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Jürgen Rudolf

Was kam danach?

 In den letzten Jahren vor der Wende war ich als junger Diplomingenieur im Dispatcherdienst der Deutschen Reichsbahn tätig. Ich konnte dabei einen ziemlich guten Einblick gewinnen, wie es wirklich um die Bahn stand, die viele Jahre nur noch auf Verschleiß gefahren wurde, um Quantitätskennziffern und Bilanzierungsvorgaben zu erfüllen, wobei jedoch Qualität und Arbeitsproduktivität immer mehr in den Hintergrund traten. Ich konnte auch erkennen, dass vielen leitenden Funktionären des Ministeriums für Verkehrswesen zur Lösung der Probleme allein der Aufbau eines Wasserkopfes einfiel.

Als die Grenzen offen waren, hatte ich nunmehr die Möglichkeit, einmal mit dem Intercity von Hannover nach Würzburg zu fahren. Was war das für ein Unterschied zu dem, was wir DDR-Bürger aus den letzten Jahren kannten! Der Zug fuhr 160, zwischen Fulda und Würzburg sogar 200 km/h, kein andauerndes Abbremsen auf ca. 50 km/h, keine Verspätung, Ansagen und Bedienung im Zug, bahnsteiggleicher Übergang in Würzburg auf einen anderen Intercity.

Mir ist aber auch aufgefallen, dass uns zwischen Hannover und Fulda, wo damals noch die Altstrecke befahren wurde, kaum ein Güterzug entgegen kam. Auch das wäre bei uns unvorstellbar gewesen. Ich konnte damals noch nicht wissen, dass der Güterverkehr dort hauptsächlich nachts stattfindet. Es war aber dennoch ein erster Vorgeschmack auf den künftig geringen Stellenwert des Güterverkehrs mit der Bahn.

Bei vielen Eisenbahnern gab es zur Wendezeit schon die Bereitschaft zu tiefgreifenden Veränderungen. Ich gehörte zu jenen, die sich über eigenständige Verbesserungen bei der Deutschen Reichsbahn Gedanken machten und war dabei durchaus bereit, auch nach dem Westen zu sehen. Ich begriff zu spät, oder wollte auch zu lange nicht wahrhaben, dass es im Grunde nur noch um ein organisiertes Hineinfuhren der ostdeutschen Eisenbahnen in die Bundesbahn ging.

Andere, von denen man kraft ihrer Positionen einen glühenden, patriotischen Einsatz für den Sozialismus hätte erwarten dürfen, hatten das viel früher erkannt und sehr schnell unterwürfige Kontakte zur Bundesbahn geknüpft. Schließlich wurde ich in eine Abteilung versetzt, die sich damals überwiegend mit DV-Verfahren (DV = Datenverarbeitung) befasste. Das führe ich auf den Einfluss solcher Mitarbeiter zurück, die mich nicht mehr in der relativ exponierten Stellung gebrauchen konnten. Obwohl sich meine soziale Lage nicht verschlechterte, war es für mich eine Demütigung, für deren Verarbeitung ich Jahre gebraucht habe.

Als ich Ende 1990 meine ersten persönlichen Kontakte zu westdeutschen Kollegen hatte, gelang es mir nicht, das erforderliche Selbstbewusstsein zu entwickeln. Das konnte ich erst in den Folgejahren schrittweise aufbauen. Ich musste die Erfahrung machen, dass man auch bei einem noch so herzlichen Verhältnis und vermeintlicher Nähe der politischen Ansichten gegenüber westdeutschen Kollegen immer eine gewisse Distanz wahren, eine Grenze beachten muss, bei deren Überschreitung man an Achtung verliert.

In den ersten Jahren nach 1990 kam es zu einem Abfall der Transportleistungen der ostdeutschen Eisenbahnen ins Bodenlose. Zahllose Bürger schafften sich ein Auto an, die meisten produzierenden Betriebe brachen zusammen und der Transport und die Verteilung der westdeutschen Waren im Osten ging über die Straße. Das hatte zur Folge, dass plötzlich für den riesigen Personalbestand kaum noch Arbeit da war. Bei nicht wenigen westdeutschen Kollegen, die von der hohen quantitativen Auslastung in der Zeit vor der Wende kaum Vorstellungen hatten, entstand uns gegenüber in diesen Jahren eine gewisse Überheblichkeit. Die „Wessis“ ließen uns in Gesprächen ihre Ansicht spüren, wonach im Osten sehr, sehr viele Mitarbeiter sehr wenig Arbeitsergebnis bringen.

Trotz aller Probleme in den Jahren unmittelbar nach der Wende ließ sich nicht abstreiten, dass es Fortschritte in der Sanierung des ostdeutschen Streckennetzes gab. Es herrschte eine gewisse Aufbruchstimmung. Es baute einen wieder auf, die Fahrzeiten in einem neuen Fahrplan mit denen aus dem vorherigen zu vergleichen.

Für meine Tätigkeit in der Datenverarbeitung fiel es mir in der ersten Hälfte der 90er Jahre nicht leicht, eine Motivation zu finden. Während mich mein Arbeitsgebiet bis dahin wirklich interessiert hatte, konnte man das nun nicht mehr sagen. Ich hatte den hoffnungslosen Kampf gegen eine übermächtige Westkonkurrenz zu führen, die nicht die Überreste des Rechenzentrums der Reichsbahndirektion Schwerin hinter sich hatte, sondern den Konzern ALCATEL SEL. Man ließ uns dennoch einige Jahre weitermachen. Wir konnten auf die sich damals rasant ändernden fachlichen Anforderungen relativ schnell reagieren, und unsere Leistungen mussten bahnintern noch nicht gesondert abgerechnet werden. Als eine Stabilisierung der fachlichen Anforderungen absehbar wurde, beauftragte man die privatwirtschaftliche Konkurrenz für teures Geld mit dem Neuaufbau eines DV-Verfahrens, in das einige unserer Ideen einflossen. Der Auftrag wurde professionell umgesetzt, und wir waren plötzlich überflüssig. So konnte ich nicht verhindern, dass die bis dahin in Schwerin tätigen Programmierer entweder Abfindungsregelungen in Anspruch nahmen, oder nach Frankfurt (M) versetzt wurden.

Neu war für mich auch die Erfahrung der alle 2-3 Jahre stattfindenden Umstrukturierungen, die bei der Bahn in vielen Fällen mit Versetzungen in die alten Bundesländer verbunden waren und sind. Das betraf auch Tätigkeiten wie meine, die nicht unbedingt ortsgebunden sind. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Holding, die sich überwiegend mit Personal- und Finanzfragen, weniger jedoch mit den unmittelbaren eisenbahnspezifischen Problemen beschäftigt, in Berlin angesiedelt wurde. Es handelt sich um Tätigkeiten und Qualifikationen, für die sich Mitarbeiter mit DDR-Biografie kaum eignen. Bei solchen Umstrukturierungen mit massenhaften Arbeitsortwechseln gehen erfahrungsgemäß viele Mitarbeiter nicht mit, was möglicherweise bewusst einkalkuliert wird. Ein Nebeneffekt ist jedoch, dass in solchen Fällen die besten und kreativsten Mitarbeiter die ersten sind, die abspringen, weil sie im bisherigen Wohnort noch am ehesten andere Tätigkeiten finden. Dennoch muss man fairer Weise sagen, dass der Personalabbau bei der Eisenbahn insgesamt weniger brutal verlaufen ist - und immer noch verläuft - als bei der Mehrheit der anderen Arbeitgeber.

Wie durch ein Wunder bin ich selbst bis zum heutigen Tag einer Versetzung nach Frankfurt (Main) entgangen. Das ist - zumindest teilweise - dem großen Engagement meines früheren Chefs zu verdanken, der von einem Gruppenleiter in der zentralen Leitung der Deutschen Reichsbahn zu einem Hauptabteilungsleiter in der Zentrale der Deutschen Bahn AG aufgestiegen war. Nach wie vor aber ist mit einer solchen Versetzung jederzeit zu rechnen, was mir und meiner Familie sehr große Probleme bereiten würde. Dadurch, dass ich in Berlin tätig bin, sind mir jedoch auch Wege des beruflichen Aufstieges versperrt. Andere etwa gleichaltrige Mitarbeiter ostdeutscher Herkunft, die sich mit dem Umzug in den Raum Frankfurt (M) abgefunden haben, sind inzwischen in höhere Leitungsfunktionen aufgestiegen.

Mir ist die Fabel vom Fuchs und den Trauben bekannt. Es steht jedem Leser frei, mich daran zu erinnern. Ich lebe damit, nur gehobener Mitarbeiter zu sein. Es hat den Vorteil, dass man sich mit der fachlichen Arbeit intensiv befassen kann, und Tätigkeiten wie Umstrukturierungen und die Bearbeitung von Personal(abbau)fragen nicht mein Arbeitsgebiet sind.

Seit 1997 beschäftige ich mich mit betriebswissenschaftlichen Untersuchungen, ein Arbeitsgebiet, das vielen unerfahrenen Hochschulabsolventen sehr attraktiv erscheint, und was ich zu DDR-Zeiten nie machen wollte. Ich konnte diesem Arbeitsgebiet jetzt jedoch wesentlich mehr abgewinnen, als der Betreuung von DV-Verfahren. Die Arbeitsaufgaben betrafen und betreffen immer noch fast ausschließlich westdeutsche Themen. Bei der Bearbeitung der EXPO 2000 in den Jahren 1998/99 habe ich wesentlichen Einfluss auf den Fahrplan des Sonderverkehrs genommen. Das war eine Tätigkeit, in der ich aufgegangen bin. Der Großraum Hannover, um den es ging, wurde im Vorfeld der EXPO von allen Seiten mit Investitionen bevorzugt, so dass etwas Neues und Besseres aufgebaut werden konnte, das auch über die EXPO hinaus Bestand hat.

Als ich 1999 den Großraum Leipzig zu bearbeiten hatte, wurde mir vieles klar, was ich, geblendet durch Hannover, bis dahin nicht richtig verinnerlicht hatte. Am Leipziger Hauptbahnhof hatte zwar der damalige Bundeskanzler einen Konsumtionstempel als Indiz für den Aufschwung Ost eröffnet. Wie sah es aber mit den Zügen aus, die von diesem Bahnhof fahren? Auf der Strecke Leipzig/Halle - Berlin z. B. fuhren am ganzen Tag nur noch so viele Schnellzüge (Verzeihung, Intercity!), wie 10 Jahre zuvor in der Spitzenstunde. Keine der von Leipzig abgehenden Strecken war 1999 schneller, als zur jeweils besten DDR-Zeit. Teilweise sehr viel langsamer waren die mittelmäßig bis weniger wichtigen Strecken. Gerade bei diesen handelte es sich in der Regel nicht um Bauzustände, deren Ende absehbar war, sondern auch um über Jahre vernachlässigte Instandhaltung. Es war zum großen Teil eindeutig ein Nachwende-Verfall, den ich in diesem Ausmaß in keiner westdeutschen Region und auch nicht im Norden und der Mitte des Ostens kennen gelernt habe.

Als ich ansatzweise auf diese Problematik gegenüber Leitungsinstanzen aufmerksam machen wollte, wurde das unterbunden. Ich wurde Tage und Wochen mit der Abfassung von Berichten beschäftigt. Diejenigen, in deren Kompetenz die Umsetzung meiner Untersuchungsergebnisse gelegen hatte, haben nie von diesen erfahren.

Inzwischen ist in diesem Raum ein Trend zur Verbesserung eingetreten.

In der Folgezeit bis heute habe ich nur noch westdeutsche Themen bearbeitet. Das liegt daran, dass in den westdeutschen Eisenbahnknoten die Streckenbelegung in der Regel wesentlich dichter ist als im Osten und größerer Bedarf für betriebswissenschaftliche Untersuchungen besteht.

In diesem Zusammenhang möchte ich sagen, dass ich in den ersten Jahren das uns verordnete „Deutschland einig Vaterland“ gefühlsmäßig überhaupt nicht angenommen, sondern eher eine Verweigerungshaltung hatte. Durch meine berufliche Tätigkeit hat sich das jedoch etwas relativiert. Ich kenne viele westdeutsche Kollegen, und habe durchaus ein gutes Verhältnis zu ihnen. Weiterhin habe ich eine, wenn auch auf die Eisenbahn beschränkte, detaillierte Ortskenntnis in vielen westdeutschen Regionen erworben. Ich stehe gefühlsmäßig dem „einig Vaterland“ nicht mehr so ablehnend gegenüber.

Geht man in München durch Verwaltungsgebäude der Bahn, so hört man keinesfalls nur bayrischen Dialekt, sondern auch vertraute ostdeutsche Mundarten - meistens von jüngeren Kollegen. In der Kantine habe ich einen Aushang gesehen, wo demjenigen eine Prämie von 500,- DM versprochen wurde, der einen Projektierungsingenieur findet, welcher bereit ist, dort anzufangen. Aus verschiedenen Untersuchungen ist mir bekannt, dass auf den Eisenbahnstrecken um München ein deutliches Verkehrswachstum stattfindet, das einige Probleme bereitet.

Wie aber verhält es sich z. B. in Leipzig? Dort wurde eine Netzniederlassung gebildet, die wesentliche Teile der Aufgaben der früheren Reichsbahndirektionen Halle, Erfurt, Dresden und Magdeburg wahrnimmt. Mir ist bekannt, dass es um die Stellen ein großes Gerangel gegeben hat. Jüngere Mitarbeiter sind hier selten anzutreffen.

Die Transportleistungen der Eisenbahn stagnieren in dieser Region auf niedrigem Niveau. Was das bedeutet, wird an folgendem Beispiel deutlich: In den letzten Jahren wurde der Bahnhof Bitterfeld völlig umgebaut. Dabei wurden jeweils über Monate mehrere wichtige Gleise gleichzeitig gesperrt, ohne dass sich diese Einschränkung nennenswert auf die Pünktlichkeit ausgewirkt hatte. Hätte vor 1989 ein solcher Zustand auch nur einige Tage bestanden, so hätte das DDR-weit einen katastrophalen Einbruch der Pünktlichkeit des Reiseverkehrs und der Leistungen im Güterverkehr zur Folge gehabt.

Stellenangebote im Osten sind eine Ausnahme. Wenn es sie gibt, dann betrifft es in der Regel nur Funktionen im Marketing- und Personalbereich.

Wenn auch in meinem unmittelbaren Umfeld die Altersstruktur noch nicht bedrohlich ist, so wurde jedoch auch bei uns seit 1990 keine Neueinstellung junger Mitarbeiter mehr vorgenommen. Es ist zu befürchten, dass in absehbarer Zeit viele noch bestehende ostdeutsche Betriebe wegen Überalterung des Personalbestandes und Mangel an qualifizierten jüngeren Mitarbeitern große Probleme bekommen werden.

Auch im Jahr 13 nach der Wende verdiene ich immer noch nur 90 Prozent.

Ich habe die Verbesserung der DDR, nicht ihre Vereinnahmung gewollt. Aber sich heute noch in der ostdeutschen Schmollecke verkriechen? Das geht nicht mehr. Dennoch wäre ich nur im Notfall, wenn die soziale Absicherung meiner Familie anders nicht mehr möglich ist, bereit, in die alten Bundesländer zu ziehen.

Ich kann feststellen, dass es mir persönlich bei allen Problemen nach der Wende noch recht gut ergangen ist. Ich habe einen bescheidenen Wohlstand für meine Familie und mich sichern können. Ich war nie arbeitslos und bin auch nicht unmittelbar davon bedroht. Ich bin immer noch am gleichen Ort wie 1989 tätig. Sollte es mit meiner Tätigkeit in Berlin zu Ende gehen, so würde ich verhältnismäßig leicht eine Tätigkeit in Frankfurt (M) oder auch München bekommen (noch). Über die relative Absicherung hinaus habe ich eine Tätigkeit, die mir durchaus Spaß macht, die in bestimmten Grenzen eine Identifikation mit der Arbeit zulässt. Das alles können heute sicher viele nicht von sich behaupten.

Dabei hatte ich insofern Glück, dass ich mich noch zu friedlichen DDR-Zeiten für eine Berufsrichtung entschieden habe, die auch unter den neuen Bedingungen ihre Bedeutung behalten hat. Mein Betrieb ist über die Wende hinweg bestehen geblieben, so dass ich über ein ununterbrochenes Arbeitsverhältnis seit 1977 verfüge. Mit meiner örtlichen Bindung an Berlin hatte ich wesentlich bessere Chancen, als andere, die zur Wende in kleineren ostdeutschen Städten tätig waren und teilweise bereits mehrere Arbeitsortwechsel durchmachen mussten.

Aber von der innerdeutschen Vereinigung sind wir - nicht nur bei der Eisenbahn - noch weit entfernt. Ich kann gegenwärtig auch nicht erkennen, dass der Unterschied zwischen Ost und West kleiner wird. Die Lösung dieser Aufgabe wird wohl noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen.

Soviel zu meiner „Ankunft“ in der Bundesrepublik Deutschland. 


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