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Zerlegung eines Mosaiks
Ist das Mosaik vollständig, so ist das Bild erkennbar. Aus wievielen Teilchen ist es einst entstanden. Aus wieviel Formen. Farben. Nuancen. Der einzelne Splitter verbarg seinen Zweck. Erst, wenn alles zueinander kommt, wird auch sein Sinn deutlich.
Zerlegen wir das Mosaik! So wie man das zerlegt hat, das unser Leben war. Das Bild trägt den Namen: Niedergang. Es besteht aus tausend Einzelteilen. Warum, eigentlich, sagen sie: Niedergang? Mein Wort war immer: Abgesang. Doch schließlich: Es kann so vielfach heißen. Niedergang, Abgesang, Untergang. Zusammenbruch. Aufgabe. Demontage. Abhängigkeit, Hörigkeit gar. Verlorene Hoffnung, betrogene Hoffnung. Was es auch war, das das Auslöschen des Landes DDR herbeigeführt hat, mit Sicht nach innen, mit Sicht auch nach anderswo. Wo fleißig gewirkt worden war, und so erfolgreich, an dem historischen Stück ... Was es auch war, eine ,Wende', unverfänglich in des Wortes Sinn, eine Wende, schlicht und bescheiden, war es nicht. ,Wende' aber, ein wohltönend Wort. Es tat nicht weh. So nahm man es. Und man meinte es wohl, zunächst, auch noch. Man blieb dabei. Beinah ein jeder hat sich gewöhnt und spricht es nach.
Wollten wir die Mosaiksplitter benennen, sie alle, aus denen das Ganze sich fügte, dieser ... unser Niedergang, so wäre viel Platz vonnöten. Starrsinn, Dummheit, Hochmut. Blindes Vertrauen, fehlender Durchblick, mündend in Gleichgültigkeit. Nicht zu vergessen, weil unübersehbar gewaltig, der Eigenanteil. Eines jeden. Am Loslassen dessen, das da einst werden sollte. Aus dem Lande DDR. Der eigene Anteil am Werden des Mosaiks, alsbald, von dem hier die Rede ist. Der Eigenanteil des Landes DDR - und seiner Gestalter, die wir alle waren - an seinem Untergang.
Die Wahrnehmung war verschieden. Die Entwicklungen, wie sie sich anbahnten. Die Sicht war verschieden. Und die Einblicke in das, was vorging. Der Zeitpunkt nicht einheitlich, wann wer was wahrnahm. Registrierte. Vermutete. Vorhersah. Mit welchen Hoffnungen verband oder auch Ängsten. Die Zeitspanne war unterschiedlich, seit ein jeder im Lande wohl eine Ahnung trug, so könne das alles nicht bleiben. Geschweige denn, weitergehen.
Mein Mosaik des Niedergangs hat ungezählte Steinchen. Bunt. Facettenreich. Markant zumeist. Wenig liebreich. Eher gratig und schroff. Einige will ich versuchen zu deuten. Sie befragen nach ihrem Anteil am Gesamtbild.
Die Parteischule
„Jähe Wendungen sind nicht ausgeschlossen', weißt du noch?" fragt mich mein Mann. „Da hat er mal etwas wirklich Treffendes gesagt" entgegne ich, „und so richtig konkret und verständlich."
Es war das Honecker-Zitat, das Hannes eines Tages von der Parteihochschule heimgebracht hatte, an das wir uns nach Jahren nun erinnerten. Aus aktuellem Anlaß. Aus den .Wendungen' allerdings war eine gänzlich komplette Kehrtwende geworden. Und ,jäh' stimmte allemal.
„Ja", sagt Hannes, „gemeint aber war es damals nur rein theoretisch und eher noch als Gag." „Tja, die Theorie, eben, und die Praxis! Die Dissonanz der beiden, und vor allem das Augen-Verschließen vor dem Nicht-Funktionieren des theoretisch Gedachten, des theoretisch Gewollten, vor dem, das im realen Leben so gänzlich anders war, dies war dann wohl das eigentliche Dilemma."
Das Damals lag in gar nicht so ferner Zeit. Wir haben es wieder vor Augen. Das eine Jahr. Kurz vor Toresschluß.
„Wie war es wichtig, daß du dorthin gingst. Zu dieser Parteihochschule. Was hat es gebracht?" sage ich, eher als Vorwurf denn als Frage.
„Das Häkchen war's. Darauf kam es an. Das Häkchen in der Kaderakte."
Ein nichtssagendes Häkchen, doch von immenser Bedeutung. Da hatten die Dinge längst schon begonnen, sich zu verselbständigen. Weiterbildung hat gewiß ihren Sinn. In egal welcher Gesellschaft. Doch das immer und immer Wiederkäuen gleicher theoretischer Feststellungen, die der Einfachheit halber allzuhäufig wohl eher auch Festlegungen waren denn wahre Erkenntnis, all das wurde nicht wahrhafter, nicht höher im Wert, nicht nutzbringender, durch vielfaches Nachplappern. Wie aber liebte man das. Im Lande DDR. Viel Zeit brachte man damit um. Gewollt, und weit öfter ungewollt. Irgendwo saß bald ein jeder, keiner entkam. Und ließ sich beschulen auf diese Art.
Wissenszuwachs brachte das eine Jahr meinem Mann denn wohl kaum. ,Seine Klassiker', wie es so schön hieß, hatte er im Laufe seines Bildungs- und Berufslebens über und übergenug studiert. Und er konnte, viel besser als ich und manch anderer, auch umgehen mit den Dingen.
„Ja, was, also, hat es gebracht?" frage ich noch einmal.
Ganz deutlich brachte es zunächst einmal die finanzielle Rückstufung auf studentisches Stipendienniveau. Eine schmerzhafte Einbuße, im fünften Lebensjahrzehnt, in einer Familie, in der ich wegen eines Schwerstpflegefalles schon mehrjährig ohne Verdienst noch anderweitige Unterstützung war. Nach Ablauf der erzwungenen papiernen Qualifizierung setzten im Ergebnis dann noch die personellen Querelen ein mit der zwischenzeitlich in Hannes' Funktion amtierenden Vertreterin, die diesen Platz nun nicht mehr zu räumen gedachte. Und es war gut gekungelt worden in seiner Abwesenheit. Großzügig stand nach der Rückkehr der Posten des Parteisekretärs frei. Für meinen Mann. Der durch und durch Sozialpolitiker war. Dessen Herzensanliegen zwanzig Jahre hindurch die Gesundheits- und sozialen Belange der Menschen waren. Denen sich weiterhin widmen zu können ihm das reichlich sinnlose Opfer wert war, ein volles Jahr die Parteischulbank zu drücken.
Das Auseinanderdriften von Theorie und Praxis, um beim Thema zu bleiben, zeigte uns damals schon - und nicht erst heute in weiser Rückschau, da allen alles klar ist _ dieses Parteischuljahr nun aber überaus deutlich. Es geschah nicht nur einmal, daß der Parteischüler W., der als Kontrollchef des Gesundheits- und Sozialwesens der Ar-beiter-und-Bauern-Inspektion wohl besser als jeder im Lande wußte um die Tücken und Schwächen im System, weit oben in den Ministerstuben wie auch ganz unten im letzten Vorzimmer der allerkleinsten Poliklinik, daß dieser sich nun belehren lassen sollte, vom sprichwörtlichen ,grünen Tisch' her, thesenhaft, über das, was da angeblich ,Sache' war. Es zeugt von seiner Geradlinigkeit, daß er dies Geschwätz nicht einfach hinnahm. Wie von einem Parteihochschüler gemeinhin erwartet. Und es zeugt ganz gewiß von seiner Kompetenz, daß man, bei den Parteitheoretikern vom grünen Tisch, nicht mit dem ganz großen Unmut reagierte und ihn einfach von der Schule warf. Sicher murrend, ganz gewiß nicht einsichtsvoll, schluckte man, was da kam, aus der untrüglichen Praxis, an Widerrede. Ein ums andere und schließlich ein jedes Mal.
Hier die Geradlinigkeit zu wahren, nach Rückkehr in die ABI sich jenem unverschämten Ausbootmanöver zu widersetzen, beides waren Dinge, die konnten ,Kopf und Kragen' kosten. Mein Mann hat sich durchgesetzt. In dem einen wie dem anderen Falle. Dem Lande und seinem Gesundheitswesen allerdings hat das nichts mehr genutzt, denn beides kam kurz darauf zu Fall.
In neuer Zeit dann, brachte das Jahr zudem, durch göttergleiche Entscheidungsträger, die sehr wohl aus gleichem Land hervorgegangen waren, die ebenda gelebt, gearbeitet, sich gebildet und ihr Geld verdient hatten, die doch nun auf neuen Stühlen saßen, flott und vor allem laut, in die neue Richtung schrieen, die Einstufung in die Beinah-Kriminellen-Gilde.
Die Sorge um den Kranken
Nehmen wir ein anderes Mosaiksteinchen. Wieder eines vom Gesundheitswesen. Doch aus veränderter Perspektive. Die Tätigkeit meines Mannes brachte mit sich, daß wir guten Einblick hatten in dieses Gebiet. Gesetze waren da und Regeln, nach denen zu verfahren war. Das war bekannt. Daß die Gesetze gut ausfielen, im Interesse der Menschen, und daß, sie einzuhalten, gewährleistet war, dafür existierte Hannes' Arbeitsplatz.
Spätestens heute, Jahre, nachdem jene Gesetze und Regeln in den Mülleimer der Geschichte gekippt worden sind, wird der eine oder andere wohl doch festgestellt haben, daß sie so schlecht nicht waren. Daß sie keineswegs schlecht waren. Oder falsch. Halbherzig. Menschenverachtend, gar. Wer nur, und warum, fand solche Attribute im Nachhinein? Der zu Blütezeiten des DDR-Gesundheitswesens in einer Kur nach der anderen sich aalte? Der alle großzügigen Krankschreibemechanismen perfekt beherrschte und sie seinerzeit ausgiebig nutzte?
Festzustellen aber bleibt, es muß dann doch nicht alles so gut gelaufen sein, mit dem Lande DDR. Sonst wäre es nicht vergangen. So sang- und klanglos. Ein Prozeß, von der Mehrheit seiner Bürger verfolgt ohne Wimpernzucken. Von dem, das aber unwiderlegbar gut gelaufen ist, war der Bereich der gesundheitlichen Fürsorge für die Bürger ganz gewiß einer der bemerkenswerten. Ein jeder weiß, wovon ich spreche. Und Einzelheiten, vielleicht gar im Vergleich zur bundesdeutschen Gegenwart, kann ich sparen.
Wie dennoch gut Gemeintes in seiner Umsetzung, in seiner Ausführung, nicht immer auch gut ankam, davon kann manch Lied gesungen werden. Den einen betraf es hier, den anderen dort. Manch einen betraf es nicht. Wie medizinisches Personal im allgemeinen aufopferungsvoll zu wirken hat, ist hinlänglich bekannt. Und daß sie es zumeist auch tun, die Arzte, die Schwestern, ist unbestritten. Ethische Erwägungen, denke ich, stehen obenan bei jenen, die sich dem Menschen widmen.
Wenn, wie in meiner Familie geschehen, bei Gewährung aller festgeschriebenen Fürsorge, bei Bereitstellung aller medizinischen Leistung, bei Einsatz allen ärztlichen Vermögens, bei großzügiger Verfügbarkeit aller medizintechnischen, Rehabilitations- wie auch sonstigen sozialen Hilfen - wenn bei diesem Umsorgungsgrad, der weltweit vielleicht einzig dastand, in seiner Breite, dennoch beinah fluchtartig und weit vor dem medizinisch gebotenen Zeitpunkt das Krankenhaus verlassen wird, so lag etwas sehr im Argen. Primitivste Kleinigkeiten, die das Positive ins Negative verkehren konnten, und dergestalt, daß der Krankenalltag unerträglich wird, Unhöflichkeit, Kaffeegelage des Personals, die nicht etwa unterbrochen werden, nur weil ein (oder eine ganze Station) Hilfebedürftiger den Schieber braucht, dem linksseitig beinamputierten und rechtsseitig schlaganfall-gelahmten, zudem blinden Patienten das Essen irgendwo in die Zimmerecke gestellt, statt ans Bett gebracht, verschwitzte, nasse Bettwäsche nicht gewechselt, so daß das gefürchtete Wundliegen in Windeseile einsetzt.
Wenn solches möglich war in dem wahrlich gut gemeinten Gesundheitswesen der DDR, so zeigt dies überdeutlich die angesprochene Diskrepanz. Was nutzt das gute Gesetz für Bedürftige, über das sich nur der Gesunde freut!
„Weißt du, warum das alles nicht funktioniert?" Diese Frage hatten wir uns oft gestellt, mein Mann und ich. Und es ging doch nicht allein um die mißmutige Krankenschwester, die eine. Da waren die Pappdeckel am Bockwurststand, die auf die Straße flogen nach dem letzten Bissen. Statt in den Abfalleimer. Da waren die Dienstfahrzeuge, mit manch privater Fuhre. Da war das Baumaterial, das so peu a peu vom Materialplatz des Betriebes auf die Datsche gelangte, umgelagert, gewissermaßen, umfunktioniert zum Privatgebrauch. Die Kaffeepausen im Büro, und nicht nur eine, das Daherbeten von Phrasen, auch wenn man anderes dachte oder vielleicht nicht einmal verstand. Die frisierten Berichte nach irgendwo.
(Gern
kann ich ein eigenes, auch nicht sehr rühmliches Beispiel bringen. Vom Leiter der Abteilung Ausländerstudium der Humboldt-Universität,
die ich dies für eine Reihe von Jahren war,
wurde reichlich Berichterstattung verlangt. Die Qualität der Ausbildung, das
Wohlfühlen der Studenten aus aller Herren Länder, ihr Einbeziehen in
den Lebensalltag im Gastland DDR, das Beachten spezifischer Gepflogenheiten, die
Eingliederungswehwehchen, hier und da
... weitreichend war die Problematik, an einer großen Universität wie der meinen, um die sich zu kümmern sinnvoll
und notwendig war.
Die Humboldt-Uni war bekannt für die rote Lampe, in meiner dienstlichen Anfangszeit, die sie, als Schlußlicht quasi und hämisch belächelt, hinter sich her trug. Schlußlicht bezüglich der qualitativen Einschätzung seitens des übergeordneten Ministeriums, die letztlich auf meiner Wertung der Dinge beruhte. Das änderte sich schlagartig, als ich, nach Kennenlernen der Praktiken meiner Amtskollegen an anderen Hochschulen, meine Berichtsweise überdachte. „Bist du verrückt", hatten die anderen gesagt, alles ,alte Hasen' im Revier, „das kannst du doch nicht machen! Schreib doch so was nicht!" Ich war das Küken, gewissermaßen. Neu im Geschäft. Ich wußte um deren gleiche Probleme, an all ihren Unis und Hochschulen. Irgendwann also schaute ich mir deren Berichte etwas gründlicher an, und ich verstand. Das, dachte ich, hatte meine Uni denn doch nicht verdient. Auf Grund der Ehrlichkeit einen Rüffel nach dem anderen beziehen. So hatten auch meine Berichtsbogen bald ein neues Gesicht. Die krassesten Einzelheiten ließ ich allmählich weg. Formulierte nicht mehr so scharf gegen uns selbst. Die positiven Dinge gewannen einfach mehr Raum. Sicher, Falsches gab ich nie von mir. Sicher, ich erkannte weiter die Schwachstellen im eigenen Haus, und war um Besserung bemüht. Mit und ohne Ministerium wäre das so geschehen.
Ich habe einfach ein wenig anders gewichtet beim Schreiben. Ganz schnell nach jenem „Bist du verrückt?", und ohne daß dann wirklich schon alles ,im Lot' gewesen wäre, stand die hauptstädtische Humboldt-Universität zu Berlin in der Rangordnung der Hochschulen alsbald an der Stelle, an der man sie immer hat haben wollen. Die Zeiten mit der roten Lampe waren vorbei.
Sicher ist dies ein Beispiel der gelinden Art. Es rührte nicht an die Grundfesten. Die Ausbildung an unserer Uni war intakt, auch die unserer ausländischen Gaste. Sie zeitigte gute Ergebnisse. Die Studenten, aus dutzenden Ländern, fühlten sich wohl bei uns, waren beliebt, machten das studentische Leben noch etwas bunter, und in großer Mehrheit sind sie als geachtete Fachleute in ihre Heimatländer zurückgekehrt, um dort ihr gutes Wissen anzuwenden.
Wo die Relationen aber anders lagen, gegebene Einschätzungen vielleicht brisante ökonomische Inhalte betrafen, da mag solch Beschönigen, Unterschlagen echter Probleme, um des lieben Friedens willen, einen anderen Stellenwert gehabt haben. Wir wissen gut um diese Dinge. Wir wußten auch damals. Und haben doch nicht reagiert.)
Selbstbetrug also. Das Aushöhlen der eigenen Substanz. Das Sägen am Ast, auf dem man saß. Und so waren es die großen, wie aber auch die zahllosen kleinen Dinge. Das Rauchen des Bronchialkranken all seine Kurwochen hindurch, das ungehinderte Zuspätkommen auf Arbeitsstellen, das sich mischte in guter Ausgeglichenheit mit dem Frühergehen, so daß eines Tages der Witz mit den zu spannenden Seilen aufkam. Damit man sich nicht gegenseitig ms Gehege käme. Es waren die einfallslosen Schilder an Türen und Eingängen, mit den stereotypen Erklärungen, warum immer irgendwo irgendwer oder irgendwas nicht da oder vorhanden war. Es war die Lustlosigkeit im Servicebereich, so daß die schon sehr höflichen Anfragen des Bittstellers immer noch einmal sehr wohl durchdacht wurden, ehe sie dann an den Kellner oder den Handwerker gar herangetragen wurden. Seiten ginge das weiter so. Ich mache hier einfach den Punkt. Als dann noch das Westgeld kam und der Intershop ..
„Weißt du, warum das
alles nicht funktioniert?"
Wir hatten unsere Antwort parat. Und je öfter wir sie uns gaben, diese Antwort, um so vager verblieb die Hoffnung, die gesellschaftliche Entwicklung der Menschheit könne sich tatsächlich so vollziehen, wie sie theoretisch vorgedacht war. Wie wir sie, in jungen Jahren, in guten, belebenden Visionen, die Lust machten auf Zukunft, freudig mitgetragen hatten. Da wir, voller Illusion, wie man nun sieht, alles fast schon greifbar sahen: das Gute im Menschen, das Gerechte im Miteinander, die Gleichheit des einen wie des anderen. Die Rücksichtnahme, die Toleranz, das Füreinander-Da-Sein. Wie wir diese Überzeugung in uns trugen und bereit waren, tatkräftig mitzutun und teilzuhaben am Zustandekommen einer Welt dieser Art. Das Hauptproblem aber, warum das alles nicht so werden konnte, wie wir mit beinah kindlichem Gemüt gehofft hatten, trat uns klarer und klarer vor Augen:
„Unsere Gesetze", so sagten wir immer häufiger, „diese Gesetze, die sind dem Menschen um fünfhundert Jahre voraus."
Das so zu sagen verhieß noch die Hoffnung, die Entwicklung könne sich dieserart vollziehen, wenn auch nicht so schnell wie zunächst geglaubt. Heute sagen wir den Satz nicht mehr, Hannes und ich. Vielleicht haben wir resigniert. Ob die Menschheitsentwicklung jemals diese urchristliche, diese urkommunistische oder egal wie benannte, jedenfalls einfach gute Gesellschaftsform finden wird, das sehen wir gänzlich in Frage gestellt.
Der Mensch, also, will gezwungen sein. Druck braucht er. Moralisches Besinnen, das Schule machende Beispiel, das Gutes verheißt, Überzeugung, wie wir einst glaubten, all das tut es ganz sichtbar nicht.
Die pure Gleichgültigkeit
Das Musikgekreische auf dem Schulhof, die Beschallung der Kinder, daß selbst den Bewohnern der umliegenden Häuser Hören und Sehen verging. Tag für Tag. In jeder großen Pause. Man wollte die Meinen an ihr Heimatland binden. Sie sollten keine Westsender brauchen, um auch dies Gedröhn genießen zu können wie ihre westlichen Altersgefährten. So bekamen sie denn, was aus pädagogischer Sicht scheinbar notwendig war. Wir konnten nicht begreifen. Und wie oft kam unser Kind sichtlich genervt nach Haus, denn ihm war jeglicher Krach zuwider.
Die Verkäuferin, die auf dem Absatz kehrt machte, und dem Kunden nicht etwa die Tür öffnete, nachdem sie Punkt Drei den Schlüssel gedreht hat. Punkt Drei, wie gesagt, und ja kein Quentchen früher, die Frierenden dort draußen von der Straße schon einzulassen. Schlüssel gedreht und einwärts geschritten, daß der da vor der Tür sich immer noch fragte, ,Ist nun auf oder nicht?'
Die
Kellnerin, nicht bereit, dem Gast im Rollstuhl zu gestatten, vor der Restauranttür das Stückchen Kuchen zu verzehren und die Tasse
Kaffee, nachdem er der Stufen wegen einen Tisch im Innern partout nicht erreichen würde. Kalt und
ungemütlich wäre es
ohnehin dort draußen, in herbstlicher Jahreszeit, und nicht der Genuß wie für
den Gesunden. Nein, barsch wurde abgelehnt, den
angekippten Tisch dort im Freien gastlich zu
stellen, gar noch die Decke zu breiten, selbst wenn der behinderte Gast mit seiner
Begleitperson versprechen würde, das Servieren selbst zu übernehmen und das Geschirr
auch wieder zurückzuräumen.
Die sperrangelweit offengelassene Haustür bei neunzehn Grad minus, nachdem der letzte früh das Haus verließ auf dem Wege zur Arbeit. Es war doch egal, ob die in den unteren Stockwerken ihre Wohnungen warm bekämen. Sollten sie ihre Heizungen aufs Äußerste stellen. Das Heizwerk gab noch einiges her. Und mancher dort unten im Erdgeschoß hängte die wollene Decke in die Wohnungstür als Schutz vor der nachbarlichen Kälte.
Das Schulkind, mit den Entwicklungsproblemen, für die es nichts konnte, das partout in die höhere Klasse versetzt werden mußte, um einer festgelegten Statistik Genüge zu tun. Wie es dort klarkam, das Kind, welche Schäden es nahm, für sein weiteres Lernen, das war gänzlich ohne Belang.
Institute, in stattlicher Zahl, mit einer beachtlichen Wissenschaftlerschwemme ein jedes, die da forschten und forschten. Ob die Ergebnisse einer brauchte oder nicht, auch das war egal. Man saß gemütlich in seinem Institut, sonnte sich noch in seinem Ruhm und dem gut verdienten Geld. Die Prozentzahl von Arbeitslosigkeit jedenfalls lag gegen Null. Nur das war von Belang. Die Werte, die da zum Fenster hinausflogen, sie sah man nicht. Bei dieser Art Kurzsichtigkeit. „Warteschlangentheorie", sagt Hannes eines Tages. „Stell dir das vor! Warteschlangentheorie. Darüber forschen die!" Wieder einmal setzt die ABI den eisernen Besen an. Wohin nur geht unser Geld? Was tun wir mit unserem .Volksvermögen'? Wir hatten doch das gesamte Vokabular, in unserem sozialistischen Sprachgebrauch, das uns zeigte, was eigentlich wir wollten. .Volkseigentum'. .Menschengemeinschaft'. .Allgemeinwohl'...
Es war eine der letzten Kontrollen, über die ausufernde Institutslandschaft, die mein Mann zu führen hatte.
Nachhaltiger als die konkreten Kontrollergebnisse, in den letzten Jahren, die herauskamen und die nur wenig Änderung - und dies immer seltener - herbeizuführen vermochten, verblieb der Eindruck eines fassungslosen Kopfschütteins, das uns in jener Zeit permanent plagte.
Weiter in einer endlosen Reihe von Gleichgültigkeiten. Die einfach hingenommen wurden. Länger wurde sie und immer länger. Gleichgültigkeit persönlicher Art. Gleichgültigkeit staatlicher Art. Die Apfelsinen, die raren, die doch keiner essen mochte. Als Student lebte ich ein Jahr auf Kuba. Keine einzige Apfelsine dieser Konsistenz habe ich dort vom Baum gepflückt. Sie waren saftig auf der Insel und schmeckten, wie Apfelsinen so schmecken. An welchen Schreibtischen nur handelte man diese Importe aus? Vielleicht aß der keine Apfelsinen, der dort saß? Und war es tatsächlich kubanische Schuld, so saßen auch dort die Fachleute in Wirtschaft und Wissenschaft, vielfach hier bei uns ausgebildet, die dem Zustand durchaus hätten abhelfen können. Apfelsinen, die eßbar sind, wie man nun sehr wohl sehen kann, sind nachweislich kein Problem.
Das ewige Schulterzucken von Verkäuferinnen. Und es war so egal, ob der Kunde enttäuscht von dannen ging. ,Ham' Se keene Schnitzel?' ,Keene Schnitzel jibt's nebenan. Hier jibt's keene Tomaten!' Vielleicht ist das zum Schmunzeln, heute ... und das war es auch damals. Bei etwas weniger Gleichgültigkeit und etwas mehr Engagement, von welcher Seite auch immer, hätten wohl sicher sowohl die Schnitzel als auch die Tomaten vorhanden sein können. Es war eben egal. Ganz und gar egal.
Nur eines dieser Beispiele, ein konkretes, und ein total banales dazu, greife ich noch heraus, aus dieser Reihe sträflicher Gleichgültigkeit. Die die Menschen zunächst vielleicht gelähmt, ein Land aber letztlich - innerhalb gewiß eines Komplexes von Ursachen - zu Fall gebracht hat. Ich greife es heraus, damit wir uns anschaulich erinnern. Wir. Wir alle. Die wir alle solches erlebt haben und mit schwindendem Widerstand hingenommen. Und damit das Groteske ganz deutlich wird:
Dieser Tage, im Februar 2001, schaue ich aus meinem Fenster auf die Kreuzung am Ende der Stadt, die gründlich in neue Form gebracht werden soll. Ich bewerte nicht, ob alles vonnöten ist, was dort geschieht. Nicht, das wievielte Mal die gleiche Straße auch in neuer Zeit nun schon aufgehackt wird, der kürzlich erst aufgetragene Asphalt edler Westqualität wieder abgetragen und umweltgerecht entsorgt. Erneut der Verkehr gelahmt und umgelenkt. Ich verfolge nur die Arbeitsabläufe an sich. Beinah jeden halben Tag entdecke ich, als Laie selbst, ein neues Ergebnis. Ein Arbeitsschritt, der erkennbar beendet ist. Es bleibt nicht aus, den Vergleich zu ziehen.
„Erinnere dich mal", sage ich zu meinem Mann, „das Baugeschehen damals, an dieser gleichen Ecke."
So viele Jahre ist es her. Doch Hannes erinnert sich so gut wie ich. Warum der Bauwagen dort stand, drüben am kleinen Wäldchen am Teich, das haben wir vergessen. Das Neubauviertel am Stadtrand war fertiggestellt. Die Menschen waren lange schon eingezogen. Warm geworden in ihrer neuen Umgebung. Kleine Nacharbeiten werden es gewesen sein, die vielleicht noch nötig waren. Eines Tages, jedenfalls, stand ein Bauwagen da. Ein kleiner, wie es sie damals gab. Mit Öfchen drin, so vermute ich. Den Bauleuten, sozialistische Persönlichkeiten allesamt, sollte es an nichts fehlen. Nach Tagen dann, beschlich uns zunehmend der Eindruck, im Bauwageninneren könne es viel gemütlicher sein als auf der Baustelle um ihn herum. Um deretwegen er eigentlich dort stand.
Neugierig geworden, begann ich, bei meiner Arbeit tagsüber vielfach daheim, das Geschehen systematischer zu registrieren. So wenig Bewegung. Nie ging die Türe auf. Irgendwann war ein kleines Häuflein von irgendwas in der Nähe des Wagens abgeschüttet worden. Die Bauarbeiter, wenn da welche waren, nahmen es nicht zur Kenntnis. Nichts deutete irgendwie auf Arbeit hin. Ein winziges Fenster in dem Wagen ließ undeutlich Konturen im Innern erkennen. Etwas Helles, das sich nie bewegte. Eine Mütze, vielleicht, die dort hing.
Irgendwann begann auch Hannes zu schauen. Mit dienstlichen Augen, nunmehr.
„Das ist keine Mütze. Das ist ein Kopf."
„Wie, ein Kopf? Der muß sich doch bewegen! Dann und wann. Irgendwann, einmal, wenigstens!"
„Wer weiß, was die machen. Karten spielen, vielleicht."
„Hannes!"
Alles, doch nicht das, hatte ich geglaubt. Als, genau m jenem Moment, der helle Fleck in Bewegung kam. Und die Tür ging auf, und überaus gemächlich trat ein Blondschopf heraus aus dem kleinen Holzwagen. Schritt die zwei, drei Stufen herab, auf den eigentlichen Schauplatz seiner Baustelle, gewissermaßen, und reckte sich ausgiebig. Schließlich war man in frischer Waldluft. Und immerhin hatte man Stunden gesessen. Reglos gesessen.
„Schau", sagt Hannes, „der nächste."
Und
noch einer und wieder einer, und dann waren es vier oder fünf. Sie standen da, und
schöpften die gute, wohltuende Luft.
„Das heißt", sage ich zu meinem Mann, „die haben Tag für Tag dort gesessen? Sich nicht gerührt?"
„Karten gespielt", meint Hannes „Ich sage es doch "
„Schau, einer läuft los."
Tatsächlich, einer der ,sozialistischen Werktätigen' setzte sich in Marsch. Die Richtung ließ als Ziel die nahe Kaufhalle vermuten. Weitere Ausführungen kann ich sparen. Dreißig Minuten später, das gibt meine Erinnerung noch her, war er zurück. Mit einem Netz voller Dinge, und Flaschen waren nicht zu übersehen. Bald herrschte wieder die gleiche friedliche Stille wie Stunden und Tage zuvor. An dem Bauwagen, auf der Baustelle.
Es braucht mir keiner zu sagen, daß die fünf dort drüben vor meinem Fenster auf das Material warteten, das ewig und ewig nicht kam. Und als es dann kam, werden sie eine Schippe zur Hand genommen haben, die Jungs. Vermutlich recht lustlos, nunmehr, denn die Bauwagenidylle, an die man sich schnell hat gewöhnen können, drohte jetzt zerstört zu werden. Vielleicht hat ja auch die Schippe gefehlt. Oder der Strick, die Baustelle abzusperren.
All das, jedenfalls, leisteten wir uns. Und wir wissen, da waren nicht nur solche fünf, wie die, vor meinem Fenster. Wir wissen, die fünf, und all die anderen, in ähnlicher Lage, und wir selbst, sicher auch, so manches Mal, sind nicht allein die, und schon gar nicht in erster Linie, denen die Kritik zu gelten hat. Denen der Zusammenbruch anzulasten ist. Doch sie, immerhin, sind es eben auch. Keiner will heut' mehr ein Wort davon hören.
Wir, wie gesagt, leisteten uns das. Und wir waren nicht einmal sonderlich bösartig oder überdurchschnittlich faul. Wir dachten eben nicht nur sehr weit.1
Wechselspiel: Der Bürger - und sein Land, das Land - und seine Bürger
In unserem Bekanntenkreis, da war ein Professor. Ein Vielarbeitender. Einer, der kaum je Feierabend machte. Wenige Stunden nur, am Wochenende, mit der Familie im Garten, da spannte er aus. Ab und zu saßen auch wir dabei, Hannes und ich. Im Schatten eines gewaltigen Apfelbaumes sann er dann über das Leben nach.
„Wieso sagt er das?" fragte ich eines Tags auf dem Heimweg in unser Stückchen Grün.
„Wie kommt er nur zu dieser Meinung?"
Mein Mann war ähnlich selten zu Hause wie er. Pünktlicher Arbeitsschluß war kein Thema, dort wo er tätig war. Und wenn andere daheim langst werkelten und fliesten und tafelten, in ihren Grundstücken Wembley-verdächtige Flächen hegten und eine Prachtbotanik hervorzauberten, daß man neidisch werden konnte, blieb unsere Wohnung bieder-normal und unser Bauern-Pachtland-Gärtchen spartanisch und schlicht.
,Unsere
Menschen,' hatte er gesagt, so wie wir das damals gern sagten, ,unsere Menschen,
wie fleißig sie sind. Eine Freude, wie ein jeder die Zeit mit nützlichem Tun verbringt.'
„Arbeiten ja, das tun sie schon. Doch meist nur innerhalb vom eigenen Zaun. Fürs eigene Wohl."
„Genau", sagt mein Mann. „Und nicht einen Strich drüber hinaus."
Vielleicht erscheint das gänzlich normal. Wir aber wollten eine neue Gesellschaft sein. In der einer für den anderen stand. Der das Gemeinwohl am Herzen lag. Einem jeden hatte das Gemeinwohl am Herzen liegen müssen. Doch wie es vor dem Gartenzaun aussah, scherte meist nicht. Wenn die Bushaltestelle verwahrloste, so war es egal. Ob vor der Kaufhalle der Dreck sich türmte, wen kümmerte das. Drei oder viermal habe ich, als mein Kind gerade laufen konnte, mit ihm zusammen unser hübsches Innenwäldchen, das das Neubaugeviert umgab, vor der Zeit des aufkeimenden Frühlingsgrüns vom Unrat befreit. Bergeweise haben wir Abfall aufgelesen, obwohl kein Schnipsel je von uns dort lag. Und ein jedesmal Tage gebraucht. Wenige Wochen nur hielt der wohltuende Blick an vom Balkon in das Waldstück. Dann schon mochte man wieder am liebsten nicht aus dem Fenster schau'n.
Wir hatten es gut, so wie wir wohnten. Auch wenn es später die verpönte ,Platte' war. Wie gern waren wir hierher gezogen. Aus der Großstadt, so direkt an den Rand von Wald und Feld. Wir fühlten uns wohl - und wohnen heute noch dort. Wir liebten die Bäume, in die wir vom Sofa aus schauten, als säßen wir in der Försterei. Wer nur warf seinen Dreck dorthin? Wer nur konnte seine Kinder nicht so beaufsichtigen und erziehen, wie ich es mit dem meinen tat? Wieso konnten Rasenflachen, soeben für die Bewohner kostenlos angelegt, nicht Rasenflachen bleiben? In wenigen Wochen waren sie durchzogen von einem Netz getrampelter Pfade, und alsbald war das Grün unansehnlich oder gänzlich vergangen. Bezahlte Arbeit, bezahltes Material, wie weggeworfen.
Heut gibt es keinen Grashalm, der nicht nachweislich aus unserer Tasche finanziert ist (und nicht einmal der wird geschont!) Wieso konnten Menschen mit dem, was -und wenn auch unklugerweise - so freizügig vergeben wurde, nicht wenigstens achtsam umgehen? Unsere 500-Jahr-Theorie von den Gesetzen und dem Menschenbewußtsein ist das einzige, was mir dazu einäallt.
So war ein Land, das es über große Zeiträume ganz gewiß gut meinte mit seinen Bürgern, dem einzelnen ausgeliefert. Seiner Unachtsamkeit. Seiner Ignoranz. Seinem begrenzten, oder gar nicht vorhandenen Willen, mitzudenken und mitzutun.
Doch schauen wir auch anders herum. Bekanntlich sind es immer zwei Stiefel, die das Paar ausmachen: Das Individuum, dem Staate preisgegeben.
Der Wald von Uckley. Es war schon bekannt, dort saß die Armee. Zaune und Schilder wiesen deutlich an, wo Einhalt geboten war. Zähneknirschend, vielleicht, mied man sie, diese Areale in Wald und Flur. Landesweit. Ging man eben nicht um den ein oder anderen See, wie man es gewollt hatte. Spähte man am Ostseestrand eben nicht um die Landzunge herum, und wenn sie noch so lockte. Ging man hier nicht hin und da nicht hin, den Brocken nicht hoch und dort an den Zaun nicht so nah. Es gab eine Menge Schilder, im Staate DDR. Ganz selten, und sicher untypisch, gelangte man in unausgesprochener Übereinkunft mit den Oberen eines Sperrgebietes dann doch an die Stellen mit den besseren Pilzen, den größeren Blaubeeren. In stillschweigendem Abkommen wußten die Bewohner der Gegend um Uckley zum Beispiel, wenn es nicht knallte, im Wald, an schußfreien Tagen, dann stand dem Beerensammeln auch auf dem Ubungsgelande nichts im Wege. Horte man Schießen, und der Geräuschpegel legte sich über die umliegenden Dörfer und war von beeindruckender Dauer, so war es ein Tag der Armee. Man kam sich nicht ins Gehege.
Wie aber staunten wir, Hannes und ich, als, eines schönen Tages, da wir eine Weile schon nicht im engeren Gebiet um den Uckleysee gestreift waren, der Zaun versetzt worden war und das schon nicht bescheidene Terrain der Armee in dieser hübschen Naturecke um ein Vielfaches ausgedehnt. In unseren bislang freien Wald hinein. Und größer, der Zaun, und höher, und von aber stattlicher Qualität. Wir staunten. Und empörten uns. Was anderes blieb?2
Als aber dann, wieder ein oder zwei Jahre später vielleicht, Kampfgruppen auch noch begannen, das Gebiet auf der anderen Seite des Dorfes für ihre nächtlichen Übungen zu beanspruchen, der Bevölkerung auch hier noch vorzuschreiben, wo sie zu gehen hatte und wo nicht, da platzten wir endgültig vor Wut. Unsere Reaktion war lachhaft und simpel. Doch scheinbar wirkungsvoll. Das nächtliche Treiben, das sich in Buschen, an Wegrändern des zivilen Waldes vollzog, brachten wir gehörig durcheinander. Mit Dazwischenlaufen, das wir uns einfach nicht verbieten ließen. Mit Taschenlampengefunkel, das einem wohl zustand, ging man im Finstern spazieren. Und jedem Trupp, der sich wie im schlimmsten Einsatz des Vietnamkriegs in voller Tarnung ins Unterholz verkrochen hatte und in konzentrierter Geräuschlosigkeit den Feind erwartete, verrieten wir, ob sie's hören wollten oder nicht, wo die anderen steckten. Sandkastenspiele. Pure Lächerlichkeit.
Nach diesem einen Kampfgruppenversuch außerhalb des Sperrgebietes gab es einen zweiten jedenfalls nicht. Die Gottheit Armee, die da schwebte im Lande neben der Partei über allem, sie hatte wohl eine kleine Schlappe einstecken müssen und zog sich zurück in ihre ohnehin weitläufigen eigenen Gefilde.
Herrgott, es waren so simple Probleme. Die wir hatten in jenem Staat. Und man zweifelte ja nicht einmal generell die Notwendigkeit der Armee an. Doch das Überdrehen, das gänzlich unnötige Übertreiben, das Ausufern, Sich-Verselbständigen von Strukturen, das nervte gewaltig.
Sie waren wahrhaft simpel, die Probleme in diesem Wechselspiel von Staatsmacht und Individuum. Und im neuen Lande haben wir sie ebenso, und oft viel schlimmer noch. Die Menschen damals aber hatten einfach die Nase voll. Und vor allem, sie hatten die Chance, wegzulaufen. An neue Ufer zu gelangen. An denen stand man längst und winkte und warf die Rettungsringe aus. Nun, da wir angekommen, und so manches Mal fassungslos stehen vor gleicher Situation wie einst, nun gibt es kein Entrinnen mehr. Wohin auch noch?
Warum
nur, frage ich mich oft, haben wir, statt zu schimpfen und zu verzagen, es nicht
einfach besser gemacht? So, wie es gewollt war einst. Ein Land, eine
Gesellschaft, die für ihre Menschen
da ist. Selbstgestaltet. Mitgewirkt. Nicht hingesetzt und abgewartet, wie
die Dinge in den Schoß gelegt werden. Und gegrollt, wenn sie nicht so kamen wie
erwartet.
Nun sitzen wir wieder da. Haben Freiheit und Demokratie. Und lassen mit uns machen. Von den Banken und Versicherungen, von verschleierter Rechtsprechung und schröpfenden Politikern. Von Benzinpreisen, Pflegestufenmanipulation und Steuereintreibepraktiken. Gucken zu, schütteln den Kopf. Und können, so manches Mal, es wieder nicht glauben, was da geschieht.
Ein jeder, der seinerzeit so bereitwillig wegwarf, was er hatte und einfach nicht besser zu gestalten wußte, möge sich heute wenigstens erinnern, das dies, was er nun eingetauscht hat, genau sein Wille war.
Ich beende die Zerlegung meines Mosaiks. Es war nur ein winziger Part all der Teilchen, die das Bild ergeben. Nun liegen sie wieder einzeln und lose. Als einer der vielen Autoren unseres Buches konnte ich mir gestatten, die Anzahl der Steinchen zum Bilde ,Niedergang der DDR' auf diese knappe Auswahl zu begrenzen. Die Beiträge meiner Mitautoren sind mir noch unbekannt. Ich bin überzeugt, wenn wir uns gemeinsam im Buche wiederfinden, so ist das Bild komplett.
Es ist zumeist von scheinbar profanen Dingen die Rede. Von Banalitäten, Lächerlichkeiten. Die Realität hat gezeigt, wie gerade diese, in ihrer Gesamtheit dann, profunde Wirkung erzielen. Sie hat gezeigt, wie doch wohl gut Gemeintes zerbricht an Banalität. An Unfähigkeit. Wissenschaftliche Analysen, wie sie in guter Qualität existieren, beleuchten das Thema komplex. Auch die hier aufgeführten winzigen Mosaiksplitter finden sich dort wieder in den großen Zusammenhängen, in den Hintergründen des Zusammenbruchs einer versuchten Gesellschaftsordnung.
Christel Weiß
1 1 Spätere Leser dieser Zeilen mochte ich höflich bitten, davon Abstand zu nehmen, mir Gegenbeispiele zu bringen. Handlungsweisen, die das genaue Gegenteil waren. Es ist mir wohlbekannt, daß vieles auch ganz anders lief. Doch vieles, eben, lief dann so wie hier beschrieben. Es sind authentische Bei spiele. Und es waren wohl zu viele dieser Art.
2 Vielleicht schreiben wir ja einen Band V der Spurensicherung und schauen uns das Leben an, wie es nach dem Verlöschen der DDR über uns herfiel. Gern will ich dann berichten, wie ich alsbald über neue Schilder an alten und neuen Zäunen staunte, nachdem man sich eben noch vehement erboste über DDR-Dreistigkeit, und wie gar Schußwaffengebrauch angedroht wird, im friedlichen Wald, wo der nun freie Bundesbürger es wagen sollte, nicht zu gehorchen.
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