vorhergehender Beitrag |
Ilse Wendler
Vom Arbeiter-und-Bauern-Staat zum Kapitalismus pur
Im Herbst 1989 waren wir mit Freunden sechs Wochen im sozialistischen Bulgarien und hatten uns prächtig erholt. Auf der Rückfahrt im Zug Sofia-Berlin fragte man uns, was wir in Berlin wollten, denn dort sei eine Bewegung vieler Menschen in Richtung Westen im Gange. Im Zug saß eine bulgarische Familie, die nach Schweden ausreisen wollte.
Wir stellten einen Zusammenhang mit unseren Erlebnissen in Blagoevgrad (südlich von Sofia, etwa 260 km Luftlinie bis zur türkischen Grenze) fest. Um der plötzlichen „Reiselust" vieler Bürger zu ihren türkischen Verwandten oder Freunden zu entsprechen, mußten die Angestellten in den Ämtern auch an den Wochenenden Ausreisegenehmigungen schreiben. Auf den großen Feldern stand der erntereife Weizen, aber die ausreiseentschlossenen Bauern nagelten ihre Fenster und Türen zu und machten sich mit vollbeladenen Fahrzeugen auf den Weg zur türkischen Grenze. Hier aber war der Andrang so groß, daß die türkischen Behörden die Grenze schlossen. Und nun saß man da ...
Die zurückgebliebenen Bürger folgten dem Ruf von Regierung und Partei. Sie zogen aufs Land, um die Ernte einzubringen.
Mich erinnerte der Vorgang an die fünfziger Jahre, als wir das abernteten, was auf den Feldern der Bauern stand, die in den Westen gegangen waren.
In Berlin angekommen, versuchten wir die Situation zu erfassen und unsere Haltung zu bestimmen. In „Spurensicherung III" hatte ich schon geschildert, daß ich ins Krankenhaus Friedrichshain zur Kaderabteilung gegangen war und dort, obwohl bereits Rentnerin, um einen Arbeitseinsatz bat. Ich hatte erfahren, daß nicht wenige vom medizinischen Personal den Eid des Hippokrates vergessen und über die offene Grenze verschwunden waren, und wollte einfach helfen. In der Eingangshalle des Krankenhauses stand eine große Litfaßsäule der CDU. Auf ihren Plakaten warb sie marktschreierisch um die Gunst der zukünftigen Wähler. Einige Schritte weiter gab es noch eine gute Bibliothek. An ihrem kleinen Fenster hing ein Plakat mit dem Heine-Zitat („Nachtgedanken"):
»Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht."
Ich tat meinen Dienst 3-4 Stunden am Tag in der Urologie (Männerstation), so wie ich gebraucht wurde und es medizinisch vertretbar war.
Die Schwestern und Ärzte, die ich dort kennenlernte, hätten alle den „Vaterländischen" verdient gehabt, aber ich spürte, daß man Abstand zu mir hielt, obwohl ich eingesetzt wurde, als wenn ich zum medizinischen Personal gehören würde. Besonders deutlich wurde der Abstand am Internationalen Frauentag, dem 8. März. Alles gratulierte sich, alles freute sich, wie es in der DDR üblich war. Eine Kaffeetafel wurde organisiert und gefeiert. Zu mir sagte niemand ein Wort.
Ende März erklärte ich dann der Stationsschwester, daß ich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr kommen könne. Das Gespräch wurde sehr offen und aufschlußreich, ich sprach auch über die Motive, die mich bewogen hatten, hier im Krankenhaus eine Arbeit aufzunehmen. Die Stationsschwester war erstaunt. „Warum haben Sie das nicht schon früher gesagt, dann hätten wir Sie doch ganz anders behandelt!"
Im Nachhinein mochte ich erklären: „Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem medizinischen Personal der Abt. Männerstation Urologie! Ich war nie bei der Staatssicherheit oder einem anderen Geheimdienst und hatte auch nie mit solchen Dingen zu tun. Die Motive, aus denen heraus ich hier arbeitete, waren rein humanitärer Art; ich wollte den Kranken helfen."
Allerdings - die Antriebe zu einer solchen Haltung kamen gewiß aus meinem in der DDR gewachsenen sozialistischen Gedankengut, denn in der DDR galten im Unterschied zu heute Solidarität und gegenseitige Hilfsbereitschaft viel. Deshalb nahm ich auch an vielen Demos teil, wo es um den Erhalt, um eine bessere DDR ging.
Die Unruhe auf unseren Straßen, die Ungewißheit über das, was da kommen würde, zerrte an unseren Nerven.
Da waren die von DDR-Produkten leergefegten Geschäfte und Kaufhallen. Die ehemals gut besuchten, gepflegten Restaurants wie „Warschau" oder „Budapest" wurden geschlossen. Im „Warschau" sollte nach der Wende etwas ganz Großartiges entstehen. Heute steht es - mit abgehacktem Putz im Inneren - immer noch leer. Im „Budapest“ hat sich in den oberen Räumen eine Bank etabliert, und der ehemalige „Zigeunerkeller", in dem wir nach den Klängen von Zigeunermusik gut gegessen haben, ist zugesperrt. Das „Moskau" hielt sich noch länger, dann aber wurde es auch geschlossen - angeblich wegen Sanierungsarbeiten. Die ganze Anlage ist nun wohl auch dem Verfall preisgegeben. Auch das Hotel „Berolina", das schon nach der Wende aufpoliert worden war, mußte im Zuge des „Aufbau Ost" einem neuen Rathaus weichen.
In diesem Zusammenhang soll unbedingt unser Palast der Republik erwähnt werden. Auch ich gehörte zu seinen ständigen Besuchern, ob nun anläßlich von Sinfoniekonzerten im Großen Saal oder einfach nur für eine Tasse Kaffee. Wunderschön war es im Foyer mit seinen weichen Ledersesseln, wo man ruhen und die Innenarchitektur genießen konnte - die schöne stilisierte gläserne Blume und den je nach Jahreszeit wechselnden Duft des Blumenarrangements. Nach aufwendiger Asbestsanierung soll der Palast nicht etwa wieder hergerichtet, sondern zu Teilen oder ganz abgerissen werden, um einem Nachbau des alten Berliner Schlosses der Hohenzollernkönige und -kaiser zu weichen.
Am 24.4.1995 trafen sich 250 ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Parlamentariern und erklärten ihnen, daß im Palast 95 Prozent aller Veranstaltungen kulturellen Zwecken dienten. Für den FDP-Abgeordneten Gerhard Schiela ist der Palast ein unverzichtbares Stück seines Lebens. Er sagte, er sei stolz darauf, mit den Professoren Erhard Gißke und Heinz Graffunder als Bauleiter daran mitgearbeitet zu haben. So etwas wie den Großen Saal, für den er verantwortlich war, gäbe es kein zweites Mal. Professor Eisentraut erklärte, daß es zu diesem Saal in Europa nichts Gleichwertiges gäbe. Bauingenieur Uwe Lehmann von den Bundnisgrünen stellte fest: „Und was die Asbestbelastung angeht, so läßt sich der Palast ebenso sanieren wie das ICC.“
Im September 2000 zeigte man im Fernsehen (ARTE) einen Dokumentarfilm von Thomas Beutelschmidt und Julia M. Novak. Im begleitenden Pressetext wird festgestellt, daß der Palast von 1976-1990 60 Millionen Besucher hatte! Und: „Er diente nicht nur als Sitz der Volkskammer, sondern vor allem als beliebter Treffpunkt mit einem attraktiven Kulturangebot und gern besuchten gastronomischen Einrichtungen.“
Und da erdreistet sich eine Frau Lengsfeld (CDU) in ihrem „Informationsblatt“ vom 16.9.2000 an alle Bundestagsabgeordneten zu behaupten: „Der Palast der Republik hat nie Anziehungskraft für die „Bevölkerung“ der DDR besessen. Die standen immer außen vor, wenn es Funktionärsfeten im Palast gab ...“
Diese
Lügnerin ist ja wie der Satan, der sich als Engel verkleidet hat!
Zurück zur Karl-Marx-Allee. Vor dem geschlossenen Budapest saß eine entlassene Angestellte und verkaufte Gewürze aus ihrer gewesenen Arbeitsstätte.
Die ehemaligen Werktätigen der Weingroßhandlung versuchten in einem Pförtnerhäuschen in der Friedenstraße ihr Glück mit dem Verkauf des Weines, der bisher in den Katakomben ihres Betriebes gelagert hatte. Eine Angestellte erzählte mir, daß die Katakomben erst in den achtziger Jahren für Millionen von Mark restauriert worden waren.
In vergleichbarer Situation waren die Arbeiter und Angestellten der Brauerei an der Ecke Richard-Sorge-Straße/Leninallee. Ihr bisher auch im Westen begehrtes Bier wurde nicht mehr abgenommen, denn der DDR-Großhandel war geschlossen. So machten sich also junge Menschen in nagelneuer Brauereikleidung auf den Weg, um ihr Bier auf den Straßen zu verkaufen. Ich sah sie auf einem Lastwagen stehen. Freundlich und etwas hilflos lächelnd boten sie Passanten ihr Bier an. Ich gab ihnen den Tip, zur Ecke Karl-Marx-Allee/Petersburger Str. zu fahren. Dort hatten sich schon mehrere DDR-Bürger einen Stand aufgebaut, um ihre Produkte zu verkaufen. Die jungen Bierbrauer folgten meinem Rat.
Von einem Laster der Großbäckerei Berlin verkaufte der Kraftfahrer die von seinen Kollegen gebackenen Doppelschrippen für 15 Pfennig - und die Berliner standen Schlange.
Im Brauereikomplex Richard-Sorge-Str. waren die Tore weit geöffnet. Ein Arbeiter verkaufte vom Lager aus Bier kastenweise, und auch hier waren die Berliner eifrige Kunden. Alles was Beine oder fahrbare Untersätze hatte, kaufte, was der Geldbeutel hergab.
Die „Treue Hand" machte dann wohl diesem freiwilligen Verantwortungsbewussten Handeln der Noch-DDR-Bürger ein Ende. Die Brauerei und die Weingroßhandlung wurden im Rahmen der großen Plattmache geschlossen und dann abgerissen.
Im Herbst '90 war ich nach allen Erschütterungen erholungsreif. Ich wollte mir beim FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) mit dem Gewerkschaftsausweis in der Tasche einen Ferienscheck besorgen. Mit der S-Bahn fuhr ich für 20 Pfennig bis zur Jannowitzbrücke und bekam in der Wallstraße den gewünschten Scheck für ca. 150 DM.
Das Heim lag in der Kleinstadt Templin außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauer. Meiner Nachbarin und mir wurde ein Zweibettzimmer (Dusche mit warmem und kalten Wasser, Toilette, Waschbecken) zugewiesen. Wir waren wohl die letzten Urlauber, denn ich erfuhr, daß das Heim jetzt mit zerschlagenen Fenstern und Türen leer steht und verfällt. Noch aber war es voll besetzt mit Urlaubern aus der ganzen Republik.
Wir fühlten uns wohl, erhielten gutes Essen, machten Wanderungen in die schöne Umgebung und besuchten DIA-Vorträge, in denen uns die Besonderheiten der Wälder und Seen mit ihren seltenen Tierarten (u. a. Eisvogel) vorgestellt wurden.
Unsere Streifzuge führten natürlich auch in die Stadt. Hier tat sich das Gleiche wie in Berlin. Die Geschäfte waren mit Westwaren vollgestopft, und auf dem Marktplatz versuchten die noch arbeitenden Menschen ihre Produkte zu verkaufen.
Ein Imker bot seinen hochwertigen Honig an, aber die Bürger kauften den minderwertigen ALDI-Honig für 1,50 DM. Die westlichen Exporteure nutzten die willkommene Gelegenheit, ihre Überproduktion und überlagerten Ramsch loszuwerden.
Die Gemeindeschwester machte sich Sorgen um die von ihr viele Jahre lang betreuten alten Leute. Sie kannte ihre Leiden und Probleme sehr gut. Noch gab es kein von Bürokraten ausgeklügeltes Betreuungssystem, in dem die Dauer der einzelnen Verrichtungen bei der Betreuung Pflegebedürftiger nach Minuten vorgegeben war (wie technische Arbeitsnormen in der Industrie). Offenbar ist so etwas nur in einem Staat möglich, wo sich alles um den Profit dreht.
In der Bank schrie ein alter verzweifelter Herr die Angestellten an: „Ihr seid alle Verbrecher!“ Er sorgte sich um sein wohlverdientes Geld - so wie wir auch. Man hatte unsere Konten geteilt und nur bis zu 4 000 DM 1:1 umgetauscht. Unser Geld war ehrlich erarbeitet und stammte nicht aus fragwürdigen Geschäften.
In einem „Rechtsstaat" ist es freilich möglich, daß ein Herr Kohl sich mit 300 000 DM aus dem CDU-Spendenskandal, in den er tief verstrickt war, herauskaufen und wieder mit weißer Weste dastehen kann. Oder aber daß ein Obdachloser, der zur Nacht bei Minusgraden in einem Bahnhof etwas Wärme sucht, von Ordnungshütern hinausgetrieben wird. Am anderen Morgen fand man seine Leiche. So geschehen vor einem Jahr. Ich frage mich immer wieder: Was hätten die westlichen Medien nicht für Gift gesprüht, wenn so etwas in der DDR vorgekommen wäre!
Das konnte aber nicht sein, denn in der DDR gab es keinen Parteispendenskandal und es gab auch keine Obdachlosen. Jeder hatte eine Wohnung und eine sozial abgesicherte Existenz.
Zurück nach Templin.
(Es gibt eben immer wieder Anknüpfungspunkte an die großen Themen!)
Eine alte Dame gab dem empörten Herrn in der Bank recht, so wie wir auch. Durch das gemeinsam Erlebte ergab es sich, daß wir zum Streußelkuchenessen in ihre Wohnung im nächsten Dorf eingeladen wurden. Sie hatte die Sorge, daß der Gutsherr wieder zurückkehren würde, unter dem sie als Magd und Tagelöhnerkind aufgewachsen war - mit der Bildung einer Einklassenschule. Deren Erziehungsziel entsprach dem Sprichwort: „Ein Ochse vor dem Pflug und einer hinter dem Pflug; das reicht!“ Nach 1945 war der Gutsherr nach dem Westen getürmt.
In der DDR wurde das Bildungsprivileg der Reichen aufgehoben. Den Kindern und Enkeln der ehemaligen Magd standen die kostenlosen Bildungschancen der DDR zur Verfügung. Da war der Weg von der polytechnischen zehnklassigen Oberschule über das Abitur mit Berufsausbildung bis zum Fach- und Hochschulstudium.
Wie wird es jetzt werden?
Wir kehrten mit vielen guten Wünschen für die Zukunft zurück in unser (immer noch) FDGB-Heim.
Eines Tages fiel mehreren Urlaubern aus unserem Heim ein überdimensionales Plakat der SPD auf. Darauf stand mit großen Buchstaben:
„Endlich sind wir für Euch da!“
Dazu in Farbdruck abgebildete Erwachsene und gesunde fröhliche Kinder.
Am Mittagstisch, wo wir uns fast alle trafen, gab es empörte Worte und Blicke. „Habt ihr das gesehen und gelesen? Das kann doch nicht wahr sein! Was mischen die sich hier ein? Unsere Kinder haben alles, was sie für ihre geistige und körperliche Entwicklung brauchen!“
Langsam aßen wir weiter. Plötzlich sagte jemand: „Da muß etwas geschehen, so etwas lassen wir uns nicht bieten. Wir antworten! Wer macht mit?“
Im Kollektiv, das sich zusammenfand, wurden die Aufgaben verteilt, Zeichenkarton, Filzstifte, Zelleim und Pinsel beschafft und ein entsprechender Text entworfen. Ich schreibe ihn hier nach dem Gedächtnis auf:
„Für wen seid ihr da?
-
Für
arbeitslose Väter und Mütter?
-
Für unter Brücken
und auf Parkbänken schlafende Obdachlose?
-
Für Suppenküchen
zugunsten der Armen?
-
Für Straßenkinder
mit unzureichender Bildung und Kleidung?
-
Für Luxusvillen
der Reichen?“
(Von Kinderbanden z. B. in Hamburg hatten wir schon gehört. Meine Berliner Nachbarin wurde nach der Wende an der Ecke Weidenweg/Richard-Sorge-Straße von einer Schar Kinder umringt, die ihr die Tasche zu entreißen versuchten. Einige Schritte entfernt stand ein kriminell gewordener Jugendlicher und feuerte die Kinder an. Die Nachbarin konnte sich nur durch lautes Schreien und die Flucht in die unmittelbar daneben liegende Arztpraxis retten, und sicher auch nur, weil sie noch gut zu Fuß ist.)
Und wieder nach Templin.
Unsere Texte standen auf Zeichenkarton. Die einzelnen Blätter mußten untereinander geklebt werden. Wir - etwa sechs Personen - zogen im Dunkeln los, bewaffnet mit den zum Kleben notwendigen Utensilien. Es regnete in Strömen, also brauchten wir auch noch Regenschirme. Dann suchten wir in der Stadt nach einem geeigneten Platz. Auf dem Marktplatz stand schon ein düsterer Trupp in langen schwarzen Mänteln und dunklen Hüten mit Regenschirmen darüber. Der Redner am Pult wurde besonders geschützt. Er sprach wohl über den zu erwartenden Wohlstand, wenn die CDU die Macht in Händen hätte. Der düstere Trupp hörte aufmerksam zu. Wir aber dachten, hier müsse geklebt werden! Leider konnten wir keine geeignete Fläche entdecken.
Zurück in Richtung Tor und an der Kirche vorbei. Hier kam uns Wittenberg in den Sinn und Luthers Thesen. Aber jemand sagte: „Wir wollen keinen Ärger mit der Kirche.“
Hätten wir gewußt, daß in dieser Stadt eine Angela Merkel sorglos ihre Kinder- und Jugendjahre verbrachte, mit kostenlosem Studium und gesichertem Arbeitsplatz? Daß der Herr Pfarrer, der in dieser Kirche Nächstenliebe predigte, ihr Herr Vater war? Nun, dann wären unsere Thesen an die Kirchentür geklebt worden. Das schwöre ich bei allen Heiligen!
Liebe Frau Merkel!
Dieses idyllische kleine FDGB-Heim wurde auch mit unseren Geldern erbaut. Jetzt ist es eine verlassene Ruine. Sollte bei Ihnen noch ein Rest christlichen Gewissens nachwirken, dann sagen Sie selbst - hätte sich in diesem Heim nicht wenigstens eine kleine menschenwürdige Obdachlosenunterkunft einrichten lassen, von Ihnen finanziert in Höhe der Kosten Ihres Studiums? Die seinerzeit der Staat DDR getragen hat?
Zurück
nach 1990.
Auf der anderen Straßenseite stand ein kleiner Zeitungskiosk, nur ein paar Schritte von dem SPD-Plakat entfernt. Die vorbereiteten Blätter wurden nun fein säuberlich auf die glatte Seitenwand geklebt - so fest wie möglich. Wir machten das so gut, daß unsere Texte noch Wochen danach gut zu lesen waren.
Der letzte Urlaub in einem FDGB-Ferienheim war zu Ende. Mit einer zünftigen Feier, in der ein Kulturprogramm, Tanz und geselliges Beisammensein das Gemeinschaftsgefühl festigten, nahmen wir Abschied voneinander.
Das Leben geht weiter. Ich muß in einem Staat leben, in dem Nazis
polizeigeschützt demonstrieren können, in dem
in ihrer Heimat verfolgte und an Leib und Leben bedrohte Flüchtlinge wie Parias
behandelt werden und wo eine andere Hautfarbe zur Lebensgefahr
werden kann. In einem Staat, der seine Soldaten im völkerrechtswidrigen
Krieg gegen Jugoslawien einsetzte, wo die NATO unter Führung der USA 78 Tage lang
auch Krankenhäuser, Schulen, Wohngebäude, Industriebetriebe, Brücken, Kraftwerke
und andere zivile Ziele bombardierte, sowie international geächtete Waffen (ca.
35 000 Streubomben und uranhaltige
Munition) zum Einsatz brachte. In einem Staat, da die Kriminalitätsrate
ungeahnte Höhen erreicht und die Arbeitslosenzahl die Vier-Millionen-Grenze übersteigt,
die Reichen immer reicher werden und die Armen immer zahlreicher und ärmer, und
in dem die kleinen Leute die Hauptlast der rigorosen Sparpolitik,
erzwungen durch die riesigen Schulden der öffentlichen Hand, tragen müssen.
In einem Staat schließlich, der mit einem gewaltigen Aufwand die DDR delegitimiert,
wo es nur irgend möglich ist, um ihre sozialen Leistungen vergessen zu machen.
Ja, in der DDR gab es Mängel und Schwächen und zuletzt ein Versagen ihrer Führung,
aber in diesem Staat wuchsen auch meine Vorstellungen von Humanität und
sozialer Gerechtigkeit, die mein Denken und Fühlen geprägt haben. Was wir
jetzt erleben, ist trotz des großen
Warenangebots, der Reisefreiheit, erneuerter Verkehrswege
und schöner Fassaden Kapitalismus pur!
vorhergehender Beitrag |