast allen Ge­schäften leerten, alle möglichen DDR-Produkte zu lächerlichen Preisen für Ostmark noch verschleudert wurden, um Platz in den Regalen für die schon an den Grenzen wartenden Westwaren zu bekommen.

Am letzten Tag des alten Geldes war es nicht mehr möglich, auch nur ein altbacke­nes Brot zu kaufen.

Pünktlich mit der Westmark kamen dann die Lasterkolonnen. Landstraßen und Autobahnen waren verstopft. Als die Ossis mit ihrer ersten Westmark am ersten Tag (1.7.) einkaufen gingen, konnten sie im Prinzip schon alles kaufen. Das Personal hatte in den letzten Tagen tags wie nachts gearbeitet.

Da stand nun alles - schön verpackt, aus der Werbung des Westfernsehen längst wohlbekannt, aber nun leibhaftig vor einem und auch erhältlich.

Da wurde gekauft was das Zeug, sprich der Geldbeutel hielt. Und wo der Geldbeu­tel nicht mitmachte, wurde auf Pump gekauft. Plötzlich war alles möglich.

Alte Möbel raus, auf Kredit alles neu, altes Auto weg, neues mit Finanzierungs­plan her, etc. Na und das Reisen (s. o.) kam noch dazu. Arbeitsplatz, gesichertes Einkommen? Denken wir später drüber nach, erst mal tüchtig alles nachholen, war die Devise.

Und es müssen natürlich, was denn sonst, schön verpackte Westartikel sein.

Und wenn es nur Sauerkraut aus Bayern, oder Milch aus Schleswig war, Ostprodukte kamen fortan nicht mehr in die Tüte, bzw. den Einkaufskorb.

Im Nachbarort ging eine ganze Milchviehherde vor die Hunde, weil die Tiere nicht mehr gemolken wurden. Im eigenen Ort ging eine seit 1594 existierende kleine Braue­rei kaputt, deren gutes und jedem Vergleich standhaltendes Bier sogar zeitweilig im englischen Königshaus geschätzt war.

Aber jede Gaststätte und jeder Laden führte nun nur noch Kulmbacher, Holsten, etc.

Eine eigentlich gebildete und nette Kollegin erzahlte mir mal mit erstickter Stim­me, dass ihr beim Einkauf im KdW angesichts des Angebotes die Tränen in den Augen gestanden hätten!? Ja, so war er halt, der gewöhnliche „Ossi"!

So sorgten die Ossis selbst am besten mit dafür, dass anfangs - neben den anderen Gründen - besonders durch ihr Kaufverhalten recht schnell viele Betriebe kaputt gin­gen. Aber natürlich nicht alle, viele Ossis überblickten auch von Anbeginn ganz klar, was sich außer Reisen und Bananen und Autos noch alles abspielen wurde.

(Die beiden anderen Hauptgründe, die da waren: Erst Wegfall des SU-Exportes, weil wir nur zwar für uns das „richtige", aber nun für die Noch-SU das falsche, weil harte Geld hatten, dann der Zusammenbruch des Landes generell. Hinzu die nicht vorhandene Wettbewerbsfähigkeit der meisten Ostbetriebe im Hin­blick auf die westdeutsche Konkurrenz.)

Wir stopften uns also kurzzeitig mit Bananen voll, was aber schon nach wenigen Wochen schlagartig nachließ.

Die ersten Porno- u. Sex-Hefte machten die Runde, bis man bald merkte, wie schnell auch das langweilig werden kann.

Und irgendwann besann sich auch der Durchschnitts-Ossi, dass doch nichts über eine lokale Landleberwurst oder Edelschimmelkäse oder Spreewälder Saure Gurken geht.

Nun waren wir im Wesentlichen angekommen im Westen! Wir mussten nur noch Schritt für Schritt eine, doch noch einmal recht große Hürde nehmen: Wir mussten uns mit Formalitäten befassen, die vorher unwesentlich, um nicht zu sagen unwichtig gewesen waren.

Plötzlich konnten und mussten wir zwischen jeder Menge von Krankenkassen wäh­len, wir mussten uns mit Steuererklärungen befassen, Unterlagen für die spätere Renten­anwartschaft zusammentragen, wir mussten lernen, Scharlatanerie von Seriosität zu unterscheiden. Plötzlich war alles möglich, im Guten, wie im Schlechten. Vorher war alles so schön einheitlich geregelt, da brauchte keiner irgendwo einen heißen Tipp, alles ging einfach seinen Gang, fast ohne eigenes Zutun.

Versicherungen? Kein Problem, es gab nur die eine staatliche. Da war man sicher und keiner konnte einen über den Tisch ziehen. Kredite? Keine Fragen!

Geld? Sparkasse zu 3,5 Prozent, die einfache, einheitliche Antwort. Das war alles. Paradiesische Zustände!

Nun Bausparverträge im Dutzend, Aktien, Fonds, Bundesschatzbriefe, Obligatio­nen, zu viel, um hier alle Möglichkeiten aufzuzählen. Möglichkeiten von Riesen­gewinnen bis zu Totalverlust. Versicherungen, auch im Dutzend. Täglich will einem jemand irgendetwas verhökern. Werbung aus allen Knopflöchern, im Briefkasten, in der Zeitung, im Radio, im Fernsehen.

Bauernfänger hinter jeder Ecke, alle im feinen Zwirn und gestylt. Wie soll man da schwarze Schafe erkennen?

Jeder hat dabei sicher dieses oder jenes, manchmal wohl auch sehr bitteres Lehr­geld bezahlt.

Kurz: Wir mussten lernen andere zu „bescheißen", oder wenigstens unsere wahren Absichten zu verstecken, das aber auch noch mit möglichst seriösem Gesicht, und auch, wie man sich selbst am besten dagegen schützt. Aber schließlich haben wir auch diese Lektionen gelernt, oder werden sie noch besser lernen.

Angekommen? Ja, angekommen!

Aber wo?

{(Wir unterbrechen hier den Abdruck des umfangreichen Beitrages von Manfred Steinen und bringen den zweiten Teil, in dem der Autor zu wichtigen politisch-theoreti­schen Betrachtungen übergeht, die über das Thema des Buches hinausweisen, ungekürzt am Schluß des Buches als Anhang und Aufforderung zu weiterem Nachdenken.

Die Redaktion)) 


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