Vorwort
Nach den erfolgreichen vier Bänden der Reihe "Spurensicherung" widmen sich im neuen Band 51 Autoren dem Thema "Die DDR wird zum Beitrittsgebiet - Erlebtes, Erlittenes, Probleme, Aktivitäten". 32 Autoren waren in den bisherigen Bänden schon mindestens einmal vertreten, 19 Autoren sind neu hinzugekommen. Wieder zeichnen sie ihr Erleben auf und unterbreiten eigene Betrachtungen.
Die Autoren kommen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen und sozialen Schichtungen. Sie tragen erneut zu einer authentischen "Geschichte von unten" bei. Dies entgegen der verzerrenden Wahrnehmung der DDR-Geschichte als bloßer Staats- oder Parteigeschichte. Für eine Gesellschaftsgeschichte wird den "Urenkeln" sowie den Historikern ein Fundus über "DDR-konkret" und "Vereinigung konkret" übergeben.
Gewiß sind die im neuen Band versammelten Erlebnisse und Bewertungen im statistischen Sinne nicht repräsentativ. Aber repräsentativ sind sie zumindest für einen erheblichen Teil der früheren DDR-Bürger. Namentlich für solche, die mit Ehrlichkeit und persönlichem Einsatz versuchten, sozialistischen Idealen gerecht zu werden und in ihrem eigenen Lebensumfeld zu verwirklichen. Die Beiträge sind um Wahrhaftigkeit bemüht und deshalb kritisch.
Das Themenfeld dieses fünften Bandes ist:
Was geschah nach dem Anschluß an die BRD
mit der DDR-Gesellschaft und mit ihren Bürgern?
Aus verschiedenen subjektiven Blickwinkeln entstehen "anfaßbare" und nachempfindbare Bilder vom alten DDR- und vor allem vom neuen bundesdeutschen Alltag, über Erfahrungen, politisches Denken, über die Konflikte zwischen alten Idealen, neuen Hoffnungen oder Illusionen. Gewachsene gesellschaftliche Strukturen, soziale Verhältnisse, Lebensentwürfe, berufliche Existenzen wurden zerstört, beschädigt, entwertet. Menschen wurden und werden gedemütigt und diskriminiert. Wegen ihrer Engagiertheit in der DDR oder auch nur, weil sie "Ossis" sind. Gewiß. Aber nur das?
Die Autoren und die Redaktion versuchen der Gefahr zu entgehen, ein romantisch-verklärendes, ein weinerliches Buch des Selbstmitleids an der Klagemauer vorzulegen. Nostalgie wird nicht gepflegt. Ein Jammerbuch ist nicht entstanden. Nachempfindbar wird jedoch, daß die Ostdeutschen - anders als die Westdeutschen - das Erlebte in zwei einander alternativen gesellschaftlichen Systemen vergleichend bewerten können - deren Vorzüge und deren negative Eigenschaften. Der Leser findet Berichte über sehr widerspruchsvolle Prozesse, über Selbstbehauptungen und Niederlagen, über die Bewältigung der Gegenwart und über ein sehr unterschiedliches Verstehen von "Ankommen".
Wie bisher wird weniger auf staatlich dominiertes, sondern auf das alltägliche Geschehen gesehen. Zu entdecken ist nicht nur eine Zeit des passiven Betroffenseins, sondern zugleich und wachsend eine Zeit der Aktivität und des Lernens, der Erfahrung, des Vergleichs, der Mobilität, des Trotzes und von sozialer, politischer und mentaler Selbstbehauptung. Neue existenzielle Grundlagen mußten geschaffen werden.
Weshalb müssen die westdeutschen Politstrategen sich anhaltend darüber wundern, daß die DDR nicht, wie erwartet, nach zwei Jahren aus dem Bewußtsein verschwunden war, sondern statt dessen so etwas wie eine sich politisierende "ostdeutsche Identität" entstand? Oder wie ist das alle "Wessis" in Erstaunen setzende Phänomen erklärbar, daß trotz partieller, z. T. sogar erheblicher Verbesserungen materieller Lebensbedingungen die Identifizierung mit der kapitalistisch geprägten Gesellschaft, dem bürgerlichen Staat und seinen Mechanismen keineswegs zunimmt, wobei die Leitwerte soziale Gerechtigkeit, Antifaschismus, Friedensbewahrung, das Menschenrecht auf Arbeit und - neben vielen anderen auf den Gebieten der Kultur-, Bildungs- und Informations- und Militärpolitik - auch die radikale Ablehnung ausufernder Bürokratie sind?
Das Buch regt an, Antworten auf diese Fragen zu finden. Gewiß nur Anregungen, denn subjektive Erinnerungen allein vermögen nicht hinreichend zu ersetzen, was nur eine überaus komplexe Analyse der geschichtlichen Verläufe und der Entfremdung des Sozialismus-Versuches zu einem am Ende autoritären Staatssozialismus leisten kann. Bloße subjektive Erinnerungen ließen den Untergang der DDR - angesichts viel guten Willens und Engagements - eher als eine unbegreifbare Groteske erscheinen. Jedoch: ohne die subjektive Erinnerung der Handelnden, vor allem auch an der Basis der DDR, bliebe jede Analyse blutlos.
So viele Autoren - so viele Handschriften. Wir empfinden es als Bereicherung, daß sich auch für diesen Band als Autoren nicht nur geübte Schreiber gefunden haben. Dem Motto - "So habe ich das erlebt" - entsprechend, findet sich in den meisten Beiträgen unmittelbar Erlebtes. Anderen Autoren ist das eigene Erleben vor allem ein Nachdenken und die innere Verarbeitung der Umwälzung ihrer Lebensverhältnisse -und auch ihrer bisherigen Weltsicht. Die Redaktion entschloß sich, auch solche Beiträge aufzunehmen, deren Erleben sich hauptsächlich in subjektiven Reflexionen vorstellt. Denn diese sind ebenso dokumentarisch für nicht wenige Menschen, die sich -ihren persönlichen Idealen folgend - für die DDR engagiert hatten. Sie drücken verallgemeinernd eine subjektive Befindlichkeit aus, welche von gesellschaftlicher Relevanz ist.
Das Redaktionskollektiv von "Spurensicherung V"
Theodor Storm (1867):
(Nachdem die beiden ehemaligen Herzogtümer Schleswig und Holstein dem preußischen Staat einverleibt wurden)
Wir können nicht verkennen, daß wir lediglich unter Gewalt leben.
Das ist desto einschneidender, da es von denen kommt, die wir gegen die Gewalt zu Hilfe riefen und die uns jetzt, nachdem sie jene bewältigen geholfen, wie einen besiegten Stamm behandeln, indem sie die wichtigsten Einrichtungen, ohne uns zu fragen, hier über den Haufen werfen und andere dafür oktroyieren; obenan ihr schlechtes Strafgesetzbuch, worin eine Reihe von Paragraphen - längst der juristischen wie der Moralkritik verfallen - ehrlichen Leuten gefährlicher sind als den Spitzbuben, die sie angeblich treffen sollen.
Obwohl Preußen - sowohl wegen der Art, wie sie das Land gewonnen, als auch, weil wir zum geistigen Leben der Nation ein so großes Kontingent gestellt wie nur irgendein Teil von Preußen - alle Ursache zu bescheidenem Auftreten bei uns hat, so kommt doch jeder Kerl von dort mit der Miene des kleinen persönlichen Eroberers und als müsse er uns erst die höhere Weisheit bringen ...
Die unglaubliche naive Roheit dieser Leute vertieft die Furche des Hasses, die Preußens Vorfahren tief in die Stirn der Schleswig-Holsteiner eingegraben.
Auf diese Weise einigt man Deutschland nicht.
(Brief Storms an Friedrich Eggers. Quelle:
Theodor Storm, Sämtliche Werke Bd. 1, Aufbau
Verlag Berlin und Weimar, 6. Auflage 1986, S. 73 f.)