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Werner Patzer  

Aus Arbeit und Leben eines NVA-Generals ab 1991 - nach 41 Dienstjahren 

Im Band IV „Spurensicherung“ habe ich unter dem Titel „Vom General zum Wachmann“ über die letzten Jahre meines Dienstes (1985-1990) als Chef der Verwaltung „Personelle Auffüllung“ im Ministerium für Nationale Verteidigung (seit 1967) berichtet.

Mit Wirkung vom 30. September 1990 wurde ich aus dem Wehrdienst entlassen - so wie alle Armeeangehörigen, die zu diesem Zeitpunkt das 55. Lebensjahr vollendet hatten. Mitte September ist mir die „Ehrenurkunde für treue Pflichterfüllung“, unterschrieben vom Minister Eppelmann, überreicht worden.

Die zweite Oktoberhälfte und den November verbrachte ich mit der Aufzeichnung meiner Erinnerungen, um mir Rechenschaft über Sinn und Unsinn meines bisherigen Lebens und Wirkens abzulegen, ehrlich und schonungslos, auch wenn es oft schmerzlich war. Ich brachte es auf ca. 150 Seiten, die erst fast 10 Jahre später in Teilen veröffentlicht wurden. Vorwort und Nachwort dazu mit - damals verständlich - recht bitteren Bemerkungen habe ich bisher nur meiner Familie und engsten Freunden zur Kenntnis gegeben. Heute glaube ich, daß einige Passagen daraus als Zeitdokument nicht uninteressant sind und füge sie als Anlage diesem Bericht bei.

Anfang Dezember habe ich mich dann - kurz vor der Vollendung des 58. Lebensjahres - bei der Kreisstelle Strausberg der Deutschen Versicherungsanstalt um eine Arbeitsstelle als Aushilfskraft im Innendienst beworben. Meine Beweggründe für diese und alle weiteren Tätigkeiten bis Ende November 1998 waren: ich wollte einerseits noch etwas hinzuverdienen zu der befristeten erweiterten Versorgung, einer spezifischen Form der Vorruhestandsgelder, die ich wie die Mehrzahl der mit Wirkung vom 30 9 1990 entlassenen Berufssoldaten der NVA erhielt (immerhin stieg innerhalb kürzester Frist allein die Wohnungsmiete von 90 DM auf monatlich 650 - 700 DM), und andererseits wollte ich mit meinen 58 Lebensjahren nicht ohne eine einigermaßen sinnvolle Tätigkeit leben. Ich wurde angenommen und arbeitete bei der Versicherung bis Mitte Mai 1991.

Im Juni 1991 bewarb ich mich bei einer Wachschutzfirma in Berlin als Pauschalkraft, d. h. Einsatz auf Abruf als Wachmann/Pförtner. Diese Tätigkeit übte ich von Juli 1991 bis zum August 1998 aus, d. h. länger als 7 Jahre bis kurz vor Vollendung meines 67. Lebensjahres. Mein Bruttostundenlohn betrug 7,00 DM, mein Nettostundenlohn nach Abzug der Arbeitslosen-, Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung noch stolze 5,60 DM Davon mußten noch die Kosten für die S-Bahn Monatskarte beglichen werden (zunächst 17,00 DM, schließlich 120 DM im Monat) In diesen 7 Dienstjahren bei der Wachschutzfirma hat es nur ein einziges Mal eine Erhöhung des Bruttolohnes gegeben, von 7,00 auf 8,96 DM Das brachte einen Nettolohn von 7,16 DM in der Stunde

Die wöchentliche Arbeitszeit (bei der Verpflichtung, jederzeit abrufbereit zu sein) betrug nicht selten 60 Stunden (5 mal 12 Stunden). Im Monat kam ich durchschnittlich auf 170 - 180 Stunden einschließlich der Wochenenden und Feiertage. Dazu kamen 3 Stunden Wegezeit zu jeder Schicht, insgesamt also ein Arbeitstag von 15 Stunden, danach 4 Stunden Schlaf und der Abmarsch zur nächsten Schicht.

Ich habe diese Arbeit dennoch nicht bereut. Obwohl auch meine Frau bis zur Vollendung des 66. Lebensjahres arbeitete, die letzten 5 Jahre als Putzfrau, erhielt sie wegen der früher eingeschränkten Verdienstmöglichkeiten (häufiger Wohnungswechsel und Betreuung unserer Tochter) nur eine geringe Rente. Wir hatten uns ohne ihren und meinen zusätzlichen Verdienst nach der Wende so manche Urlaubsreise nicht leisten können.

Bis Ende November 1998 (ich ging auf meinen 67 Geburtstag zu) arbeitete ich als Aushilfsarbeiter bei einem Handwerksbetrieb in der Nähe von Strausberg.

Die Arbeit als Wachmann und Pförtner ergab die Möglichkeit, mit vielen Bürgern aus den östlichen und westlichen Bundesländern ins Gespräch zu kommen und Aufschlußreiches über die beiderseitigen Befindlichkeiten in Erfahrung zu bringen bzw. auszutauschen. Immerhin war ich in insgesamt 25 verschiedenen Objekten eingesetzt und erhielt dadurch vielfaltige Einblicke in die Denk und Verhaltensweise der „Wessis“.

Noch mehr war das bei den jährlichen Urlaubsreisen der Fall, die wir fast ausschließlich nach Osterreich und in die alten Bundesländer unternahmen - in Regionen, die uns vorher aus politischen und militärischen Gründen verschlossen waren. (In den achtziger Jahren wurde zwar bereits ein Urlauberaustausch mit dem österreichischen Bundesheer vorbereitet, es kam aber nicht mehr dazu.) Prinzipiell nahmen wir Quartier in Ferienwohnungen, in denen wir auch immer - teilweise ausgesprochen familiäre - Kontakte zu den Besitzern und Wirtsleuten entwickeln konnten

Während meiner Arbeit als Wachmann und im Urlaub bin ich häufig gefragt worden, ob ich denn innerlich bereits in der Bundesrepublik Deutschland angekommen sei, mich über die nunmehr errungene politische Freiheit, ökonomische Unabhängigkeit und bürgerliche Rechtssicherheit freue. Ich konnte diese Fragen in der Regel mit der Gegenfrage beantworten, wieso ich darüber glücklich sein soll, daß ich für meine persönliche Lebensleistung als Offizier der NVA, der an keinen kriegerischen Handlungen teilnahm, niemanden erschlagen oder gefoltert hat, für mehr als die Hälfte seiner Dienstzeit, d. h. für 23 Dienstjahre, als Akademiker mit der Rente eines ungelernten Arbeiters „belohnt“ wurde. Die meisten Gesprächspartner waren darüber erstaunt, ja verdutzt, glaubten sie doch, NVA-Offizieren stünden wie Bundeswehr Offizieren recht hohe Pensionen zu.

Wohltuend und erfrischend war es für mich, wenn in den Unterhaltungen zwischen Menschen aus Ost und West recht bald Verständnis für die unterschiedlichen Lebensläufe, Lebensauffassungen und Lebensweisen aufkam. Das war besonders in solchen Veranstaltungen der Fall, die von wissenschaftlichen Institutionen oder gesellschaftlichen Einrichtungen, Vereinen oder Stiftungen organisiert wurden. Die folgenden Veranstaltungen habe ich in dieser Hinsicht als besonders wertvoll empfunden

Am 30 September 1998 nahm ich in Berlin an einem Werkstattgespräch des „Instituts für vergleichende Staat-Kirche-Forschung“ zum Thema „Die mit dem goldenen Spaten - Bausoldaten der NVA“ teil. Den Anstoß dazu gab eine japanische Wissenschaftlerin, die ihre Dissertation über die Wehrdienstverweigerer in der DDR erarbeitete. Von den etwa 70 Teilnehmern waren viele ehemalige DDR-Bürger, die ihren Dienst als Bausoldaten geleistet hatten, aber auch solche, die als Totalverweigerer mit Freiheitsentzug bestraft worden waren. Es gab auch viele Jüngere, die keine Vorstellungen vom Dienst der Bausoldaten hatten. Unter den prominenten Gästen seien besonders der letzte DDR-Regierungschef, Lothar de Maiziere, und Generalsuperintendent i. R. Günter Krusche genannt. Auf eine Bitte der Gesprächsleitung hin habe ich nach kurzer Vorstellung meines Werdeganges und meines früheren Arbeitsgebietes die Entstehung, den Umfang und die Entwicklung des Bausoldatendienstes und des Umgangs mit den Totalverweigerern erläutert, anschließend etliche Fragen dazu beantwortet (vor allem zur Qualität der dortigen Vorgesetzten und Ausbilder sowie zum inneren Dienstbetrieb). Meine Ausführungen und Antworten wurden mit regem Interesse und ohne negative oder abfällige, meine Person betreffende Reaktionen aufgenommen.

Bei einer weiteren Veranstaltung dieses Instituts lernte ich den Ständigen Vertreter der BRD in der DDR, Günter Gaus, persönlich kennen und empfand seine anerkennende Haltung zu den Lebensleistungen der DDR-Bürger als besonders wichtig. Auf der Einladung zu dieser Veranstaltung stand ein früheres Zitat von Gaus: „Nur wenn wir die DDR sehen, wie sie wirklich war und nicht, wie es das Sensationsbedürfnis derzeitig verlangt, gibt es eine winzige Chance zu einer gesellschaftlich relevanten Vergangenheitsbewältigung.“ Beim anschließenden Zusammensein einiger Teilnehmer - ich war dazu nebst Tochter Heidrun eingeladen - konnte ich Herrn Gaus, bestimmt auch im Sinne vieler ehemaliger DDR-Bürger, für sein überaus einfühlsames und gegenüber allen Anfeindungen standhaftes Eintreten im Interesse wirklicher „innerer Einheit“ der Deutschen aus Ost und West danken. Sinngemäß hat er doch oft genug betont „Nicht jeder kann oder will schließlich auswandern, wenn ihm etwas in seiner Heimat oder seinem Staat nicht passt. Auch die Anpassung ist ein Recht des Menschen, erst durch die Anpassung an seine Umwelt ist der Mensch zum Menschen geworden.“

Vom 18. bis 20. Oktober 1999 nahm ich an einer Tagung des „Forum Ost-West e. V.“ im Schloßhotel Petzow/Werder (Havel) teil. Die Einladung von der Vorsitzenden, Frau Dr. Carola Wolf, erreichte mich überraschend Ende August, das Thema lautete: „Zehn Jahre nach dem Mauerfall. Die Einheit in der Bundeswehr und ihrem Umfeld“. Es waren vorwiegend Offiziere der Bundeswehr anwesend, darunter etliche, die früher in der NVA gedient hatten. Als Referenten traten u. a. Generale und Offiziere der Bundeswehr auf, die unmittelbar vor oder nach dem 3 Oktober 1990 in den Osten gekommen waren.

Admiral a. D. Theodor Hoffmann beeindruckte mit seinen freimütigen Darlegungen über seine Jugendjahre, die Motive zum Eintritt in die KVP (Kasernierte Volkspolizei) und die Entwicklung seiner militärischen Laufbahn in der Volksmarine bis zum letzten Verteidigungsminister der DDR. Sein aktiver Beitrag zum gewaltfreien Verlauf der Wende in der DDR und zum Übergang in die deutsche Einheit wurde allseits gewürdigt. Das Befremden aller Teilnehmer angesichts der Tatsache, daß dem Admiral wie allen anderen Offizieren der NVA immer noch das Verdikt des „Gedient in fremden Streitkräften“ angehängt wird, artikulierte Bundeswehrgeneral a. D. Richter sehr überzeugend.

Übrigens gab es seitens der Teilnehmer dieser Tagung keinen Widerspruch zu der Bemerkung eines hochrangigen Offiziers der Bundeswehr, daß eine solche Behandlung von NVA-Generalen um so merkwürdiger sei, als z. Bb Generalleutnant Heusinger, der als Chef der Operationsabteilung des Generalstabes des Heeres täglich Hitler an der Lagekarte Vortrag gehalten hat, in der Bundesrepublik vom Berater Adenauers zum ersten Generalinspekteur der Bundeswehr und als Viersterne-General schließlich zum Vorsitzenden des Militärausschusses der NATO, des höchsten militärischen Planungsorgans dieses Bündnisses, avancierte.

Durch diese Bemerkung angeregt, habe ich während des Zeitzeugenforums zum Thema. „Deutsche Einheit und europäische Sicherheit - das Ende der NVA und die Armee der Einheit“ vom 11. bis 13. September 2000 in Potsdam, (durchgeführt vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt und der Karl-Theodor-Molinari-Stiftung) in der Diskussion u. a. ausgeführt:

Ich habe kein Verständnis dafür, daß ich und meine Soldatenkameraden der NVA der DDR - einem international und auch durch die alte BRD völkerrechtlich anerkannten Staat - offiziell unverändert den Status eines Bürgers „gedient in fremden Streitkräften“ verordnet bekommen d. h. nicht in einer deutschen Armee (in was für einer dann?) Wehrdienst geleistet haben, und daß wir unserem Namen nicht den erreichten militärischen Dienstgrad a. D. hinzufügen dürfen (worüber sich inzwischen intern nicht wenige Privatpersonen und offizielle Institutionen hinwegsetzen).

Die Diskreditierung meines Soldatenberufes findet auch deshalb bei mir kein Verständnis, weil der vierte Generalinspekteur der Bundeswehr (von 1966 bis 1972) und hohe Offizier der Wehrmacht, General Ulrich de Maizière, in seinem Buch „In der Pflicht, Lebensbericht eines deutschen Soldaten im 20. Jahrhundert“ (Verlag E S. Mittler & Sohn GmbH, Herford, Bonn) u. a. darüber schreibt, daß die Generale Heusinger und Speidel im Jahre 1951/1952 ihre Bereitschaft, beim Aufbau der Bundeswehr mitzuwirken, von einer Ehrenerklärung für die deutschen Soldaten durch den späteren Präsidenten der USA, General Dwight D. Eisenhower - auf Grund seiner scharfen und abfälligen Urteile über die deutschen Soldaten in seinem Buch „Kreuzzug m Europa“ - sowie auch durch den ersten Bundeskanzler der BRD Konrad Adenauer abhängig machten.

Ich zitierte darüber wörtlich aus dem Buch von General de Maiziere, nachzulesen auf S 173:

„Am 22 Januar 1951 trafen Heusinger und Speidel mit General Eisenhower...  zusammen. Eisenhower räumte seinen Irrtum ein und entschuldigte sich. Der entscheidende Satz seiner Erklärung lautete „Der deutsche Soldat hat für seine Heimat tapfer und anständig_gekämpft!

Bei der zweiten Lesung des EVG-Vertrages im Bundestag am 3. Dezember 1952 sagte Adenauer: ‚Jch möchte heute vor diesem Hohen Hause im Namen der Regierung erklären, daß wir alle Waffenträger unseres Volkes, die im Rahmen der hohen soldatischen Überlieferungen ehrenhaft zu Lande, auf dem Wasser und in der Luft gekämpft haben, anerkennen. Wir sind überzeugt, daß der gute Ruf und die Leistungen der deutschen Soldaten trotz aller Schmähungen während der vergangenen Jahre in unserem Volk noch lebendig sind und auch bleiben werden. Es muß unsere Aufgabe sein - und ich bin sicher, wir werden sie lösen - die sittlichen Werte des deutschen Soldatentums mit der Demokratie zu verschmelzen.Erstmalig waren dem deutschen Soldatentum wieder sittliche Werte offiziell zuerkannt worden.“

Soweit zu meinem Diskussionsbeitrag mit dem Zitat aus dem Buch von General Ulrich de Maizière.

Die NVA aber, die keinen Krieg geführt und somit keine Kriegsverbrechen begangen hat (wohl aber die Wehrmacht, vgl. „Ausstellung der Verbrechen der Wehrmacht“ - ich habe sie mir angesehen) wird unverändert diskreditiert. Das verstehe wer will, ich nicht. Im Umkehrschluß heißt das doch, das faschistische Deutschland mit seiner Wehrmacht genügte den Forderungen des Rechtsstaates, die DDR mit ihrer NVA dagegen nicht.

Ich habe mit diesem Diskussionsbeitrag bei meinen Soldatenkameraden viel Zustimmung gefunden. Dagegen verhielten sich einige Herren aus den westlichen Bundesländern plötzlich mir gegenüber deutlich reservierter. Die Wahrheit wird nicht immer gern gehört - oder wer freut sich schon, wenn man ihm den Spiegel vor das Gesicht hält?

Im Januar 2000 fand eine dreitägige (23.-25.1 ) internationale Tagung des „Aspen-Institute Berlin“ (US-amerikanisches militärwissenschaftliches Institut) zum Thema „Deutsche Soldaten und deutsche Vereinigung - die Herausforderungen der Vereinigung“ statt, an der ich ebenfalls teilnahm Dort brachte man der NVA für ihr verantwortungsvolles Verhalten während der komplizierten politischen Situation in den letzten Monaten des Jahres 1989 und der Zeit bis Ende September 1990 große Hochachtung entgegen.

Mein Diskussionsbeitrag betreffend meine Handlungsweise in diesem Zeitraum wurde mit großem Interesse aufgenommen und führte in den Pausengesprächen zu vielen Fragen an mich hinsichtlich meiner Motive, so und nicht anders (wie viele Gleichgesinnte auch) gehandelt zu haben.

Zusammengefaßt kann ich - wie schon in „Spurensicherung“ Band IV - zu den vergangenen Jahrzehnten nochmals feststellen: Es waren für mich und meine Frau, wie für viele meiner Kameraden und Genossen, arbeitsreiche, aufregende, spannende Jahre, mit vielen politischen und persönlichen Enttäuschungen, aber auch manchen schönen und bewegenden neuen Erlebnissen und Erkenntnissen. Niemand kann uns den Stolz darauf nehmen, daß wir in einer Armee gedient haben, die keinen Krieg geführt hat, die während der Wende und der Anbahnung der Vereinigung beider deutscher Staaten alles für einen friedlichen und gewaltfreien Verlauf der gesellschaftlichen Umwälzungen getan hat. Und niemand kann uns verwehren, daß wir den Kopf trotz aller Verdächtigungen und Benachteiligungen hoch tragen und uns durchaus nicht als „Bürger zweiter Klasse“ fühlen, als die uns mancher Zeitgenosse - nicht nur aus den sogenannten alten Bundesländern - gerne sehen und behandeln mochte. 

Anlage:

Gedanken aus dem Vor- und Nachwort zu meinen Lebenserinnerungen, geschrieben im November 1990 

Schon vor vielen Jahren - etwa in der Mitte meines bisherigen Lebens - hatte ich mir vorgenommen, einmal etwas darüber aufzuschreiben. Die Überlegung nahm in den folgenden Jahren immer mehr Gestalt an. Zunehmend plagten mich aber Zweifel, in welche Zielrichtung sich die Ausführungen bewegen sollten. Denn die Ideale der Jugend mit möglichen Aussagen für junge Menschen zerbrachen nach und nach an dem breiter werdenden Spalt zwischen Theorie und Praxis des „sozialistischen“ Alltags, dem, was die Parteiführung der SED predigte und der rauhen Wirklichkeit des Lebens.

Ich war mir nicht im Klaren darüber, ob man die inneren Fragen und Probleme seines Lebens vor der Öffentlichkeit darlegen kann und darf. Wird einem das überhaupt abgekauft? Würde mir, dem langjährigen Offizier der Nationalen Volksarmee, abgenommen, daß er zunehmend Zweifel an der Entwicklung des „Sozialismus“ in der DDR hatte?

Immerhin nahm ich viele Jahre verantwortliche Führungsaufgaben wahr und habe Rechtsvorschriften der DDR sowie militärische Bestimmungen in meinem Verantwortungsbereich im Ministerium für Nationale Verteidigung mit durchgesetzt. Hatte das Wagnis des Versuchs, darüber zu schreiben, überhaupt einen Sinn?

Ich habe es trotz aller Zweifel versucht. Den letzten und entscheidenden Anstoß dazu gaben mir die Kontakte mit Offizieren und Beamten der Bundeswehr der BRD, denn ich erkannte, wie wenig diese Herren über das Denken, Fühlen und Handeln eines langjährigen Offiziers der Volksarmee wußten.

Einiges aus der Vergangenheit wurde vermutlich aus der heutigen Sicht und Lebenserfahrung formuliert. Auch diese Gefahr ist mir bewußt Aber anders heranzugehen wäre vermutlich auch nicht richtig Inwieweit ich mein Ziel erreicht habe, müssen die Leser entscheiden.

 

* * *

 

Meine Lebenserinnerungen beginnen mit der Einberufung meines Vaters zur deutschen Wehrmacht im August 1939. Was ich 1939 als ein so schreckliches Kindheitserlebnis empfunden habe, wurde von 1964 bis 1990, also für 26 Jahre, meine Hauptaufgabe. Planung, Organisation und Durchführung von Einberufungen zum Wehrdienst.

Aber es gibt einen prinzipiellen Unterschied. Während mein Vater zum grausamsten Krieg in der menschlichen Geschichte einberufen wurde, bin ich als Soldat in jeder Minute meines Lebens davon ausgegangen, daß die Soldaten, die zur Nationalen Volksarmee einberufen werden, den Auftrag haben, mit dazu beizutragen, daß Friede ist und bleibt in Europa.

Diesem Auftrag ist die Nationale Volksarmee, ist auch ihre neue Führung ab Dezember 1989 bis zum 2 Oktober 1990, dem letzten Tag vor dem Beitritt der DDR zur BRD, treu geblieben. Es fiel nicht ein einziger Schuß gegen das Volk. Niemand hat das Recht, dies zu unterschlagen - auch nicht die politischen Gegner der „sozialistischen“ ehemaligen DDR. Im Gegenteil - es sollte deutlicher hervorgehoben werden!

Vor der Geschichte zählt nicht irgendeine Theorie, sondern die Praxis. Die aber war, daß die NVA sich nicht gegen das demokratische Aufbegehren stellte, weil sie sich in der Mehrzahl - auch im Offizierskorps - aus Arbeitern, Bauern, Angestellten und Angehörigen der Intelligenz zusammensetzte, die nicht vergessen hatten, woher sie gekommen waren.

Das Entstehen und die Entwicklung der DDR bedeutete für mich, der zuvor nichts anderes als die Zeit des Krieges und des Faschismus kannte, nach dem Beginn des Dienstes in der Deutschen Volkspolizei auch der ideologische Rettungsanker. Die andere Seite Deutschlands war durch meinen militärischen Dienst, befehlsgemäß und bei Strafe des eigenen Untergangs, absolut tabu.

Bis vor wenigen Jahren war ich von der Überlegenheit der Gesellschaftsordnung des Sozialismus - wie er in der DDR praktiziert wurde - über den Kapitalismus fest überzeugt. Das heißt, ich war auch von der moralischen Überlegenheit der DDR über die BRD überzeugt.

Zunehmend mußte ich jedoch in den letzten Jahren feststellen, es knirscht im Gebälk des Sozialismus und damit auch in der DDR. Heute nun (1990) am Ende des fünften Lebensjahrzehnts und somit fast am Ausgang des Lebens, auf jeden Fall am Ende des beruflichen, ist es Gewissheit: man hat auf einer Seite gestanden, in der im wachsenden Maße zwischen Theorie und Praxis ein immer größer werdender Spalt entstand. Das, wofür man gestritten, gelebt, gearbeitet und gekämpft hat, war gar nicht der Sozialismus von Marx, Engels oder Lenin, für den er ausgegeben wurde.

Für die jetzige junge Generation und die nachfolgenden kann ich nur sagen: Wenn einem einfachen Menschen mit ähnlicher Kindheit und Jugend eine solche berufliche Entwicklung wie mir geboten wird, sollte er nie den kritischen Blick gegenüber denen verlieren, die diese Entwicklung ermöglichten. Rechtzeitig hätten wir in der DDR den Kampf gegen Haß, Willkür, für Demokratie und gegen Entscheidungen, die sich wider den Menschen richten, aufnehmen müssen. Ein jeder Mensch sollte bei all seinem Handeln von humanistischen Prinzipien ausgehen Nie gegen den Menschen, nie gegen das eigene Gewissen handeln, das sollte das Credo eines jeden sein.

 


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