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Lutz Schmidt

Mein Weg in die Marktwirtschaft

Die Endzeit der DDR begann für mich, im Rückblick gesehen, spätestens im Sommer 1989 erst mit den Botschaftsflüchtlingen und dann mit der Grenzöffnung in Ungarn. Es folgten bald die Montagsdemonstrationen. Überall gärte es, wurde diskutiert, es tauchten die ersten Flugblätter vom Neuen Forum und Demokratischen Aufbruch auf, die Sozialdemokratische Partei der DDR wurde gegründet. In Peking wurde auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ die „Konterrevolution“ mit Panzern niedergewalzt, was Egon Krenz verteidigte. In dieser Situation blieb unsere „Partei- und Staatsführung“ völlig sprachlos. Auch die Losung „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“ galt nicht mehr. Von Perestroika und Glasnost, sowie von irgendeiner Erneuerung war keine Spur. Erich Honecker reagierte mit den Sätzen „Wir weinen ihnen keine Träne nach“ (den Flüchtlingen), und „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf“. Das war noch die Zeit, in der vor allem ein besserer Sozialismus gefordert und auf die Lösung der vielen angestauten Probleme im sozialistischen Sinn gedrängt wurde. Ein letztes Aufbäumen der Staatsmacht erfolgte am Abend des 7. Oktober, als Hunderte in Berlin von den Straßen wegverhaftet wurden. In dieser Situation, in der niemand sagen konnte, was am nächsten Tag geschehen würde und schon gar nicht in naher Zukunft, spürte ich einen starken psychischen Druck. Ich kam mir vor, als würde ich jeden Tag durch ein Schmalzfaß gezogen werden. Die Sachen klebten mir vor Fett am Körper. Diese Erscheinung habe ich ausschließlich zu jener Zeit erlebt.

Um mich abzulenken, vergrub ich mich intensiv in Arbeit, die ich mir, wie üblich, selbst beschafft hatte. Dabei ging es wieder um neue Programme für die ASA (Automatische Steuereinrichtung für Stromerzeugungsanlagen), und um Prüfprogramme für dieses Erzeugnis, das für den Schiffbau bestimmt war (siehe mein Beitrag für „Spurensicherung IV“).

Am 9. November 1989 öffneten sich wie ein Überdruckventil auf einem Kessel die Grenzen nach Westberlin und zur Bundesrepublik Deutschland. Danach war ein „Himmlischer Frieden“ wie in China nicht mehr zu erwarten und für mich bedeutete das eine gewisse Entspannung. Aber sehr bald kam die Parole „Wir sind ein Volk“ auf und alle Räder drehten sich jeden Tag schneller in Richtung Währungsunion und Anschluß an die BRD. Diesen Vorgang konnte offenbar niemand anhalten oder auch nur bremsen und in vernünftige Bahnen lenken: Konföderation, wirtschaftliche Angleichung und spätere Vereinigung gleicher Partner mit neuer Verfassung (Konzept der Modrow-Regierung). Ich machte mir Sorgen: Was wird bei Einführung der D-Mark mit unserer Wirtschaft geschehen, welche Produkte waren bisher tatsächlich gewinnbringend NSW-exportfähig? Was wird aus unserem Absatzmarkt in den ehemaligen RGW-Staaten? Womit können und sollen diese Länder dann bezahlen? Ich will nicht im Nachhinein schlauer als viele Politiker damals sein. Aber wahrscheinlich war das für die Bonner Regierung eine einmalige Gelegenheit, die DDR zu „beenden“ und abzuwickeln, da sie von der Sowjetunion offensichtlich aufgegeben war. Es standen neue Absatzmärkte für den Westen in Aussicht und der „Kanzler der Einheit“ Helmut Kohl konnte weitere Legislaturperioden regieren.

Wie ging es nun in meinem Betrieb, VEB Elektroprojekt und Anlagenbau Berlin, (Stammbetrieb des Kombinates Automatisierungsanlagenbau mit direkt dem Stammbetrieb angeschlossenen Betrieben in der ganzen DDR) mit der „Wirtschafts- und Währungsunion“ in Sicht weiter? Es änderte sich im Betrieb nicht viel. Die einzige Neuerung war, dass man über alles offen sprechen und nach Feierabend nach Westberlin fahren konnte. Den Tag der Einführung der D-Mark verbrachte ich auf der Ostsee bei der Erprobung eines neuen Frachtschiffes. Die DDR-Mark galt an Bord bis zum Einlaufen des Frachters in die Warnowwerft Warnemünde weiter. Nun musste ich mir für meine „Reisedevisen" eine Fahrkarte nach Berlin kaufen. Noch in der Modrow-Zeit konnten die DDR-Bürger begrenzt D-Mark zu unterschiedlichen Umtauschsätzen bei der Staatsbank der DDR erwerben. Die Volkskammer sollte dann jeweils zum Jahresende beschließen, wieviel „Reisedevisen" den Bürgern der DDR für das nächste Jahr, entsprechend der wirtschaftlichen Lage, zur Verfügung gestellt werden können. Dazu kam es nicht mehr, die D-Mark war in der DDR bereits gesetzliches Zahlungsmittel. Wegen meiner längeren Abwesenheit hatte ich zu Hause keine Lebensmittel und musste einkaufen gehen. Die HO-Kaufhalle war über Nacht zu Kaiser's geworden, alle Artikel kamen zu 100 Prozent aus dem Westen. Man konnte sich in der mit von Waren und Menschen überfüllten Halle kaum bewegen. Die Menschenmassen sahen sich die neuen Waren und Preise an, aber kaum jemand kaufte etwas. Man hatte sich im Ausverkauf an den letzten DDR-Mark-Tagen eingedeckt. Ich musste aber einkaufen und die Preise kamen mir im Vergleich zur DDR-Zeit sehr teuer vor. Dann konnte man in der Zeitung lesen, dass das Backwarenkombinat Berlin eine Tagesproduktion Brot wegwerfen und die ganze Produktion zunächst stoppen musste.

Über Nacht waren sämtliche Verträge in der Wirtschaft ungültig geworden und das traf natürlich auch meinen Betrieb. Sehr schnell stockte die gesamte Produktion, der Betrieb hatte keinen Absatz mehr. In meinem Bereich gab es lediglich geringe Ersatzteilverkäufe und letzte Lieferungen für den Schiffbau. Dieser arbeitete zu über 90 Prozent für die Sowjetunion und die konnte nicht in D-Mark oder Dollar bezahlen. Sehr bald setzte das große Aufräumen ein. Täglich wurden über längere Zeit fertige Produkte und zuvor kostbares Material verschrottet, oder teilweise an Händler für geringfügige Preise je Tonne verschleudert. Alles was nicht sofort verkauft werden konnte, sollte verschrottet werden. Ich verstehe den Vorgang so, dass der Betrieb für dieses „Vermögen“ Steuern hätte zahlen müssen. Nun setzte bei mir natürlich das Grübeln über den Bestand meines Arbeitsplatzes ein. Welche Leistungen konnte ich denn unter solchen Bedingungen für mein Gehalt bringen? Zur gleichen Zeit wurde das Kombinat aufgelöst und die Leitungsspitze des Betriebes entmachtet. Der Betrieb nannte sich nun „ELPRO AG", von der allerdings nie Aktien gehandelt wurden. Aus dem Nichts aufgetauchte Westmanager begannen den Betrieb aufzumischen, neue Strukturen einzuführen und neue Leiter einzusetzen. Im „Buschfunk" hörte man später, dass zwei der drei Herren ihr Studium abbrachen, um diese Aufgabe übernehmen zu können. In die mittleren und gehobenen Ebenen zogen teilweise „Kader“ ein, die schon früher in den Startlöchern saßen und irgendwann aufgestiegen wären. Nun spielten sie plötzlich mit den Kollegen Kapitalismus. Es wurde eine Liste mit den „unverzichtbaren Kollegen“ erstellt, die jeder einsehen konnte. Ich stand übrigens in dieser Liste, aber für viele, die sich dort nicht fanden, war das ein erster Schlag gegen ihre D-Mark- und Einheitseuphorie. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits Entlassungen. Das betraf vor allem zu sehr spezialisierte Arbeiter, die nichts mehr zu tun hatten und Angestellte, die interne Dienstleistungen brachten.

Der Kern meiner ehemaligen Abteilung wurde bald zum Vertrieb gemacht. Geschult wurde niemand, es gab nur einige bunte Hochglanzprospekte, die nicht viel über den Betrieb und seine Möglichkeiten aussagten. Bis dahin hatte es Absatzabteilungen gegeben, die die fertigen Produkte nach Bilanzen und Dringlichkeiten verteilten. Nun sollten wir, die über keinerlei Beziehungen und Erfahrungen verfügten, plötzlich Produkte und Leistungen unseres Betriebes anbieten und verkaufen. Es sagte uns auch niemand, was wir eigentlich anbieten sollten! Der Betrieb, der in der DDR sehr bekannt war und auch viel in den RGW-Bereich und die arabischen Länder exportierte, war durch die D-Mark ein „Niemand“ geworden. Es begann die „Schnitzeljagd“. Sämtliche irgendwie auftreibbaren Adressen und Telefonnummern von allen Betrieben der Bundesrepublik und Westberlins, die irgendetwas mit Elektrotechnik zu tun haben konnten, wurden zentral erfasst. Es gab Kopien von handschriftlichen Listen, die in Streifen zerschnitten an die Kollegen verteilt wurden. Nun sollten Kontakte aufgenommen werden, was zunächst telefonisch versucht wurde. In die BRD oder nach Westberlin zu telefonieren war sehr mühsam, weil es nur wenige Leitungen gab. Meistens scheiterte man bei den ersten Ziffern der Vorwahl. Normales Tagesergebnis war, wenn man eine „Westfirma“ erreichte und erfuhr, dass dort Staubsauger hergestellt wurden und kein Bedarf an einer Zusammenarbeit bestehe. Als „Vertriebsmann“ habe ich zwei Firmen in Westberlin besucht. Eine „Pancosmos GmbH“ in der Silbersteinstraße wollte unbedingt die Vertreter der ELPRO AG sehen. Gemeinsam mit einem Kollegen fuhr ich in meinem Trabant dort hin. Für solche Gelegenheiten hatte man sich zuvor bereits Anzug und Aktenkoffer zugelegt, der Trabant wurde schamhaft zwei Ecken weiter geparkt. Die großartige GmbH stellte sich als Elektroinstallationsbetrieb mit Sitz in einem kleinen Ladengeschäft heraus. In dem verstaubten Schaufenster lag einiges Installationsmaterial aus. Im Hinterzimmer ließ man uns auf einem alten Sofa Platz nehmen. Wir holten unsere ELPRO-Prospekte heraus. Auf einem Titelblatt war das große Bürogebäude mit sieben Etagen und dahinter die riesige Werkhalle zu sehen. Die Augen unseres Gesprächspartners glänzten. Er glaubte, er bekäme von uns den Auftrag, dieses Bürohaus und die Werkhalle zu installieren, und wir erwarteten von ihm Aufträge irgendwelcher Art!

Die zweite Firma war die „Heinkel Aggregatebau GmbH“. Den Papierstreifen mit Adresse und Telefonnummer hatte ich von anderen Kollegen eingetauscht. Diese Firma besaß auf der „Insel“ Westberlin ein Beinahe-Monopol auf Notstromanlagen und diese waren immerhin mein Fachgebiet. Ich schaffte es, telefonisch einen Termin mit dem Einkäufer dieser GmbH zu verabreden, was, für sich betrachtet, schon einen großen Erfolg bedeutete. Zunächst konnten ein Kollege und ich den Betrieb besichtigen. Der Kern bestand aus einer alten dunklen Werkhalle, in der im Krieg Flugzeugrümpfe produziert worden waren. Im vorderen Teil wurden Notstromaggregate montiert, der hintere Teil diente als Lager. Gleichzeitig liefen zwei Notstromaggregate im Probebetrieb, eines davon im Überlastbereich! Das erzeugt Schallpegel von über 100 dB. Solche Zustände waren in unserem Werk unvorstellbar gewesen. Dort gab es zwei Prüfstände und die waren gekapselt und stark schallisoliert. Unser Besuch hatte seinen Sinn. Diese GmbH kaufte für ihre Notstromaggregate Schaltschränke mit Steuerung und Starkstromteil bei einschlägigen Firmen. Wir verließen die Firma mit den kompletten Unterlagen eines solchen Schaltschranks und sollten ein Angebot abgeben. Dafür hatten wir dann 8 Wochen benötigt, weil wir alle in der Stückliste angeführten Hersteller erst ausfindig machen und Preise von ihnen einholen mussten. Anfang Oktober 1990 waren wir dann soweit und hatten mit unserem Angebot ins „Schwarze“ getroffen. Nun wollte man uns bei Gelegenheit einen Auftrag geben, um uns auszuprobieren. Danach geschah nichts mehr. Auf Nachfrage erfuhren wir, die Leitung habe weitere Kontakte verboten. Wahrscheinlich hatte man Angst vor dem noch riesigen Betrieb und seinen Möglichkeiten bekommen.

Auch sonst beschäftigten wir uns nebenbei weiterhin mit Notstromanlagen. Dazu gehörten Kollegen aus meiner ehemaligen Gruppe, die in der DDR-Zeit für Notstromanlagen und Bordnetzautomatisierung (Stromerzeugung auf Schiffen) zuständig waren. Es war uns klar, dass auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ein großer Bedarf entstehen würde, was dann auch eintraf. Später kam der ehemalige Abteilungsleiter Absatz dazu, der über Beziehungen zu potentiellen Kunden und über praktische Erfahrungen verfügte. Außerdem konnte er auch unter den neuen Bedingungen erfolgreich verkaufen. Ungeachtet der ständigen Umstrukturierungen blieben wir die nächsten Jahre zusammen. Der Betrieb hatte uns unbeabsichtigt eine Mitgift geliefert. Irgendein unglücklicher Mitarbeiter hatte gewohnheitsmäßig einen Jahresbedarf an Notstromaggregaten bei der „FIMAG" in Finsterwalde bestellt. Diese wurden nach der Währungsunion geliefert, waren zunächst so gut wie unverkäuflich und mussten vor der Verschrottung bewahrt werden. Weiterhin standen in Werkhalle und Versand viele fertige Notstromschaltschränke herum. Von diesem Bestand konnte allmählich immer mehr verkauft werden, was uns das Überleben im Betrieb sicherte. Über Weihnachten 1990 habe ich zu Hause den ersten Notstromschaltschrank mit komplett neuem Material nach VDE-Norm entworfen. Das war wichtig, weil im Vergleich zum Westen in der DDR die Entwicklung von etwa 20 Jahren mit zwei bis drei Generationen Technik auf dem Gebiet der Notstromsteuerungen ausgelassen worden war. Es gab zwar in meinem Betrieb mehrfach die Ansätze zur Entwicklung von neuen Erzeugnissen auf diesem Gebiet, die aber alle abgebrochen wurden. Bald darauf bin ich in Westberlin herumgefahren und habe bei verschiedenen Vertriebsfirmen Material für zwei Muster gekauft. Dort wurde ich wie ein Wunder bestaunt und mit Werbegeschenken überschüttet. Alle diese Firmen hatten sich noch nicht bewegt und haben unseren Betrieb erst später mit ihren Vertretern und Prospekten heimgesucht. Die zwei Muster wurden dann gebaut, erfolgreich getestet und verkauft.

Zur gleichen Zeit, etwa Ende 1990, setzte für den Betrieb eine gewisse Stabilisierungsphase ein. Die Investitionsprogramme der DDR-Zeit wurden zu Ende geführt. Dazu gehörten das Elektrifizierungsprogramm der „Deutschen Reichsbahn“ und der Kraftwerksanlagenbau. Bereits verschrottete Anlagen und Erzeugnisse mussten neu produziert werden. Wir profitierten auch davon und konnten vier Notstromanlagen, bereits mit neuen Notstromschaltschränken, die ich projektierte, verkaufen. Weiterhin wurde mit der Absicherung durch Hermesbürgschaften auch wieder in die Sowjetunion geliefert. Dabei handelte es sich natürlich nur um begrenzte Projekte, die Auftragssummen lagen aber im Millionenbereich. Mein Betrieb und auch ich hatten den „Urknall“ der Währungsunion und den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland zunächst überstanden.

Nun gab es verschiedene Ansätze zur Privatisierung durch die Treuhandgesellschaft. Dazu muss man wissen, dass der Betrieb im Kern aus einem Anlagenbaubetrieb, der international tätig war, und aus einem Produktionsbetrieb mit einer breiten Palette von Erzeugnissen bestand. Er wurde als sehr hochwertig eingeschätzt und sollte im Ganzen erhalten bleiben. Aber die großen Elektrokonzerne wie Siemens, AEG und ABB interessierten sich immer nur für einzelne Bereiche. In den Zeiten, da der jeweilige Konzern direkten Kontakt zum Betrieb hatte, ergab sich letztendlich nur ein Abschöpfen von Spezialisten, Kaufleuten mit Kundenkontakten und von gut ausgebildeten Facharbeitern. Natürlich schrumpfte der Betrieb ständig weiter. Verkauft wurde die ELPRO AG schließlich 1993 an drei Österreicher, die auch gleich noch zwei lufttechnische Anlagenbaubetriebe in Berlin erwarben. Was von ELPRO noch übrig war, zog auf das Gelände eines der beiden anderen Betriebe um. Das große, erst ab Ende der siebziger Jahre neu errichtete Werk mit einem riesigen Betriebsgelände übernahm eine Münchener Immobiliengesellschaft. Die Produktionsanlagen wurden in ABM-Arbeit demontiert und verschrottet. Heute gibt es auf dem Gelände einen Gewerbepark, zwei Autohäuser und zwei Tankstellen.. Ein Drittel der ehemaligen Werkhalle mit knapp 100 m Straßenfront beherbergt - mit neuer Fassade - das größte Mercedes-Autohaus Berlins.

Wir hielten uns in der Zeit ab 1991 weiterhin an unsere Notstromanlagen und erreichten 1993 einen Höhepunkt bei ständig wachsendem Auftragsvolumen. Den stetig wachsenden Erfolg sahen wir sozusagen als unsere Lebensversicherung an. In diesem Zeitraum wurden im Betrieb rundum sehr viele Kollegen entlassen, die sich nicht, so wie wir, neue Arbeit geschaffen hatten. Dazu gehörte ein ehemaliger Gruppenleiter, der mit Blick auf unsere Arbeit, einmal sagte: „Es kann doch nicht jeder machen, was er will!“ Zunächst nahm uns die Betriebsleitung kaum zur Kenntnis. Man gab uns auch keinen Auftrag für unsere Arbeit an Notstromanlagen. Aber man ließ uns gewähren, denn wir brachten immerhin Umsatz. Dann wurden wir „entdeckt“ und bekamen nacheinander verschiedene Leiter. Sie betrachteten fast alle ihre Zeit mit uns als Etappe bis zum Sprung in eine sichere Position bei irgendeiner West-Firma. Wir konnten zufrieden sein, wenn sie uns bei der Arbeit nicht behinderten. Alle verfügten auf unserem Gebiet über keinerlei Fachkenntnisse und bemühten sich auch nicht, verschiedene Probleme zu lösen, die sich aus unserem Verhältnis zum Gesamtbetrieb mit seiner für unsere Projekte unpassenden und hinderlichen Organisation ergaben.

Der letzte dieser Herren war anders, er wollte sich an uns profilieren. Dazu schlug er viel Schaum und wollte mit uns den Weltmarkt erobern. Wir waren „seine Recken“. Eine gewisse Zeit verfolgte er die Strategie „Verkaufen um jeden Preis“. Die Preise ließ er sich zum Teil direkt vom Kunden diktieren, was natürlich ausgenutzt wurde. Ein besonders krasser Fall war ein Auftrag, den er für etwa 90 000 D-Mark annahm. Es handelte sich um eine Notstromanlage mit drei oder vier Aggregaten für eine Bank in Frankfurt-Main, die technisch sehr kompliziert war. Dazu sollten mehrere Starkstromschaltfelder, die Steuerung mit einer Notstromautomatik für jedes Aggregat und eine übergeordnete Steuerung mit einer SPS (Speicher-Programmierbare-Steuerung) geliefert werden. Die Auftragssumme wurde bereits für den Kauf der Starkstromschaltfelder, die eine Schaltanlagenbaufirma zulieferte, komplett verbraucht. Aber es fielen natürlich Kosten für Projektierung, für Material und Fertigung der Steuerung, Programmierung der SPS, Montage und Inbetriebnahme an. Nach meiner Meinung wäre dieser Auftrag für eine Summe ab etwa 200 000 DM realisierbar gewesen. Was tat nun unser Leiter in dieser Lage? Er verteilte das Minus aus diesem und aus anderen Aufträgen, die er „errungen“ hatte, auf unsere sämtlichen Aufträge um. Diesen Vorgang konnte er bequem und für sich folgenlos in seinem Büro über den Computer realisieren. Zu dieser Zeit waren bereits in alle Büros Computer eingezogen, die untereinander und mit den zentralen Computern vernetzt waren. Es wurden nicht mehr papierne „EDV-Belege“ ausgefüllt, erfasst und in den „Rechner“ eingegeben. Jeder, der über die entsprechenden Berechtigungen verfügte, konnte über seinen Computer direkt von seinem Schreibtisch aus in alle Planungs-, Kontroll- und Abrechnungsprogramme des Betriebes eingreifen. So schaffte es unser Leiter, unsere sämtlichen Aufträge in die roten Zahlen zu bringen. Inzwischen ist der Mann bereits verstorben. Er gehörte zu denen, die es verstehen, sich unersetzbar zu machen. Entweder sitzt er jetzt beim Herrgott auf dem Schoß und dirigiert den Chor der Engelchen, oder er hilft dem Teufel, das Fegefeuer in der Hölle zu schüren.

Noch vor diesem letzten Leiter wurde uns eine Truppe von über zehn Entwicklern zugeteilt, die für uns arbeiten sollten. Dazu gehörten einige hervorragende Spezialisten für unser Fachgebiet. Sie entwickelten eine neue Notstromautomatik von sehr großem Funktionsumfang, die auch in kleinen Serien produziert und in unseren Anlagen verwendet wurde. Damit erreichten wir ein technisches Niveau, das andere einschlägige Firmen erst einige Jahre später vorweisen konnten. Das Gerät wäre, wenn verfügbar, nach fast zehn Jahren noch voll konkurrenzfähig gewesen und es sollte noch eine breite Palette weiterer Automatisierungsgeräte entstehen. Aber die erfolgreiche Arbeit der Entwickler wirkte sich sehr negativ aus. Sie erhöhte die schon ohnehin sehr hohen betrieblichen Allgemeinkosten beträchtlich. Die korrekt nach Vorschrift kalkulierten Preise für unsere Anlagen waren am Markt nicht durchzusetzen. Niemand bemühte sich, die neue Automatik an andere Hersteller von Notstromanlagen zu verkaufen. So blieb wegen zu geringer Stückzahlen ihr Preis zu hoch. Die Entwicklungsprojekte wurden schließlich abgebrochen und die Entwickler fast alle entlassen.

Unser letzter Chef und die große Entwicklertruppe trugen entscheidend zu unserem Untergang bei. Es gab verschiedene Vorzeichen. Zunächst sollten wir noch auf dem neuen Betriebsgelände ein Prüffeld für unsere Anlagen bekommen, das dann gestrichen wurde. Auch von dem Umzug dorthin wurden wir ausgeschlossen. Dann wurde unserer Sekretärin gekündigt. Eines Tages zog unser Chef in ein anderes Büro und war für uns nicht mehr zuständig. Zu Ostern 1994 erhielten wir schließlich komplett unsere Kündigungen.

In dieser Situation des allmählichen Untergangs haben wir nicht etwa die Flügel hängen lassen und resigniert, sondern intensiv weitergearbeitet und vor allem weitere Aufträge an Land gezogen, die dann natürlich auch realisiert werden mussten. Der Auftragsbestand wuchs bis zum Termin unserer Kündigung immer weiter an. Unsere Arbeitsverträge wurden zweimal befristet verlängert - zuletzt bis Ende August. Die Leitung des Betriebes wollte uns zwar loswerden, aber sie hatte erkannt, dass das sehr teuer werden könnte. Man hatte mit der Abarbeitung des Auftragsbestandes und jeglichen Garantieleistungen andere Firmen - um jeden verlangten Preis - beauftragen müssen. Am Ende konnte ein Kern von vier Kollegen, zu denen ich gehörte, nahtlos ab dem 1.9.1994 in einer anderen Firma weiterarbeiten. Wir waren die vier, die nach der Währungsunion 1990 mit der Arbeit an Notstromanlagen neu begonnen hatten.

Diesem Erfolg ging eine Periode von Zweifeln und Unsicherheit über einige Monate voraus. Der bereits erwähnte ehemalige Abteilungsleiter Absatz, der auch Rechtsanwalt ist, schaffte es am Ende, den Übergang in die neue Firma vertraglich mit der ELPRO AG abzusichern. Wir arbeiteten zunächst in einer monatelangen Übergangszeit in unseren ELPRO-Büros mit Computern und Telefonen weiter und sollten den Auftragsbestand abarbeiten. Weiterhin übernahmen wir natürlich auch den Service für die von der ELPRO AG gelieferten Notstromanlagen.

Den ersten Service-Einsatz für die ELPRO AG hatte ich bereits am 1.9.1994. Es musste eine defekte Notstromautomatik ausgetauscht werden. Den letzten Serviceauftrag von der ELPRO AG bekamen wir 1997. Ich reiste mit einem Kollegen in den Iran und nahm zwei große Notstromanlagen in einem Zementwerk in Betrieb, die wir 1993 dorthin geliefert hatten. Die ELPRO AG hatte die Fähigkeit dazu längst verloren.

Unsere neue Firma wurde von Elpro-Kollegen bereits im Herbst 1990 gegründet. Es handelte sich um ehemalige Mitarbeiter des Kundendienstes für Notstromanlagen.

Der Kundendienst funktionierte zur DDR-Zeit hauptsächlich als Reklamationsabwehr und -bearbeitung. Aber an den Wochenenden fuhren sie viel im Land herum, führten Montagen durch, nahmen Notstromanlagen in Betrieb, passten die Steuerungen an die Erfordernisse der Betreiber an und nahmen Reparaturen vor. Das waren Dinge, mit denen die „normalen Kunden“ vom sozialistischen Großbetrieb völlig allein gelassen wurden. Der Betrieb war im wesentlichen nur für die Serienproduktion der Notstromanlagen zuständig.

Bald nach der Einführung der D-Mark begannen sie die Gründung ihrer Firma vorzubereiten, Kunden zu werben und Serviceverträge anzubieten. Zu dieser Zeit rannten sie damit offene Türen ein, da bisher ein solcher Kundendienst in der DDR unbekannt war. Mit ihrem Gang in die Selbstständigkeit kamen sie der Umstrukturierung und Zusammenlegung von Kundendienstbereichen zuvor, bei denen ein großer Teil der Kundendienstmitarbeiter bald entlassen worden wäre. Weiterhin hätte ihnen die Struktur und Organisation des Großbetriebes das erfolgreiche Arbeiten unter den neuen Bedingungen unmöglich gemacht. In der neuen Firma gelten noch heute folgende Prinzipien: Auf jeden Anruf von jedem Kunden wird sofort reagiert, jeder sollte jeden Tag etwas tun, für das möglichst sofort eine Rechnung geschrieben werden kann - und für Schreibtischarbeit kann man keine Rechnungen schreiben. Das ist das Erfolgsrezept, das nun schon fast zwölf Jahre funktioniert.

Für mich bedeutete der Übergang in diese Firma eine zweite große Umstellung. In der DDR-Zeit war ich als Ingenieur an meinen Schreibtisch „gekettet“ und hatte nur rein formale Aufgaben abzuarbeiten. „Richtige Ingenieurarbeit“ hatte ich nur dann, wenn ich sie mir selber an Land zog, um nicht allmählich geistig zu verkümmern. Diesen Zustand habe ich in meinem Beitrag „Meine Arbeit als Ingenieur im sozialistischen Großbetrieb“ (Spurensicherung IV) ausführlich dargestellt. In der Zeit von der Einführung der D-Mark bis zur Kündigung durch die ELPRO AG musste ich, auf mich allein gestellt, unter ständig wachsendem Druck laufend projektieren und ständig neue Technik und Prozesse beherrschen lernen. In der neuen Firma ging es bald vom Schreibtisch weg, zunächst meist an körperlich sehr schwere Montagearbeit an Notstromanlagen, die ich gerade noch im Auftrag der ELPRO AG mit meinen Kollegen projektiert hatte. Weiterhin musste ich lernen, selbstständig, unter den Augen der Kunden, zu arbeiten, mit Problemen vor Ort und nicht im Schutz meines Büros fertig zu werden. Bei der Arbeit beim Kunden ist es ungeheuer wichtig, jeden, vom Haustechniker bis zum Geschäftsführer, zu überzeugen, dass man der richtige Mann am richtigen Ort ist. Vor allem darf man keinen unsicheren Eindruck machen und muss mit allen Menschen, die einem in den Weg kommen, umgehen können. Diese Art von selbständiger Arbeit probierte mein neuer Chef allmählich mit mir aus, indem er mich immer öfter für Wartungsarbeiten an Notstromanlagen einsetzte. In der Anfangszeit hatte ich Zweifel, ob ich in der neuen Firma am richtigen Platz bin, wobei ich keine Wahl hatte. Mein neuer Chef zweifelte ebenso. Immerhin hatte ich von 1980 bis 1994, also vierzehn Jahre, am Schreibtisch gesessen und hatte zunächst mit der praktischen Arbeit meine Schwierigkeiten. Aber er merkte auch, dass er mich brauchte, weil außer mir kein Kollege in seiner Firma mit der modernen Steuerungs- und Regelungstechnik der Notstromanlagen zurechtkam. Inzwischen sind fast acht Jahre vergangen. Ich habe mir in dieser Zeit eine Stellung als Spezialist für Inbetriebnahmen und Übergaben von neuen Notstromanlagen, sowie bei Reparaturen und Funktionserweiterungen an Notstromsteuerungen erarbeitet. Auch den oben beschriebenen Umgang mit den Kunden habe ich in dieser Zeit perfekt gelernt.

Im Ganzen betrachtet, habe ich etwa die Zeit von 1990 bis 2000 benötigt, um meinen Platz in der sogenannten „Freien Marktwirtschaft“ zu finden. Der Weg führte vom sozialistischen Großbetrieb über die ELPRO AG zu einer kleinen Firma mit derzeit zwölf Kollegen.   


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