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Christel Weiß
„Wie wart ihr alle angepaßt...“
Es wird grün, um mich herum. Aus dem schönen Haus, in dem ich nun wohne, habe ich den Blick hinein ins Grün. Das Gelb der Forsythien ist am Vergehen, und der Wald, noch durchsichtig so früh im Jahr, läßt in vielen Schattierungen das hübsche Kleid erahnen, das er bald tragen wird.
Ich bin herausgezogen aus der kleinen Stadt. Hierher. In die Ruhe. Ins Grün. Weg vom Lärm, vom Beton. Weg von verstopften Straßen, von Blech und Chrom und Abgas.
Weg von den Menschen, dort, wo einer den anderen nicht mehr wahrnimmt. Ein Haus könnt’ ich mir nicht bauen. Da war kein Vermögen von irgendwoher. Da war kein Sümmchen als Abfindung für künftige Untätigkeit. Da ist kein vernünftiges Geldverdienen als zwangsweise ,selbständiger’ Sprachdozent, um dessen Existenz selbst der Herr Landrat nicht mehr Gedanken hat als den wohl für urig gehaltenen Scherz: „Das ist ja Ausbeutung, was wir da mit Ihnen machen.“ (Zitat eines Gespräches aus dem Jahre 1997).
Da ist überhaupt keine Mark und nun erst recht kein Euro übrig, wenn selbst die Tochter von der Berufsausbildung weg geradewegs in die Arbeitslosigkeit geht und den Listen der Arbeitsämter einfach nicht zu entgehen vermag.
Nein, ein Zufall kam zu Hilfe. Ich konnte dennoch der Stadt entfliehen - und wohne nun im Grün.
Grün hatte ich auch vorher schon. Wegen des Grün, wegen der Luft, wegen der Häuser am Rande von Wald und Feld, auch wegen der Menschen, die hier ruhiger waren als die Großstadtmenschen, war ich vor zwei Jahrzehnten hierher gekommen. In ebendiese Stadt. Und Kiefern hatten mir im vierten Stockwerk in die Fenster geschaut; die Eichkätzchen gehörten fast zur Familie. Wie gern wohnte ich hier. Damals. In dieser Stadt, die ich beinah fluchtartig nun verließ.
Was war geschehen?
Wir waren ein anderes Land geworden. Ob es ein neues Land war, ob es ein und dasselbe Land war, ob es das eigentliche Land war, das eigentlich richtige, wie man uns suggerieren möchte, ob es das erstrebte, das ersehnte Land war oder das, bei dem so mancher seine Bedenken hatte, das mancher auch gänzlich widerstrebend abgelehnt hätte, in das er aber geriet, ob er nun wollte, der einzelne, oder auch nicht, das wird von ,Neubürger’ zu ,Neubürger’ sehr verschieden zu bewerten sein. Eine Analyse mag ich nicht anstellen, und ein Zeitraum von nunmehr zwölf verstrichenen Jahren wird wohl auch die Bewertung eines jeden einzelnen einem Entwicklungsprozeß unterworfen haben.
Feststeht, und nicht zu leugnen, für den früheren DDR-Menschen ist dies ein neues Land. Und feststehend auch die Kritik, die, die hier hinzugekommen sind, in diese BRD, hätten sich dort nicht richtig verhalten, dort, wo sie hergekommen waren. In jenem Land, das dann nicht mehr bestehen konnte. In jener untergegangenen DDR. Lassen wir die Themen dazu - die vorhergehenden Bände dieser SPURENSICHERUNG haben sich eingehend damit befaßt.
Einen Gedanken nur greife ich heraus. Ein einziges Wort, das uns als Fehlverhalten so sehr unter die Nase gehalten wird. Angepaßt. Wir waren also angepaßt, im Staate DDR.
Und so nehme ich diesen Gedanken, ihn in den Vergleich zu setzen mit dem, was heute ist. Und gleich als gute Grundlage für die, die vielleicht wieder einmal kommen werden, später, irgendwann, mein Verhalten zu bewerten. In einer Gesellschaft, die heute um mich ist. Ich lebe da also in diesem neuen Land - ungefragt ... ich konnte mich nicht entscheiden ... ich konnte nichts anderes wünschen ... vielleicht macht es mir ja auch einiges Vergnügen, dies neue Leben ... neben tausend Problemen, die ich dennoch habe.
Ich lebe hier, in diesem Deutschland, und ich möchte etwas sagen zum Thema angepasst.
Bundesrepublikanisch-deutsch, nun aber, angepaßt.
Wie sage ich es ... Selbstkritisch? Beschämt? Entschuldigend? Höhnisch lachend, weil schon wieder ,angepaßt’? Rechtfertigend?
Ich
versuche es: Wertungsfrei. Und der Leser mag sein Urteil finden.
1.
Leben - bundesrepublikanisch-deutsch, angepaßt
Der Ausklang eines Berufslebens
Hannes, mein Mann, zur Zeit des wiedervereinigten Deutschland ein Fünfzigjähriger. Fünfzehn noch geplante Arbeitsjahre, bei damaliger Blickrichtung nach vorn. Die nun allerdings sehr in Frage gerieten. Ein bisheriger Arbeitsplatz, mit guter, sinnvoller Tätigkeit, der zu den sofort abgewickelten und ersatzlos gestrichenen gehörte. Alle Illusionen, Kompetenz und Arbeitsvermögen auch im Interesse einer für uns neuen Gesellschaft einzubringen, konnten sehr bald und dauerhaft ad acta gelegt werden.
Beim Aufbau gesundheitlich-sozialer Strukturen (die allesamt auch vorher existiert hatten, doch unter DDR-Vorzeichen eben), da war er dennoch gefragt. Binnen kurzem existierte dann auch alles weiter. In anderer Form, das ja, alles eben neu- und umorganisiert. Unter bundesdeutschem Vorzeichen, nun. Und mit bundesdeutschen Chefs, versteht sich. Und wenigstens in Teilbereichen seiner früheren Tätigkeit, da gab es Arbeit genug. So bekam auch mein Mann ein wenig ab davon. Die Altenbetreuung, die häusliche Krankenbetreuung, die kulturelle Aufbesserung des täglichen Einerlei für die, die aus Altersgründen nicht mehr so ganz im Zentrum der Gesellschaft stehen - ansprechende Aufgabengebiete. Wenn auch weit unter dem wahren Leistungsvermögen.
Doch währten die Dinge nicht lang. An der Arbeit lag es nicht. Es kam dann ... das Menschliche durch. Das - offenscheinlich - ganz normal Menschliche. Wir waren aus der angeblich ungesunden Gleichmacher-Gesellschaft (obwohl sie dies ja auch nicht war) in die Konkurrenz-Gesellschaft geraten. Die ,gesunde’. Einen Schritt zurück in Richtung Tierreich, also. Woher wir ja ohnehin kamen. In eine Gesellschaft, in der man nur tut, was nutzt. Einem selbst, in der Regel. Oder über Umwege wenigstens, einem selbst.
Wer noch nicht ganz umgeschult war, tat dennoch ein wenig mehr. Die Anfangsphase dieser Arbeit ging für meine Familie einher mit reichlich Engagement über den eigentlichen Arbeitnehmer Hannes und dessen Pflichten hinaus. Denn die ab sofort vehement geleugneten Züge menschlichen Miteinanders in der zuvor versuchten sozialistischen Menschengemeinschaft (geleugnet oft sogar von denen, die sie einst selbst praktiziert hatten - solidarisches Verhalten, gegenseitige Hilfe, so manch freiwillige Handreichung auch fürs Gemeinwohl), diese Züge waren bei vielen und so auch in meiner Familie noch vorhanden.
Hannes, mein Mann, tat also nach Kräften mit am Aufbau eines andersgeordneten Systems gesundheitlicher Betreuung von Menschen in Form eines sogenannten Wohlfahrtsverbandes. Sein mitgebrachtes Potential an Kenntnis der Materie, an Fähigkeit und Erfahrung auf diesem Gebiet und sein müheloses Verarbeiten der neuen rechtlichen Grundlagen taten dem Aufbau gut und zeitigten sichtlich beeindruckende und vorzeigbare Ergebnisse.
So hätte dies - auch unter diesen veränderten gesellschaftlichen Bedingungen - durchaus eine nach außen sinnvolle, nach innen fürs eigene Ich wohltuende Tätigkeit sein können bis zum Ausklang des Arbeitslebens. An vorderster Front wirkte er nicht. Da standen schon andere. Ob sie noch einsatzfreudiger waren oder einfach nur pfiffiger, wendiger, gemischt mit der Portion Glück, zum richtigen Zeitpunkt beim richtigen Gesprächspartner vorgesprochen zu haben, vermochten wir auf Anhieb nicht zu ergründen. Und es schien auch ohne Belang.
Alsbald aber lichtete sich das Dickicht der Umbruchswirren. Es wurden Konturen klar, und es begann das bekannte Spreu-vom-Weizen-Trennen. Nicht allerdings unter qualitativen Erwägungen. Wenn wir glaubten, in unserem früheren Land hätte es so manch Eigentümliches gegeben, nützliche Beziehungsgeflechte zum Beispiel und Vorteilsnahme durch Unredlichkeit, so sollten wir bald erkennen, wie bescheiden entwickelt diese Umgangsformen in unserer Vergangenheit waren und in welch ausgereifter Perfektion sie nun gesellschaftliches Leben bestimmten.
Es fehlt mir die Lust und es fehlen dem Buche hier die Seiten, ins Detail zu gehen.
Soviel nur sei gesagt: Ausschlaggebend waren Freundeskreis und Klüngel, und die Zugehörigkeit zu jenem - oder eben auch nicht - waren die ausschließlichen Kriterien für den Erhalt des Arbeitsplatzes. Wenn es nicht die unleugbare Leistung war und die unübersehbare Kompetenz, so kam im Falle meines Mannes noch sein guter Ruf hinzu und das Ansehen, das er in dem im Nu stark anwachsenden Mitarbeiterkreis genoß, das ihn zu Fall brachte.
»Anpassen“ hätte geholfen, wenn auch schon erkennbar bis zur Konsequenz des Stiefel-Leckens und Füße-Küssens. Die Köder waren ausgeworfen. Doch diese Variante schied ganz klar aus, und nicht allein des historischen Vorwurfs wegen.
Nach dem nun folgerichtigen Verlust der Arbeitsstelle ergab sich schnell eine nächste. Wieder in einem Verband der Freien Wohlfahrtspflege ... und es begann das nächste Spiel mit sehr ähnlichem Verlauf. Der Klüngel war hier mehr die Parteiebene, zu der mein Mann auch nicht gehörte und nicht gehören mochte Wieder war er nicht angepasst.
Die in diesem Hause freigemobbten Stellen sind nun - ohne die Spur von Scham - vergeben an Parteifreunde und Familienmitglieder.
Die Unvorsichtigkeit des Nicht-Anpassens katapultierte Hannes, meinen Mann, in ein frühzeitiges Rentnerdasein Nicht, daß er mit dieser Situation nichts anzufangen wußte
Erstaunlich nur, vor allem
angesichts der Tausenden und aber Tausenden dieser Falle, wie einerseits
menschenverachtend, wie andererseits überreich dieses Land, unsere neue Heimat,
wohl sein muß, sich Derartiges leisten zu können
2.
Leben - bundesrepubhkamsch-deutsch, angepaßt
Der Einstieg ins Berufsleben
Julia, meine Tochter, lebte uns vor, wie es ist, wenn man im Leben eine Berufung spürt Hier war ein Mensch, geschaffen für ein ,Pferdeleben’ Ein Großstadtkind, zunächst. Nicht eines, das unter Pferden aufwuchs. Doch schon, als sie noch kein Wort wirklich sprach, dirigierte sie uns Eltern zu den vierbeinigen Wesen. Geschenkt die Beschreibung, wie das schwierig war im Lande DDR. Inzwischen war sie - selbst in dieser unserer ,besitzlosen’ Familie, zur Reiterin herangewachsen, und 15 Grad minus im Winter und 35 Grad Hitze im Sommer hielten sie nicht ab, all ihre Zeit und all ihre Kraft in die Betreuung der Tiere zu stecken. Sie war ihr Gewohnheit geworden, diese Einsatzbereitschaft. Das Zurücksetzen eigener Wünsche. Das hart zupacken Müssen. Enttäuschung schlucken auch, zuweilen.
Und ihr Umgang mit den Tieren, das Geschick, das sie alsbald und wie im Selbstlauf erworben hatte, bestätigte ganz und gar, sie hatte - für sich und für ihr Leben - den richtigen Weg gewählt.
Der Umbruch der Gesellschaft war gekommen Die Pferde blieben. Die Kosten freilich erhöhten sich im Handumdreh’n, für die Mitgliedschaft im Sportverein. Doch das war so verwunderlich nicht, schließlich taten es die Mieten auch und das Brot und die Fahrt im Bus und ein jeder Theaterbesuch (um es einmal ganz kurz zu fassen). Viel verwunderlicher war, was sich in den Köpfen tat. Derer, die soeben umschwenkten von Mensch im Lande DDR zu Mensch im Lande BRD.
Zugegeben: Den Platz der sozialistischen Persönlichkeit (die zu sein oder zumindest zu werden uns stets eingeredet worden war) zu verlassen, das geschah zunächst ohne eigenes Zutun. Unfreiwillig. Auf Druck der äußeren Umstände, und eine Wahl blieb wohl in der Regel nicht.
Einen Posten in den hierarchischen Strukturen der kapitalistischen Marktwirtschaft einzunehmen - und welchen dann, das bedurfte schon einiger Bemühungen. Und sollte es gar ein guter sein, ein erstrebenswerter Platz in der neuen Gesellschaft, so war zumeist ein ganzes Bündel von Voraussetzungen vonnöten. Anstrengung gehörte dazu wie auch Glück, und auch so manche jener Eigenschaften, um deren Fehlen willen wir zurecht als die betrachtet wurden, die da einigen einschlägigen Bildungsbedarf hatten.
Julia, unser Kind, wie gesagt, ging ihren Pferdeweg. In diesem Bündel von Voraussetzungen allerdings fehlte eine wesentliche. Da war kein Land, da war kein Pferd, kein Stall noch sonstiger Besitz. Problematisch aber schien das zunächst nicht, denn Pferdehöfe gab es alsbald genug im Umfeld von Berlin. Mit Pferden, so schöne und so viele man noch nie geseh’n. Und es war ganz klar, da wurde manche Hand gebraucht.
Julia bekam einen Ausbildungsplatz. In Potsdam. Ein bißchen weit, das ja, doch bei der Misere auf dem Lehrstellenmarkt erschien er wie das Himmelreich. So schickte sie sich nun an, nach den Pferden die Menschen kennenzulernen.
Da auch der Mann inzwischen in Potsdam arbeitete, hätte dies ein gemeinsamer Arbeitsweg sein können. War es aber nicht, denn während der Vater eine gewerkschaftlich geregelte Arbeitszeit hatte, zu der auch ein Feierabend gehörte (an den in alter Manier und in eigener Entscheidung wohl auch so manche Stunde angehängt wurde, wenn es eben not tat), hatte der Azubi Julia dies keineswegs, und Arbeitsbeginn früh um sechs, was in dem Beruf einsehbar ist, schloß nicht gleich einen Feierabend abends um sieben ein.
Der Pferdehof, der bei erstem Nahekommen gemütlich aussah wie Schweizer Bergidylle, hatte geflissentlich auch an Unterkunftsvarianten gedacht. Das halbe Lehrgeld ging dabei drauf, na ja. Auch sonst war das Leben nicht billig, denn ohne eigene Küche blieb nur die Wahl des gar nicht oder dürftig Essens oder des vom Lehrgeld nicht bezahlbaren Hausessens.
Die Arbeit war schwer. Das war klar und kein Problem Freizeit war knapp, und selbst an Wochenenden war an Heimfahren oftmals nicht zu denken. Die Eltern, andererseits, waren sichtlich ungern gesehen auf dem Hof. Zunächst verstanden wir nicht und hielten das gar für pädagogisches Geschick, einen jungen Menschen auf dem Weg ms Erwachsen-Werden nicht ständig mit elterlicher Über-Fürsorge in seiner Entwicklung zu behindern.
Der Opa ging in jenem Herbst auf seinen 86. Geburtstag zu Das war ein Sonnabend. Julia, die ein sehr herzliches Verhältnis zu ihm hat, bat, diesen Tag wenigstens (ein arbeitsfreier Tag für jeden arbeitenden Menschen in diesem Land) nach Haus zu dürfen. „Wenn dem Großvater 86 wird, dann wird er auch 90. Da kannst du mal wieder nachfragen.“
Ein Satz, den man nicht vergisst. Zunächst für einen lustigen Scherz gehalten, belehrte uns der durchzuarbeitende Sonnabend unserer Tochter dann eines Besseren.
Es folgten Turniere. Interessant, spannend. Und Julia stets dabei - wenn auch in der Rolle des Pferdeknechts. Das Nächtigen bei mehrtägigen Veranstaltungen im Futterheu auf dem Pferdeanhänger war wohl für uns als Eltern etwas verwirrend, noch ungewöhnlicher empfanden wir, daß die beiden Lehrmädchen das Heu mit ihrem schnarchenden Ausbilder teilen mußten und das ganze zudem bar jeglicher Hygiene ablief. Doch taten wir es ab als vielleicht ein wenig skurriles Gebaren, das im uns nicht so vertrauten Pferdemilieu eben nicht anders zu machen ist. Elterliche Bemerkungen zum Hofbesitzer/Ausbilder hielten wir zurück; irgendwie hatten wir uns - aus den Fehlern im Arbeitsklima des Vaters lernend - den Gegebenheiten angepasst. Im Interesse des beruflichen Werdeganges unserer Tochter
Ein Pferdewirt muß auch Kutsche und Gespann fahren können. Julia freute sich darauf. Als sie uns eines Tages aber das diesbezügliche Lehrprogramm beschrieb, stockte dann doch der Atem. Allerdings war da schon alles ,gelaufen’. Julia spannte zwei Pferde vor den Wagen - wollen wir hoffen, daß da einer ein Auge drauf gehabt hat und Geschirre und Leinen saßen. Und los ging’s. Mit dem Lehrmeister. Ich war noch begeistert, als ich das hörte. Doch hatte diese Fuhre nicht nur einen Pferdefuß. Die beiden Pferde waren jung, vor einem Wagen gespannt waren sie an jenem Tag das erste Mal in ihrem Leben. Der Lehrmeister fuhr mit. Doch nicht etwa auf Julias Gefährt, sondern auf einem extra Wagen.
„Und dann ging es querfeldein?“ fragten wir noch. Gefährlich genug, diese Tour, sollten die Pferde einen Rappel kriegen und auf- und davonstürmen, mit dem Wagen hinter sich, eine Situation, die sie noch nie erlebt hatten. Julia hat mich, ihre Mutter, im reichlich fortgeschrittenen Alter noch zur Reiterin gemacht, und ich habe immer tiefer Einblick genommen in die Psyche dieser Kraftprotze, die im Wesen aber solch sensible Dummchen sind, und wehe dem, der sie nicht beherrscht. Der Laie macht sich nicht die geringste Vorstellung. Diese Fuhre also, und obendrauf unser Kind. Doch nein, nicht draußen auf freiem Feld geschah das Ganze. Es ging durch öffentlichen Stadtverkehr. Pferde, die das erste Mal vorm Wagen gingen. Mit einer Fahrerin, die das erste Mal und ohne einen Helfer neben sich die Leinen vom Wagen aus in der Hand hielt, und ob sie - noch lange vor der Volljährigkeit und dem Erwerb des eigenen Führerscheins - die Straßenverkehrsregeln kannte, war eine Frage, die gar nicht erst gestellt worden war.
Trotz unseres Entsetzens meldeten wir nur verhalten Bedenken an beim Ausbilder. Und diese hatten wir noch nicht ganz ausgesprochen, da kam - feige in einem Einschreib-Brief und ohne ein persönliches Wort zu unserer Tochter - die sofortige Kündigung.
Wir hatten uns nicht gut angepaßt, wir hatten den Mund geöffnet, freiheitlich, wie soeben erlernt, und gemäß unseren Vorstellungen. Unser Kind saß auf der Straße.
Das einschlägige Ministerium half - seinerseits allerdings sehr angepaßt der Situation des Lehrstellenmangels, denn einem derart fahrlässig handelnden Ausbildungsbetrieb hätte man im Lande DDR auf der Stelle alle Genehmigungen hierzu entzogen. Aber, wie gesagt, da herrschte großer Lehrstellenmangel. Der Statistik tat auch ein solcher Ausbildungsbetrieb gut - den Azubis allerdings weniger.
Immerhin wurde ein nächster Pferdehof gefunden, und über die folgenden zwei Jahre konnten wir weitere Studien treiben.
Nach dieser Lektion paßten wir uns im Interesse des Werdeganges unserer Tochter dann doch wieder an, bekamen vom Ministerium sogar noch den wohl gütigen Ratschlag, uns gänzlich zurück- und herauszuhalten, und auch Julia nahm es tapfer in Kauf, allein ihren Mann zu stehen - und wir konnten somit zusehen, wie sich die Dinge auf Kosten der Gesundheit, der Kraft und auch der Seele unseres Kindes abspielten.
Da waren zwei Lager. Wir waren ja nun auch in diese Gesellschaft geraten, die das Leben eben so einteilte: In die Besitzenden, und die Nicht-Besitzenden. Und wir mußten das eigentlich ganz logisch finden, denn die Mehrheit des DDR-Volkes, das wohl ganz gut um die Zusammenhänge hätte wissen können - so schlecht war unsere Schulbildung doch nicht und erst recht nicht Analyse und Wertung marktwirtschaftlich-kapitalistischer Gesellschaften - die Mehrheit dieses DDR-Volkes wollte in genau dieser Gesellschaft leben. Vielleicht meinten alle, sie würden sich auf der Seite der Besitzenden wiederfinden.
Durch unsere Tochter und ihren ausgeprägten Wunsch, das berufliche und überhaupt das weitere Leben dem Pferde zu widmen, bekamen wir ganz schnell Einblick in dieses Gesellschaftsgefüge. Die zwei Lager also waren nicht zu übersehen. Die besitzenden Bauern, auf der einen Seite, denen auf Grund ihres Landbesitzes die Millionen nichts ausmachten, wunderbare Pferdehöfe aus dem Boden zu zaubern. Das Geld kam ohnehin schnell wieder herein beim Preis von 800 Mark pro Box und Monat.
Und da waren diejenigen, die hier Arbeit fanden. Besitzlos. Julia hatte nichts als ihre Liebe zum Pferd und ihre zwei Hände zum Zupacken. Erstaunlich genug, wie diese eigentlich zarten Hände zupacken konnten.
Nach der Potsdamer Erfahrung also kam der nächste Pferdehof. Nach anfänglichem scheinbar gutem Miteinander - auch dieser Hof war brandneu und die jungen Eigner noch ungeübt in ihrer Rolle als Unternehmer, Großgrundbesitzer, Leiterpersönlichkeiten und Berufsausbilder noch dazu - stellten sich wiederum Situationen ein, die wir mit unserem vom bisherigen Leben geprägten Gerechtigkeitsverständnis für schlicht nicht möglich gehalten hätten. Alles lief gut, solange die schier unmöglichen Arbeitsbedingungen widerspruchslos hingenommen wurden. Julia hatte eine Arbeitsstelle verloren. Diese hier wollte sie behalten um jeden Preis. Um im Winter bei Glatteis die Arbeit pünktlich um 6 Uhr beginnen zu können (wenn die Hofbesitzer sich nochmals im Bett umdrehten), stand sie so manchen Tag kurz nach drei Uhr nachts auf und ließ sich von mir die 35 Kilometer fahren, denn sie war nach wie vor unterhalb des Alters, da sie selbst hätte Auto fahren dürfen und können. Mit zwar ordentlicher Frühstücks- und Mittagspause endete die Arbeit zunächst so gegen zwei oder drei Uhr. An einen Feierabend war jedoch nicht zu denken, denn da kamen noch die Abenddienste. Füttern, Fegen, Stall abschließen. Täglich. Ab und zu gelang es, sie mittags für kurz nach Haus zu holen, wieder 35 km Fahrstrecke hin und kurz darauf wieder zurück. Meist aber blieb Julia vor Ort. Ohne Aufenthaltsraum. Je nach Jahreszeit saß sie dann am Feldrain, bei dem einen oder anderen Pferd in der Box, hielt sich auf in den zugigen Stallgassen. Abends stand einer von uns Eltern erneut da, den Azubi nach Haus zu holen. Das Denken reichte nicht und nicht der Wille, die Dienste der wenigen Arbeitskräfte so einzuteilen, daß die Früh- und Späteinsätze getrennt und von verschiedenen Personen geleistet worden wären.
Die Ausbildung selbst hielt sich in mehr als engen Grenzen. Misten und Fegen waren die Hauptbeschäftigung. Über Monate. Füttern noch. Andere Inhalte gab es nicht in der Praxis. Keiner, der etwas erklärte. Keiner, der für etwas zuständig war. Vom unqualifizierten Herumkommandieren in junkerlicher Manier einmal abgesehen. Von Reiten - das zur Abschlußprüfung in guter Qualität verlangt werden würde, schon gar keine Spur. Die Pferde gehörten alle betuchten Privatbesitzern. Wo sollte da ein Pferd zum Reiten für den Lehrling hergenommen werden!
Julia, wie gesagt, fügte sich. Eingedenk gemachter Erfahrung. Das zweite Lehrjahr ging herum, und die Bedingungen wurden katastrophaler. Die fehlenden Lehrinhalte - die gut funktionierende Berufsschule ausgenommen - beunruhigten uns zunehmend.
Und auch hier wieder nur ein knapper Zusammenschnitt des weiteren Verlaufs. Denn die durchlebten Nöte und Sorgen, die schlaflosen Nächte um die Zukunft des eigenen Kindes, das unfaßbare Staunen oder vielmehr Entsetzen über den Umgang mit Menschen einschließlich der absoluten Unmöglichkeit, von irgendwo Hilfe und Recht zu bekommen, haben so tief verletzt, daß man die Erinnerung - was wohl illusorisch - zu verdrängen versucht. Historisch festgehalten gehört sie dennoch.
Der trügerische Frieden im Ausbildungsbetrieb währte genau so lange, wie Julias Arbeitskraft zu 100 Prozent zur Verfügung blieb. Er war gestört mit dem ersten Tag, da krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vorlag. Nun ist dies eine nicht zu verhindernde Erscheinung im Leben eines jeden Berufstätigen, und durch Unfallgefahr im Pferdemetier noch weit eher einzukalkulieren.
Ein Handgelenk in Gips, nachdem ein Hengst es mit dem Huf getroffen, wurde mißmutig zwar, doch immer noch hingenommen. Monate danach schleppte sich Julia bei schwerer Erkältung mit einer Temperatur von über 39 Grad zur Arbeit. Sie mistete in diesem Zustand die Dutzenden Boxen mit der Hand, Gabel für Gabel, und lud die Schubkarren voll. Da existierte zwar ein Motorkarren, den schweren Mist hinaus an den Feldrand zu fahren. Doch stand der nicht zur Verfügung, weil der junge Hofbesitzer in ebendiesen Stunden seinem kleinen Söhnchen einen Nachmittagsspaß gönnen wollte und ihn im Gelände auf und ab fuhr. Das fiebernde Mädchen wuchtete Karre um Karre, hochbepackt mit dem feuchten Mist, hinaus ins Freie. Eine Situation, zu der wir im Bekanntenkreis dann wieder zu hören bekamen „... wie konntet ihr denn das nur zulassen ...“
Ein junger Mensch verkraftet viel und erholt sich schnell.
Der letzte Fall, in Bezug aufs Makabre wohl nicht zu überbieten, kostete trotz aller erbrachter Anpassungsopfer kurz vor Abschluß des dritten Ausbildungsjahres dann doch die Lehrstelle: Es galt, Zentnersäcke zu verladen. Hinauf, oder herunter von einem Wagen, es ist mir entfallen. Auch zum Inhalt kann ich nichts Genaues mehr sagen. Futter wird’s gewesen sein. Fest steht jedenfalls, die Arbeit geschah von Hand. In einem hochmodernen Betrieb, in dem ein elektronik-gesteuerter Fuhrpark sowie vom Rotlichtsolarium für die edlen Rösser bis zur selbstöffnenden und sich selbstberegnenden Dachanlage der imposanten Reithalle es an nichts fehlte, in einem solchen Haus bedurfte es der Muskelkraft eines Mädchens, um Wagenladungen Futtersäcke zu transportieren.
Tags drauf hatte Julia Blut im Urin. Mit schwerstem Fieber und Verdacht auf Nierenriß ließ kein Arzt sie auch nur einen Schritt noch aus dem Auge.
Gegen die Kündigung klagten wir vor dem Arbeitsgericht und gewannen den Prozeß. Für den Abschluß der Ausbildung unserer Tochter aber blieb das ohne Wirkung, denn in den Ausbildungsbetrieb konnte sie keinen Fuß mehr setzen.
Und wiederum: Die Geschichte ist noch lang nicht zu Ende.
Wenn ich hier abbreche, so tue ich das, um Nerven zu sparen.
Nach der Quintessenz wird man fragen?
Nun, Hannes, mein Mann, paßte sich nicht an in dieser neuen Welt, und es tat ihm nicht gut. Julia, meine Tochter, war um Anpassen bemüht, schon als Vertreter der nächsten Generation, die in dieser Welt nun zu bestehen hat, doch nutzte es ihr ebensowenig.
Vielleicht ist diese Gesellschaft doch nicht das, was sie zu sein vorgibt?
Folgenden Nachsatz möchte ich dem Leser nicht vorenthalten: Alle in diesem Beitrag erwähnten Arbeitgeber sind ehemalige DDR-Bürger.
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