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Joachim Siegert

 Im Einigungsvertrag vergessen 

Als Freiberufler der Bereiche Kunst und Kultur - sowohl in der ehemaligen DDR, als auch nunmehr in der BRD - habe ich die Vor- und Nachteile beider Gesellschaftsordnungen im persönlichen Leben erfahren müssen.

Ich erwarb als Arbeitersohn (Jahrgang 1934) an der Arbeiter- und Bauernfakultät der Humboldt-Universität zu Berlin 1953 die Hochschulreife und fand mich plötzlich in einem inneren Konflikt zwischen den Auswirkungen und Folgen des 17. Juni 1953 und dem Ethos der Kulturphilosophie der „Ehrfurcht vor dem Leben“ von Albert Schweitzer, dessen Laudatio zur Verleihung des Nobel-Friedenspreises ich aufmerksam verfolgte. Als Folge meiner Zuneigung zur Lehre Albert Schweitzers wechselte ich 1955 für die Dauer meines Studiums von Berlin-Ost nach Berlin-West und kehrte nach bestandenem Staatsexamen 1960 in die DDR zurück. In Potsdam fand ich meine erste Anstellung als Künstlerischer Leiter des Solisten-Ensembles „John Scheer“. Hier wurde mir jedoch mitgeteilt, daß mein Examen wegen fehlender „marxistischer“ Lehre, welche es an der Hochschule in Berlin-West nicht gab, keine volle Anerkennung meiner Berufsbefähigung zulasse. Abermals geriet ich in innere Widersprüche, denn die Kulturphilosophie Albert Schweitzers beeinflußte mein Demokratieverständnis - wie auch das vieler DDR-Bürger - und das kollidierte in vielen Punkten mit der herrschenden politischen Praxis. So wurde ich Freiberufler und arbeitete für Honorare. Ich war sowohl als Konzertpianist wie auch als Repetitor tätig.

In meiner freiberuflichen Tätigkeit lernte ich Menschen ganz unterschiedlicher Professionen kennen, die entsprechend den geltenden Rechtsbestimmungen als „Werktätige“ galten und in jedem Falle eine garantierte soziale Absicherung hatten. Als Honorarempfänger mußte ich 20 Prozent Honorarsteuer abführen und war dadurch letztlich sozial gesichert. Musiker, Künstler, Saisonarbeiter o. ä. waren im Besitz eines Lohnnachweisbuches oder wurden über ein gesondertes Abrechnungsverfahren vergütet. In jedem Falle hatte der Bürger in der DDR eine Absicherung und mußte soziale Risiken nicht allein tragen.

Neben meiner pianistischen Tätigkeit arbeitete ich zugleich als Komponist und Arrangeur für Volkskunstensembles und wurde besonders bei den Arbeiterfestspielen tätig. Dafür erhielt ich 1963 vom Minister für Kultur, Hans Bentzien, den Kunstpreis der DDR. Bei den Arbeiterfestspielen errang ich auch dreimal die Goldmedaille im Bereich Kabarett und Satire.

Am 31. August l990 setzten Bundesinnenminister Schäuble und DDR-Staatssekretär Krause ihre Unterschriften unter den Einigungsvertrag. Dieser Vertrag regelt auf über 1 000 Seiten und in einer Reihe von Anlagen bis in Detail die mit dem Beitritt der DDR verbunden Fragen. Die rechtliche Stellung der „Selbständigen“, „Handwerker“ und der „Freiberufler“ wurde darin aber nicht geregelt. Trotz ständiger Bitten, Beschwerden und Anfragen tausender Betroffener waren die Unterzeichner des Einigungsvertrages Schäuble und Krause zu keiner Korrektur oder Ergänzung bereit. Somit erhielten die Berufsgruppen „Selbständige“ und „Freiberufler“ den Sozialstatus ihrer Kollegen in den alten Bundesländern und waren über Nacht verpflichtet, ihr soziales Risiko selbst zu tragen, was zu verheerenden Folgen führte. In der Bundesrepublik war dieser Personenkreis seit Jahren durch Rücklagen, Besitz, private Versicherungen usw. vor sozialen Risiken geschützt, nicht aber der entsprechende Personenkreis aus der ehemaligen DDR.

Für Freiberufler und Handwerker führte nun der zunehmende Zerfall der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen ab Frühjahr 1990 dazu, daß im Dienstleistungsbereich die privaten Aufträge storniert wurden und neue nicht hinzukamen. Handwerker aus den alten Bundesländern konnten mit neuen Technologien durch hochwertigere Auftragserfüllung immer neue Absatzmärkte auf Kosten der Handwerker aus den neuen Bundesländern erschließen und verdrängten diese mit Billigprodukten vom Markt. Die Folge war, daß bei den Handwerkern der ehemaligen DDR die festen Kosten höher waren als ihre Einnahmen und daß sie die Gewerbesteuer aus ihren Rücklagen finanzieren mußten. Meldeten die selbständigen Handwerker ihr Gewerbe ab, so war damit der Versicherungsschutz aufgehoben, wurde das Gewerbe aufrecht erhalten, so ging das zu Lasten der Rücklagen, die allmählich aufgezehrt wurden. Für die freiberufliche Tätigkeit in Bereich Kunst und Kultur bedeutete die Wende das Wegbrechen von Aufträgen jeglicher Art. So wurden keine der zuvor umfangreichen Aufträge der Gewerkschaften im Bereich des Ferienwesens mehr vergeben; die kulturellen Veranstaltungen nahmen insgesamt rapide ab. Nach der Währungsunion - 1. Juni 1990 - verschärfte sich diese Entwicklung noch. Für Freiberufler wirkte die DDR-übliche soziale Absicherung nur, solange sie Einzahlungen vorweisen konnten. Aber ihre Einnahmen aus beruflicher Tätigkeit schrumpften auf ein existenzgefährdendes Minimum, und so waren es nur wenige, die 1990 dieser Einzahlungspflicht noch nachkommen konnten. Mit dem In-Kraft-Treten des Einigungsvertrages brach jede soziale Absicherung für diese Berufsgruppen ab. Daraus folgte Verzehr der Rücklagen, Verkauf des Eigentums, Übersiedlung in die alten Bundesländer oder Alkohol - Prostitution - Freitod! Die Ermittlungen im genannten Zeitraum ergaben, daß ca. 110 000 selbständige Handwerker, unständig Beschäftigte, darunter Musiker und Künstler aus dem Unterhaltungsbereich, betroffen waren. Die Notlage der Betroffenen ergab sich auch daraus, daß diese Berufsgruppen vom Arbeitsamt nicht registriert wurden, d. h., sie bekamen weder eine Vermittlung noch Arbeitslosengeld und waren somit auch nicht versichert. Das betraf sowohl die letzte Zeit der DDR als auch den Zeitraum nach dem 3. Oktober 1990. Die Kosten für Arzt, Zahnarzt oder Krankenhaus mußten sie selbst tragen. Das war für viele unfaßbar. Die enorme psychische Belastung der Betroffenen führte zu einer hohen Zahl von Suiziden. Unter der Überschrift „Mehr Selbstmorde in der früheren DDR“ berichtet die Tageszeitung „Die Welt“ am 22.3.1991: „1990 haben sich in der Ex-DDR fast doppelt so viele Rentner umgebracht wie in den Alt-Bundesländern, insgesamt nahmen sich im vergangenen Jahr in der ehemaligen DDR 4294 Menschen das Leben, in Ost-Berlin stieg die Zahl der Selbstmorde nach der Wende von 139 (1989) auf 220.“ Ein hoher Anteil kam aus dem beschriebenen Personenkreis. Als Freiberufler war ich selbst einer der „Vergessenen des Einigungsvertrages“ und erhielt über einen Zeitraum von acht Monaten keinerlei Unterstützung vom Arbeitsamt oder einer anderen Stelle. Ich wurde gezwungen, meinen hochwertig gewarteten Konzertflügel der Marke „Bechstein“ für 3 000,00 DM zu verkaufen, um das Lebensnotwendige bezahlen zu können. Das wertvolle Instrument wurde sofort unverändert weiterverkauft und steht heute in einer führenden Kultureinrichtung Charlottenburgs. Ähnlich wie bei anderen „Vergessenen“ konnte auch meine Familie die enorme Belastung nicht mehr ertragen. Sie zerfiel.

Stellvertretend für viele in meiner Situation trat ich mit den Ergebnissen meiner Nachforschungen an die Öffentlichkeit. Unter dem Titel: „Die 110 000 Vergessenen des Einigungsvertrages“ und: „Mit Lohnnachweis zur Existenzbestattung“ schrieb ich Artikel für Zeitungen. Durch Zuschriften vergrößerte sich der bekannte Kreis Betrofener täglich und ich begann mit der Hilfe und Unterstützung des „Arbeitslosenverband Deutschland e. V.“ - der einzigen Organisation, die mir Gehör schenkte - innerhalb des ALV eine profilierte Arbeitsgruppe zu gründen. Ich stellte mich als Kontaktadresse zur Verfügung. Bei Konsultationen mit anderen Betroffenen entstand die Idee, sich an die UNO-Menschenrechtskommission zu wenden. Wir konnten die Publikationen des Arbeitslosenverbandes für uns nutzen und ein aussagefähiges Klagematerial für die UNO- Menschenrechtskommission zusammenstellen. Der ALV und seine aktiven Mitglieder griffen unsere Probleme auf und machten sie weiter öffentlich. Hervorheben möchte ich den damaligen Präsidenten des Arbeitslosenverbandes Deutschlands e.V., Dr. Klaus Grehn, die Vizepräsidentin, RA Germana Ernst, und den Landesverband Brandenburg. Da sind besonders Monika Bald und Prof. Dietrich Fischer zu nennen. Am 27. Februar 1991 wandte ich mich in einem offenen Brief an den Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, Herrn Dr. Manfred Stolpe. Der Titel: „Vom Sieg der Revolution zum Ende der Sozialpolitik!“ Ich schilderte die auswegslose Situation der im Einigungsvertrag vergessenen Berufsgruppen, deren Hilferufe und Bittschriften kaum oder nur lapidar beantwortet wurden. Ich bat um Hilfe und Unterstützung, verwies auf die 16 000 Gewerbeabmeldungen im Jahre 1990 und die 110 000 „Ausgegrenzten“ des Einigungsvertrages in den neuen Bundesländern und ersuchte darum, sich Entscheidungen in dieser Sache nicht von der Kohlregierung vorschreiben zu lassen. Unüberhörbar blieb der Kampf der Ministerin für Arbeit und Soziales des Landes Brandenburg, Regine Hildebrandt, gegen die unzumutbare Lage der „Vergessenen“. Die christlich-demokratische Kohlregierung erkannte jedoch keinen Handlungsbedarf. So wurde die Wahrheit ein Opfer auf dem Altar der Deutschen Einheit. Am 28. März 1991 veröffentlichte ich mein Klagebegehren an die UNO-Menschenrechtskommission. Bis zu diesem Tage trieben Resignation und Verzweiflung über 4 000 Bürger der neuen Bundesländer in den Freitod. Die Lage der Freiberufler und selbständigen Handwerker hatte sich dramatisch zugespitzt und so war es rechtens, gegen Krause und Schäuble eine Klage vor der UNO-Menschenrechtskommission zu beantragen mit dem Ziel, das Unrecht zu beseitigen, die Lücke im Einigungsvertrag zu schließen und den Betroffeneneinen sozialen Rechtsstatus zu geben. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden von ca. 90 Betroffenen durch meine Arbeitsgruppe alle Abrechnungsormen und Unterlagen zusammengetragen, die für ein beweiskräftiges und beschlußähiges Protokoll erforderlich sind. Die vollständigen Unterlagen gingen an den Vizepräsidenten des Arbeitslosenverbandes. Gleichzeitig unterhielt ich eine direkte Verbindung zum Mitglied des Deutschen Bundestages, Herrn Dr. Emil Schnell. Er wurde vom Fortgang des Verfahrens ständig informiert. Nach Veröffentlichung meiner Klage an die UNO-Menschenrechtskommission wurde eine Kopie an den Vorsitzenden des Arbeitskreises „Sozialpolitik“ der SPD-Bundestagsfraktion weitergeleitet. Am 24. April 1991 bekam ich vom Deutschen Bundestag die telegraphische Mitteilung: „Alles stoppen, die soziale Gleichstellung ist durch! Dr. E. Schnell.“ Einen Tag später erhielt ich von Dr. Schnell die schriftliche Bestätigung. Der gemeinsame Kampf mit dem Arbeitslosenverband im Interesse der „vergessenen“ Selbständigen, Kulturschaffenden usw. hatte sich also gelohnt.

Das Arbeitsförderungsgesetz - AFG, § 249C, Abs. 8a - wurde durch den Bundestag so geändert, daß die in der ehem. DDR Selbständigen usw. nun ebenfalls Unterstützung vom Arbeitsamt bekamen. Das betraf vor allem Arbeitslosenhilfe und das Altersübergangsgeld ab 55 Jahren. Dazu aber war für viele Selbständige ein ungewohnter bürokratischer Aufwand notwendig. Wir mußten Hilfe und Unterstützung geben, damit das neue Recht von den Betroffenen auch genutzt werden konnte. In einer Reihe von Arbeitslosenzentren des ALV wurden Foren zu diesem Thema durchgeführt; einer Vielzahl von Betroffenen konnte unmittelbar geholfen werden. Zum anderen wurden über weitere Möglichkeiten des ALV, besonders über die Mitteilungsblätter, Multiplikatoren angesprochen und so auf breiter Front Hilfe organisiert. Ich hatte dabei wiederum Dr. Klaus Grehn und Prof. Dr. Dietrich Fischer an meiner Seite.

Im Zeitraum der zunehmenden Erwerbslosigkeit entwickelten sich die Arbeitslosenzentren des ALV zu Beratungs-, Orientierungs- und Begegnungsstellen; sie wurden Treffpunkt für alle Betroffenen und Hilfesuchenden, auch für die spezielle Gruppe der bisher „Vergessenen“. Fachkenntnis und Kompetenz im Umgang mit dem Arbeitsförderungsgesetz machten die Arbeitslosenzentren zu Anlaufstätten des größten Vertrauens. Sehr oft führte der Weg zum Arbeitsamt erst über die Beratungsstelle des Arbeitslosenverbandes, dem dafür Dank gesagt werden soll.

Mir und über 110 000 ähnlich betroffenen „Vergessenen“ des Einigungsvertrages wurde so nach über einem Jahr größter Unsicherheit und finanzieller Not geholfen. Viele Betroffene haben das Ende der Not nicht erlebt, da sie den Belastungen nicht standhalten konnten.

Die rechtswidrige Bedrohung der Existenz von so vielen Bürgern, die keinerlei „Schuld“ auf sich geladen hatten, durch staatliche „Vergesslichkeit“ auf höchster Ebene soll in fester Erinnerung bleiben, desgleichen der Kampf der Betroffenen an der Seite des Arbeitslosenverbandes für ihr Recht!


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