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Wendungen
Ein Urteil
Und wieder war ein Jugendtreffen Pfingsten 1989 in Berlin. Vielen schien es, daß das letzte erst wenige Jahre vorher gewesen war. Der Zentralrat der FDJ hatte sinnvolle Veranstaltungen für jeden Geschmack organisiert. Aus Berichten der Zurückgekehrten erfuhr ich zu meinem Erstaunen, daß es Jugendlichen nicht besonders gefallen hatte. Sie waren gelangweilt; ihr Überdruß wurde auch dadurch deutlich, daß ihre Verpflegung teilweise in Papierkörben landete, die überquollen.
„Muß das sein?" fragte sich mancher. Einer gab diese Antwort: „Erich Honecker braucht wieder Lust zum Regieren!"
Ein einsichtiger Bäcker
Es geschah schon Seltsames in der DDR. Wir waren häufig Kunde bei Meister Sukima. Der Kuchen schmeckte gut, die Brötchen waren frisch, der Laden lag in der Thälmannstraße, günstig für ihn und viele Geschäfte. Überraschend machte ein Gerücht die Runde, unser Bäcker wäre kontrolliert und bestraft worden.
Jeder wußte, daß er auch für Schweine, Hühner und Kaninchen Brot produzierte und verkaufte.
Er nahm das Mehl, das auf den Fußboden gefallen war, anderes war ihm zu schade. Die Kommission stellte einen Verstoß gegen die Hygiene fest. Solch Mehl durfte nicht verbacken werden. Von nun an wurde für die Tiere das nicht verkaufte Brot benutzt. An jedem Wochenende standen Pkw mit Hänger vor dem Laden, sie wurden mit Broten für das Vieh beladen.
Die Straße heißt jetzt Große Straße. Ein Großteil der Geschäfte steht leer; es werden wohl noch mehr.
In der Schule
Im Herbst 1990 veränderte sich nicht nur die große Welt, sondern auch unsere bei Lehrern und Schülern. Eines Tages ging die Verantwortliche der Gewerkschaft von Raum zu Raum und bat ihre Kollegen: „Kommt doch nach unten auf den Hof, wir sollen den FDGB auflösen." Nur einer antwortete: „Ich will nicht, daß die Gewerkschaft verschwindet!" Der kam nicht. Alle hoben ihre Hand wie gewünscht, die genannte Organisation gab es bei uns nicht mehr. Es muß sich ja wohl in vielen, vielen Betrieben ähnlich abgespielt haben.
Ich unterrichtete vor allem Schüler zwischen 14 und 16 Jahren. Es war am 6. November 1989, wir besprachen das Schauspiel „Die Gewehre der Frau Carrar" von Bertolt Brecht. Wir diskutieren die Rolle der Internationalen Brigaden: Es ging um Hilfsbereitschaft. Ich war völlig unvorbereitet als ein Schüler einwarf, daß „Ausländer raus" müssen, denn „sie nehmen uns die Arbeitsplätze weg!" Mir fiel vor Schreck nichts ein, andere Schüler kamen zu Wort und vertraten seine Meinung. Ich nahm die Kreide und schrieb „Wir handeln menschlich." Niemand unterstützte mich, vielleicht hatten sie doch meine Ansicht? Ich weiß es nicht, zu wenige waren bereit darüber nachzudenken.
Abschied
Unsere Kollegin Anne hatte schon einmal Abschied genommen, 1945 aus Lodz. Sie beherrschte einige Sprachen und dolmetschte in polnischer, russischer, französischer und deutscher Sprache. Nach kurzer Ausbildung arbeitete sie viele Jahre als Russischlehrerin. Im Sommer 1990 besuchte ich sie ein letztes Mal in ihrer Wohnung. Sie lag das war außergewöhnlich auf der Couch, hob ihren Kopf und sagte: „Ach Frau Pansegrau, unsere schöne DDR." Sie ging noch im gleichen Jahr ins Altersheim, sie fürchtete um ihre Sicherheit, Versorgung und Pflege. Wenn ich sie im Heim besuchte, war sie krank und im Bett. Sie starb 1993; 1900 war ihr Geburtsjahr.
Luise Pansegrau
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