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Christa Nikusch

12 Wendejahre: Sind wir in der BRD angekommen? - Oder etwa nicht?

 

Zuerst fielen die meisten „Ossis", wie wir zumeist genannt wurden, in ein tiefes Loch. So ziemlich alles, woran wir uns gewöhnt hatten, gab es nicht mehr oder es war nicht mehr erschwinglich für den Normalbürger.

Viele Politiker diskutierten darüber, ob die „Neufünf-Länder" wohl die BRD als ihre Heimat akzeptierten. Deshalb die Überschrift über meinem Beitrag.

Wie war das nun nach der Öffnung der Grenze? Alles stürmte erst mal nach West­berlin um freudig die 100 DM Begrüßungsgeld entgegen zu nehmen - also angekom­men in der BRD!

Danach wurden durch die Treuhand so ziemlich alle größeren Betriebe für einen „Appel und ein Ei“ verkauft, ausgeschlachtet und geschlossen. Das erste große Erwa­chen der Bürger: man war arbeitslos. Was sagte meine Cousine in Offenbach? Na ist doch normal, bei uns ist das nicht anders - also wieder angekommen In der BRD.

Die Enkel in der Schule wunderten sich. Keinen Fahnenappell, keine Pionier­organisation, nur noch lernen, lernen - langweilig. Eines Tages sagte Peter zu mir: „Omi, in der politischen Bildung lernen wir jetzt genau das Gegenteil von dem, was wir früher sagen und denken sollten. Ist ganz einfach, man kann nicht viel falsch ma­chen!“ Eines Tages sollten sie, die Kinder, sich in Listen eintragen. Je eine für ev., kath. und ohne Glauben. Peter gab die Liste einfach weiter. Er wurde belehrt, daß er sich eintragen müsse. Auf seine Frage - Warum?, erfuhr er, daß man eine Meinung haben müsse wenn man gefragt wird. Er antwortete: Mich hat auch keiner gefragt, ob ich Pionier bleiben will, das wurde einfach abgeschafft; an Gott glauben wir nicht, also können Sie das Ganze vergessen!“ Reinfall, die anderen Kinder schrieben sich auch nicht ein. Ja, ja, schwer haben es die Lehrer in dieser Zeit! War Peter nun in der BRD angekommen oder etwa nicht?

Meine Enkeltochter als begeisterte Schwimmerin trainierte bei Dynamo Branden­burger Tor. Träger war der Zoll. Welcher Staat, außer natürlich in der Europäischen Union, hat keinen Zoll? Fast über Nacht wurden alle Trainer als „staatsnah“ eingestuft und entlassen. Aus war es mit dem Leistungssport. Die Kinder waren traurig. Was nun? Ja, die BRD hat kein Geld für Sport übrig. Und die kleine DDR, die hatte das? Manja wunderte sich, sie war mit Sicherheit noch nicht in der BRD angekommen, sie ging auf Distanz!

Mein Schwiegersohn war besser dran. Sein Betrieb wurde von Samsung übernom­men und produziert am laufenden Band Bildröhren aller Größen. Sie konnten gar nicht genug herstellen. Überstunden an der Tagesordnung, Sonnabend und Sonntags arbeiten - aber das Geld stimmt. Er ist in der BRD angekommen!!

Meine Tochter? Sie wurde gleich nach der Wende arbeitslos. Seither hat sie ABM ge­arbeitet, Schulungen besucht, ihren Beruf zum zweiten Mal erlernt. Aber Arbeit? - die hat sie immer noch nicht gefunden. Nun hat sie viel Zeit zum Nachdenken. In der DDR war sie wohl der unpolitischste Mensch, den ich kannte. Heute ist es ganz anders. Sie liest genau die Zeitungen, gründlicher als ich. Sie ärgert sich über die Regierung, wie sie Gelder veruntreuen, wie sich die Parteien gegenseitig beschimpfen, mithelfen, daß gro­ße Firmen und Banken Pleite gehen und die Arbeitslosenzahlen steigen und steigen. Statt hier wirklich Abhilfe zu schaffen, wird wochenlang wegen der angeblich verfälsch­ten Statistiken diskutiert. Meine Tochter ist noch nicht in diesem Staat angekommen.

Mein Sohn erlernte in der DDR Zeit den Beruf eines Elektromonteurs. Er fand nach der Wende in einem kleinen Betrieb Arbeit. Das Geld reichte dort weder hinten noch vorn, also wurde auch am Arbeitsschutz gespart. Durch Fremdverschulden erlitt er einen Betriebsunfall und ist seither im Halsbereich querschnittsgelähmt. Da wir unsere Kinder immer hart gefordert haben, hat er sich nicht aufgegeben. Er hat ein neues Hobby gefunden, seinen Computer. Und alle staunen, was er da vollbringt. Sei­ne Frau pflegt ihn und erhält dafür das Geld der Pflegestufe 3. Das Geld reicht fürs Leben, sie haben wenigstens keine materiellen Sorgen. Seine Berufsgenossenschaft hat sich mit einem hohen Anteil am Umbau seines Autos beteiligt. Obwohl er keine Hand­funktion hat, fährt er selbst wieder Auto. In diesem Auto stecken sehr viel eigene Ide­en, die beim Umbau realisiert wurden. Das wäre in der DDR nicht so einfach gewesen, aber doch machbar. Er ist in der BRD angekommen.

Und ich? Ich habe mich eingerichtet. Da mein Mann leider verstorben ist, habe ich zwei Renten und lebe gut. So viel Geld hätte ich in der DDR nicht bekommen. Klar, da war ja auch das Leben billiger. Früher bin ich oft ins Theater gefahren. Heute traue ich mich nicht mehr abends mit der S-Bahn zu fahren. Da gehört sie zumeist randalieren­den Jugendlichen und obdachlosen Dauerfahrern. Inzwischen wurden mir zwei Knie­prothesen eingesetzt. Eine ordentlich, die andere schief. Trotz Korrektur habe ich lau­fend Schmerzen. Nun erhielt ich den Schwerbeschädigtenausweis und kann für 120 DM im Jahr so viel Bus, S- und U-Bahn fahren wie ich will, wohin aber? Kultur ist zu teuer. Selbst Museen haben ihre Preise. Einkaufen in Berlin? Das Gleiche bekomme ich auch hier im Ort.

Meine Wohnung wurde rekonstruiert. Alles ist jetzt schön, auch teurer. Demnächst bekommen wir den „Mietspiegel“ unserer Stadt. Zu DDR-Zeiten haben wir unsere Grünanlagen selbst gepflegt, hier und da Bäumchen und Sträucher, Blumenrabatten angelegt und alles hübsch arrangiert. Aus den Bäumchen sind Bäume geworden in den 30 Jahren. Nun wohnen wir in bester Wohngegend. Die S-Bahn-Nähe noch dazu, also werden wir bei der „Mietspiegel“-Vergabe hoch eingeschätzt. Dumm gelaufen, da hätte vor dreißig Jahren wohl keiner dran gedacht!

Was noch? Ich singe in einem Chor, kassiere Geld für die Volkssolidarität, die gibt es noch. Ich fahre hin und wieder zur Kur, natürlich ins Ausland, denn hier könnte ich es nicht bezahlen. Ich bin politisch aktiv tätig in der Gruppe „Mütter gegen den Krieg Berlin-Brandenburg e. V“. Unser Anliegen ist es, so viele Menschen wie möglich auf­zuklären über die Ursachen von Kriegen. Unsere größte Aufmerksamkeit geben wir unserer Jugend, erzählen ihnen von unseren Erlebnissen als Kriegskinder und fordern sie auf, sich nicht am Völkermord zu beteiligen, ganz gleich wie und wo. Das eigene Vaterland verteidigen, ja, das hat unsere Zustimmung. Aber Auslandseinsätze? War­um sollen sie für fremde Interessen ihre Gesundheit oder gar ihr Leben aufs Spiel setzen? So lange unsere Jugend von unserer Regierung zu Kriegseinsätzen geschickt wird, bin ich nicht in der BRD angekommen.

Was ist nun aus meinen sechs Enkeln geworden?

Der Älteste ist KFZ-Mechaniker. Nach seinem Wehrdienst hat er nur auf Zeit Ar­beit in seinem Beruf gefunden, sozusagen als Aushilfe für Kranke. Da ist er nach Bre­men gegangen, um seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten zu können. Und wer küm­mert sich nun um Omis Auto?

Die einzige Enkeltochter, die ich habe, wird in Kürze Physiotherapeutin sein. Für sie mußten die Eltern 3 1/4 Jahre monatlich 750 DM bezahlen, damit sie den Beruf erlernen konnte. Sie fand keine Arbeit in der Nähe und ist nun mit ihrem Freund nach Stuttgart gezogen um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Und wer kümmert sich nun um Omis alte Knochen? Ich finde es nicht normal, daß unsere Jugend die Region verlassen muß, nur, weil es Neugründern so schwer gemacht wird, hier Betriebe aufzubauen. Immer noch gehen mehr pleite als neue gegründet werden. Das liegt an der mangelnden Unterstützung durch den Staat.

Der dritte Enkel lernt noch Industriemechaniker bei den Berliner Verkehrsbetrie­ben. Er hat ein ganz tolles Ausbildungsprogramm. Wenn er fertig ist, beherrscht er fast alles, was im metall- und holzverarbeitenden Gewerbe vorkommt. Ob ihn das aber mal vor der Arbeitslosigkeit beschützt? Die S-Bahn baut auch Arbeitskräfte ab. Nicht zu verstehen bei den vielen Pannen, die es da gibt. Ich denke nur an die jährlich statt­findenden Unfälle!

Der vierte Enkel hat soeben den Berufsabschluß eines Verkäufers erworben. Ei­gentlich wollte er gleich noch die Ausbildung zum Einzelhandels-Kaufmann anhän­gen. Nichts zu machen, er findet keinen Ausbildungsbetrieb. Klar, für die erste Aus­bildungsstufe zahlte das Arbeitsamt, nun müßte der Handel selbst zahlen. Kein Geld, kein Geld. Nun hat er die Möglichkeit, Schulen zu besuchen. Einmal 3 Monate, da bekommt er 900 DM pro Monat, oder für ein Jahr, wahrscheinlich, mit BAföG, um das Abitur nachzuholen. Arbeit im Beruf? Zur Zeit Aushilfe im Sommerschlußver­kauf. Nun hat er sich entschlossen, in einem neunmonatigen Lehrgang, bessere Kennt­nisse zur Beherrschung des Computers zu erwerben.

Enkel fünf und sechs wohnen in Bratislava. Mein drittes Kind, eine Tochter, führt eine internationale Ehe. Ihnen geht es gut. Vater und Mutter haben Arbeit. In der Schule haben die Kinder keine Lernschwierigkeiten. Sie sprechen deutsch und slowa­kisch perfekt, lernen ab der 2. Klasse englisch, gehen sonntags in die Kirche und an­sonsten? Filip ist Fußballer durch und durch, 2mal in der Woche Training, am Wo­chenende ein Spiel. Kostet die Eltern fast nichts.1 Der Martin ist musisch begabt. Er lernt Klavier spielen. Einmal die Woche Theorie, einmal Ausbildung am Instrument, kostet die Eltern nicht viel. Tagsüber sind sie im Hort, da wird gebastelt, gemalt, beim Spazieren gehen lernen sie die Natur kennen. Kostet die Eltern fast nichts.

Ein Jahr bevor die Kinder zur Schule gehen, müssen alle den Kindergarten besu­chen, sie werden intensiv auf die Schule vorbereitet. Da fahren sie auch das erste Mal ohne ihre Eltern für eine Woche in die „Naturschule“, ins Gebirge ca. 30 km weg von zu Haus. Da müssen sie dann zum ersten Mal selbst auf ihre Sachen achten und das Bettchen selbst bauen. Kostet die Eltern nichts. Diese Fahrten werden auch in der Schulzeit weitergeführt. Die Größeren fahren 14 Tage zum Wintersport. Kein Kind verläßt dort die Schule, das nicht schwimmen und Ski fahren kann. Kostet den Eltern wieder nichts.

Nun überlege ich die ganze Zeit - bin ich nun in der BRD angekommen oder nicht? Wodurch unterscheidet sich nun der Ossi vom Wessi? Eigentlich durch nichts. Halt, halt nicht so schnell! Doch es gibt einen Unterschied: Der Ossi hat seine guten und schlechten Erfahrungen mit der DDR. Die hat der Wessi nicht, er kennt alles nur vorn Hörensagen, aber er kennt alles unbedingt besser als die Ossis selbst. Wir können ob­jektiv vergleichen und wissen, zumindest in groben Zügen, was falsch war und was gut. Diese Erfahrung haben unsere Brüder und Schwestern in den alten Bundeslän­dern nicht. Sie tun nur so, als ob sie alles wüßten.

Überhaupt, was soll das Gerede vom Ossi und Wessi? Wir sind doch ein Volk, und das ist gut so. Aber sind wir nun in der BRD angekommen oder nicht? Ich weiß es nicht. Aber eins ist gewiß, in der freien Marktwirtschaft - sprich Kapitalismus - mit allem drum und dran, da bin ich gelandet, das weiß ich genau.


1 „Fast nichts" bedeutet zwischen 100-150 slowakische Kronen im Quartal. Das ist für die meisten Eltern ein erschwinglicher Preis. Für Eltern mit vielen Kindern oder sozial schwache Familien sind die Leistungen kostenlos.


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