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Auf dem Weg zur „Wendekrise"

Heute bin ich mir sicher, daß der Niedergang der DDR aus objektiven wie subjektiven historischen Ursachen von Beginn an vorprogrammiert war, was marxistische Wissenschaftler in den letzten Jahren mit überzeugenden Argumenten nachzuweisen suchten. Auch wenn die SED-Parteiführung ausgangs der vierziger Jahre sich weniger auf das weitestgehend von Stalin geprägte sowjetische Vorbild orientiert hätte und - soweit das überhaupt realpolitisch möglich war - mehr auf Werte, die wir heute unter dem Begriff „demokratischer Sozialismus" zusammenfassen (wofür es viele Ansätze gab), wäre der Niedergang - gewiß auf andere Weise - wohl unvermeidlich gewesen. Aber das begriff ich erst sehr allmählich und sozusagen in Etappen; bis in die siebziger Jahre hinein war ich trotz meiner 1950 einsetzenden z. T. bitteren Kollisionen mit Erscheinungen des „Stalinismus" in der Politik der Parteiführung - vornehmlich der Kultur-, Kunst- und Informationspolitik1 - fest davon überzeugt, zu den „Siegern der Geschichte" zu gehören, und dazu trug bei, daß ich sehr viele Genossen aus allen Ebenen kennen und schätzen gelernt hatte, mit deren sozialistischen Idealen, erwachsen aus konsequentem Antifaschismus und unbedingtem Friedenswillen, auch mit deren sozialistischen Demokratievorstellungen, ich voll übereinstimmte. Die marxistischen Theorien - auch viele der Lehren Lenins - gaben ihrer und meiner Denkweise reiche Nahrung, und so glaubte ich noch lange, daß unserer Bewegung trotz aller „Entwicklungsschwierigkeiten" und den aus dem harten Kampf mit dem ökonomisch schier übermächtigen Kapitalismus jenseits von Elbe und Werra erwachsenden Zwängen und Krämpfen die Zukunft gehören würde.

Indessen mehrten sich auf ökonomischem und politisch-moralischem Gebiet die Vorzeichen des Niedergangs und erreichten für mich etwa Mitte der siebziger Jahre den Punkt, da ich zu meiner Frau sagte: „Das, was sich jetzt in Partei und Staat tut, hat nichts mehr mit den Sozialismusvorstellungen zu tun, für die wir in der Nachkriegszeit angetreten sind." Ich kam überhaupt nicht auf die Idee - und bis 1989 nicht - aus der Partei auszutreten, denn außerhalb von ihr gab es keine Kraft, die die sozialistische Entwicklung in der DDR hätte sichern und voranbringen können. Das konnte nur, so meinte ich, durch gewichtige Veränderungen in der Politik der Parteiführung geschehen, also mittels harter innerparteilicher Auseinandersetzungen. Die gab es in der Folgezeit durchaus und zwar weit umfassender und tiefer, als für eine breite Öffentlichkeit erkennbar wurde, denn die DDR-Medien fuhren, vom Politbüromitglied Joachim Hermann gesteuert, weitestgehend „auf der Linie", deckten zu, färbten schön und operierten mit „positiven Beispielen" - besonders auf Gebieten, wo es vernehmlich knirschte. Auch wahrten die Genossen angesichts des Kalten Krieges weitgehend Parteidisziplin und traten meist nur parteiintern gegen Haltungen und Entscheidungen führender Funktionäre auf - besonders in Versammlungen an der Basis und bei Anleitungen der Basisfunktionäre (was im Unterschied zu zurückliegender Zeit in wachsendem Maße möglich wurde!).

Was brachte mich Mitte der Siebziger zu einer so resignativen Feststellung? Die DDR begann, eindeutig über ihre Verhältnisse zu leben und zu planen, was auf die Dauer nicht gut gehen konnte.

Wir hatten im VEB Deutsche Schallplatten, Berlin, in dem ich die LITERA-Produktion (künstlerisches Wort) leitete, ein sehr instruktives Parteilehrjahr, was für die siebziger und achtziger Jahre eine Ausnahmeerscheinung darstellte. Zirkelleiter war ein Dozent aus der Hochschule für Planökonomie, der sich nur formal und äußerlich an die vom ZK ausgehenden streng auf der jeweiligen Eigenloblinie liegenden Seminarpläne für jede Zirkelstunde hielt. Wir erfuhren: Von den letzten Fünfjahrplänen war nur einer wirklich erfüllt worden. Die anderen wurden für die Propaganda dadurch erfüllt, daß man vor der Endabrechnung erhebliche Planreduzierungen vornahm. Die staatlichen Subventionen für Mieten, Heizmaterial, Lebensmittel, Fahrkosten und viele Waren des täglichen Bedarfs hatten sich im Laufe der Jahre sukzessive verzehnfacht (!) und fraßen den Hauptteil des Nationaleinkommens. Die Akkumulationsrate war viel zu niedrig und gestattete nur ganz unzureichende Investitionen in Industrie und Wirtschaft; auch deshalb blieb die Arbeitsproduktivität immer weiter hinter der in Westdeutschland zurück. Die Einnahmen aus Exporten nach dem Westen (auch von Waren, die wir im Lande schmerzlich vermißten) lagen insgesamt deutlich unter den Gestehungskosten. Dennoch wurde auf Teufel-komm-heraus weiter exportiert, weil die Wirtschaft dringend Devisen brauchte! Um überhaupt weiter zu kommen, mußte die DDR im Westen erhebliche Kredite aufnehmen, und der politische Erzteufel, Bayerns Ministerpräsident Franz-Josef Strauß, der diese Kredite locker machte, galt in unseren Medien fast als Freund Honeckers und des Sozialismus. (Zu Ulbrichts Zeiten war die DDR so gut wie schuldenfrei.) Die „gegenseitige Wirtschaftshilfe" zwischen den sozialistischen Ländern erstickte in Interessenwidersprüchen. Ein Ende der ökonomischen Talfahrt war nicht abzusehen.

Die hier beschriebene marode Jugendstilvilla an der Staatsgrenze zu Westberlin. Lutz und Jürgen Schmidt beim Anbringen einer Fernsehantenne. Der Posten auf dem Wachtturm schaut interessiert zu.

Der langjährige Leiter der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, errechnete nach der Wende, daß man, um die DDR wirtschaftlich zu sanieren, den Lebensstandard um ca. 30 Prozent hätte absenken müssen (was die politische Katastrophe sofort in Gang gesetzt hätte).

Die materiellen und politisch-moralischen Folgen dieser ökonomischen Talfahrt unter dem wohlklingenden Motto „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" sind in trauriger Erinnerung. Sie trafen mich im Privatleben, im Betrieb und in meiner gesellschaftlichen Funktion im Verband der Theaterschaffenden.

Auf dem VIII. Parteitag 1971 wurde das umfangreiche Wohnungsbauprogramm beschlossen. Ungezählt viele Bürger erhielten in der Folgezeit neue Wohnungen bzw. überhaupt erstmalig eine eigene Wohnung - auch unsere Söhne und viele meiner Kollegen. Diese große soziale Leistung des Staates kostete riesige Investitionen, eine gewaltige Baukapazität und trieb wegen der niedrigen Mieten die Subventionen in die Höhe. Natürlich fehlten die Mittel und Kapazitäten an anderen Stellen. Republikweit verfiel die Altbausubstanz weiter.

1971 kam ich an die Schallplatte; alle Versuche, in Berlin eine Wohnung zu bekommen, scheiterten trotz der betrieblichen Unterstützung, denn die Schlangen vor den Wohnungsämtern waren endlos. Erst 1973 erhielten wir durch zufällige glückliche Umstände eine Wohnung im Randgebiet - in Glienicke/Nordbahn, unmittelbar an der Staatsgrenze zu Westberlin. Eine etwa 1900 gebaute Jugendstilvilla, bislang als Schulhort genutzt, zuvor als Jugendclub und nach dem Krieg als sowjetische Ortskommandantur, wurde von der sie verwaltenden Gemeinde mit einem Miniaufwand an Geld und Baukapazität zur Aufnahme zweier Wohnungen eingerichtet. Nach Abschluß dieser Arbeiten blieb noch unendlich viel zu tun - was man den Mietern überließ. Wir (Frau, älterer Sohn und ich) arbeiteten daran in unserer Freizeit viele Jahre. Unter anderem erneuerten wir die gesamte stellenweise lebensgefährliche Elektroanlage hinter dem Zähler (der Sohn hatte gerade seine Facharbeiterprüfung als E.-Monteur bestanden), setzten ein übergroßes, sich aus der Wand bedrohlich ins Zimmer neigendes Fenster neu ein, rissen die Reste des teilweise zerfetzten alten Fußbodenbelags heraus und verlegten neuen, reparierten bzw. ersetzten drei große Türen (improvisierter Eigenbau aus altem Material), brachten die Fäulnis in mehreren tragenden Balken zum Stehen und stützten sie nach Kräften ab, befreiten den total verstopften unterirdisch verlegten Abfluß aus der Küche in eine etwa 15 Meter entfernte Fäkaliengrube von Jahre altem Kot, Dreck und hineingewachsenem Wurzelwerk, verschmierten ca. 50 kg Gips in die zahllosen Löcher der Zimmerwände, leisteten endlose Malerarbeiten usw. usf. Wir wohnten dort 17 Jahre; es fielen immer wieder neue Arbeiten an. Als das Haus schließlich baupolizeilich gesperrt wurde, erhielten wir ein halbes Jahr später eine Wohnung in einem ähnlich maroden Gebäude zugewiesen. Die Gemeinde konnte nur Notreparaturen an Heizung und Gas finanzieren, ansonsten bekamen wir keinen Handwerker zu sehen. Sie waren zumeist durch das Berliner Wohnungsbauprogramm okkupiert. Die Wohnungsverwaltung ersetzte nur einen Teil unserer Materialkosten; die Arbeiten erledigten wir umsonst. Die Ursache: der Gemeindehaushalt erhielt jährlich weit weniger Mittel für Werterhaltung zugewiesen, als die Abschreibungssumme aller verwalteten Gebäude (meist in Westbesitz) betrug. Entsprechend sah der Ort aus.

Da mein täglicher Weg von Glienicke zum Arbeitsort im Berliner Stadtzentrum und zurück je nach Tageszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln 2½ bis 3¾ Stunden dauerte, die sich zu einer 10- bis 14stündigen unregelmäßigen Arbeitszeit addierten, dachte ich an den Kauf eines Autos. Bisher war der Bedarf nicht entstanden; in meiner vormaligen Arbeitsstelle hatte ich einen Dienstwagen, dessen seltene Privatfahrten ich selbst bezahlte. Aber bei der Schallplatte stand mir kein Dienstwagen zu; etliche, die einen hatten, mußten ihn wegen „strenger Sparsamkeit" gerade abgeben. Ich sah mich also lange um und kaufte dann notgedrungen einen gebrauchten, recht heruntergefahrenen Trabant für den Preis, den er fabrikneu gekostet hatte. In den nächsten zwei Jahren ließ ich das Fahrzeug weitgehend erneuern, was noch einmal so viel kostete. Nun dauerte die Hin- und Rückfahrt täglich nur noch 1¼ Stunden. Zugleich reihte ich mich in die Schlange der Neuwagenbesteller ein, die damals beim Trabant etwa 8 Jahre lang war und bald auf über 10 Jahre anwuchs. Das Bestellsystem fragte die Besteller weder nach ihrer Zahlungsfähigkeit noch nach einer Fahrerlaubnis. Viele Bürger nutzten das aus, und wo für die Familie nur ein Wagen benötigt wurde, bestellte man nacheinander drei oder vier - der Mann, die Frau und die Großeltern je einen. So erhielt die Familie alle zwei bis drei Jahre einen Neuwagen, den sie mit dem Verkauf des Gebrauchten finanzierte und dabei meist noch Gewinn machte. Dem Politbüro lag ein Beschlußentwurf vor, der die Annahme der Bestellung vom Vorhandensein einer Fahrerlaubnis und von einer Anzahlung abhängig machte. Eine solche Regelung hätte, so wurde kalkuliert, die Wartezeit auf zwei Jahre verkürzt. Aber der Beschluß wurde, wohl aus Furcht vor der öffentlichen Reaktion, nie gefaßt. Als ich mich im Gespräch mit Genossen unserer Parteiorganisation für einen solchen Beschluß aussprach, sagte man mir lächelnd: „Aber das kannst du doch nicht machen!" Ein Genosse Offizier der Staatssicherheit, der in unserem direkt an der Mauer gelegenen Betrieb als Sicherheitsbeauftragter tätig war, lobte das bestehende System, da es ihm kraft großer Familie die Möglichkeit gab, immer wieder mit Neuwagen vorzufahren. Seit dieser Diskussion sprach ich von der allmählichen Verbürgerlichung der Partei.

Zur Wendezeit fuhr ich meinen dritten gebraucht gekauften Trabant - und „verkaufte" ihn, als es bessere Wagen gab, für symbolische 5 Mark an eine unbemittelte Kindergärtnerin mit Kleinkind, die einen weiten Weg zur Arbeit hatte.

Auf dem VIII. Parteitag wurde auch beschlossen, großzügig in den VEB Deutsche Schallplatten zu investieren, der schon lange die wachsende Nachfrage der Bevölkerung nach Tonträgern quantitativ nicht mehr befriedigen konnte. Wir erhielten ein neues, modernes Preßwerk für Vinylplatten, die Lager- und Umschlagkapazität wurde erheblich erweitert, nach und nach entstand ein eigenes Werk für die Musikkassettenproduktion und auch die Aufnahmetechnik wurde auf den zu jener Zeit erreichten höchsten Stand gebracht. Das alles kostete u. a. reichlich Devisen, weil es nirgends in der DDR oder im Ostblock Werke gab, die Aufnahme- und Produktionstechnik für Schallplatten in zureichender Qualität herstellten. Selbst das unerläßliche Tonbandmaterial, die Mikrophone, Lautsprecher und vieles andere mehr mußte aus dem Westen importiert werden, anders wären wir mit unseren Klassikaufnahmen, die in der westlichen und auch östlichen Welt weithin gefragt waren, nicht exportfähig gewesen.

Die große Investition erhielten wir weniger aus kulturpolitischen Erwägungen, die es natürlich gab, sondern vornehmlich aus nur intern angesprochenem ökonomischen Kalkül. In der DDR war die Kaufkraft der Bevölkerung ständig gewachsen und wuchs weiter, es kam zu einem bedrohlichen Geldüberhang (Honecker sprach erfreut vom großen Vertrauen der Bevölkerung in die Banken), dem ein viel zu geringes Warenangebot gegenüberstand. Ein mehr als verdoppeltes Tonträgerangebot vermochte da eine spürbare Rolle zu spielen und tat es nach einigen Jahren auch. Wir produzierten nun quantitativ nachfragegerecht, erfüllten Jahr für Jahr bis zur Währungsunion den Plan - einschließlich der Abführung eines jährlichen Reingewinns an den Staatshaushalt von etwa 90 Millionen Mark. (Als der Betrieb nach der Währungsunion faktisch zusammenbrach und kaum noch etwas verkaufen konnte, wurde ihm der nun fehlend geplante Gewinn als zu zahlende Schuld aufgehalst!)

Trotz des hohen Gewinns schrumpfte die vom Staat festgelegte jährliche Investitionssumme in der Folgezeit schnell auf ein Minimum, so daß sich der Betrieb ab Mitte der Siebziger technisch kaum noch weiterentwickeln konnte. Die Maschinen und Anlagen mußten notgedrungen auf Verschleiß gefahren oder von unserem erfindungsreichen Bereich Technik immer wieder aufwendig regeneriert werden. Manches „Fahrrad" wurde auch nach westlichen Modellen neu erfunden. Neues gab es nur noch klecker- und krümelweise. Hatten wir um 1975 technisch noch mit in der Weltspitze gelegen, rutschten wir nun in die Zweit- und Drittklassigkeit ab, denn die internationale Entwicklung schritt rasant vorwärts. Sie löste die Vinylplatte - die schwarze Scheibe aus Preßmasse - durch die weit leistungsfähigere CD ab. Für uns blieb die neue Scheibe trotz des permanenten, auch von vielen international hoch angesehenen DDR-Spitzenkünstlern ausgeübten Drucks auf die Partei- und Staatsführung ein Traum. Wir vermochten unsere eigenen in Tonbandform exportierten Aufnahmen nur auf West-CDs zu hören, die uns als Belegexemplare erreichten. Als in den stürmischen Wendetagen bekannt wurde, daß ein windiger Geschäftsmann namens Pilz - ein Wessi

-in Thüringen ein CD-Werk errichten wollte, kam es bei uns fast zu einem Belegschaftsaufstand gegen die Betriebsleitung, die es nach Meinung der Kollegen nicht vermocht hatte, eine betriebseigene CD-Produktion aufzubauen.

Die überall spürbaren ökonomischen Probleme hatten natürlich auch politischmoralische und ideologische Auswirkungen. Da waren die Maßnahmen zu zusätzlicher Devisengewinnung. Intershop und Genex teilten die Bevölkerung in zwei Gruppen. Wer, aus welchen Quellen auch immer, auf privatem Wege zu Westgeld kam, konnte dort beliebige West- und auch seltene Ostwaren kaufen. (Die Tonträger, die es im Intershop mit Westaufnahmen gab, wurden übrigens planmäßig in unserem Betrieb produziert!) Wer keines besaß, war nur auf die Produkte der DDR-Mangelwirtschaft angewiesen.

Den vorrangigen Verkauf von Autos an Westgeldbesitzer bei Genex nahm man noch murrend hin; als aber ruchbar wurde, daß möglicherweise auch neue gute Wohnungen gegen DM verkauft werden sollten, ging ein Proteststurm durch die Berliner Parteiorganisation. Die Parteiführung mußte - natürlich parteiintern - erklären, sie habe einen solchen Verkauf nie erwogen. Für uns, das Parteivolk, war es kaum möglich, den Wahrheitsgehalt dieser Beteuerung zu prüfen. Der Stachel blieb.

Arbeiter, Ingenieure und Wissenschaftler aus Betrieben mit Westexporten forderten eine Teilentlohnung in Valuta, die sie ja mitverdient hatten. Handwerker verlangten von anspruchsvollen Kunden Teilzahlungen in West - und sie konnten sich ihre Kunden aussuchen!

In unseren Betrieb kamen bei Gemeinschaftsproduktionen mit Westfirmen auf dem Gebiet der klassischen Musik viele sehr wohlhabende Westkünstler. Geschenke für unsere Kollegen blieben nicht aus. Manche Mitarbeiter verstanden es, sich über solche freundschaftlich-kollegialen Beziehungen per Bestellung begehrte Westwaren zu beschaffen, besonders Medikamente, die es bei uns nicht gab. Wer dabei erwischt wurde, riskierte seine Entlassung oder Versetzung auf eine minder bezahlte Stelle, die keine Westkontakte hatte. Die entsprechenden politisch-moralischen Wirkungen auf das Betriebsklima muß ich nicht schildern.

Der Riß zwischen vom Zufall begünstigten Bürgern und solchen, die nicht am „Segen" partizipierten, ging auch mitten durch die Partei und bewirkte dort paranoide Zustände - verbunden mit der Resignation ehrlicher Sozialisten. Es gab im Schallplattenbetrieb Parteiaustritte Enttäuschter.

Meine Frau und ich haben übrigens in der ganzen DDR-Zeit - von dreißig D-Pfennigen abgesehen, die von einer meiner Dienstreisen übriggeblieben waren - keine einzige Westmark besessen. Unser jüngerer Sohn, Reichsbahner, beschaffte, ohne daß wir davon wußten, einem Reichsbahnkollegen aus Westberlin eine DDR-Modellbahnlok, die es drüben nicht gab. Der Kollege bezahlte den DDR-Preis im Verhältnis 1:1 in West. Unser Sohn ging aus freien Stücken mit dem Geld zur Staatsbank und tauschte es 1:1 in Ostgeld um. (Er hätte es verfünffachen können!)

Der Vertrauensschwund in die Politik von Partei und Regierung griff immer weiter um sich, entsprechend wuchsen die Aktivitäten auf dem Gebiet der inneren Sicherheit. Sie betrafen keineswegs nur die Arbeit der Staatssicherheit, über die ich nicht auskunftsfähig bin, weil ich zu ihr so gut wie keine Kontakte hatte. 1986 muß es einen geheimgehaltenen Parteibeschluß zur Vorbereitung des 11. Parteitages gegeben haben, mit dem wir auf folgende Weise kollidierten:

Das Dresdener Kabarett „Herkuleskeule" hatte ein Programm herausgebracht, das, getragen von sozialistischen Überzeugungen seiner Autoren und Interpreten, zielsichere Kritik (stellenweise in geschickt gehandhabter „Sklavensprache") an mit Sorge betrachteten politischen und ökonomischen Fehlentwicklungen in der DDR übte. Das künstlerische Niveau der Texte und ihrer Umsetzung in Bühnengeschehen war ansprechend, die Resonanz beim Publikum sehr gut. Ich entschloß mich - mit Zustimmung des Direktors, die für jede Produktion vorliegen mußte - das Programm, auf Plattenabspielzeit gekürzt, live mitzuschneiden und unserer Kabarettreihe eine weitere Platte hinzuzufügen. Leider stand zu dem einzigen der „Keule" möglichen Aufnahmetermin (eine Probe, zwei komplette Mitschnitte) unsere betriebseigene Aufnahmetechnik (Reiseapparatur) nicht zur Verfügung. Da wir wußten, daß das Studio Dresden von Radio DDR gleichfalls einen Mitschnitt plante, setzten wir uns mit den Funkkollegen in Verbindung und schlugen ihnen vor, das für unsere Zwecke leicht umgebaute Programm schallplattengerecht aufzunehmen - d. h. mit erheblich höherem technischen Qualitätsanspruch, als bei den Informationsmitschnitten eines Lokalsenders üblich. Studio Dresden ging gern darauf ein, holte sich aus Leipzig technische und personelle Unterstützung und bereitete die Aufnahme gründlich vor. Wir vereinbarten, daß wir die Mitschnitte beider Abende vom Funk übernehmen würden - solche Bandübernahmen waren ein Routinevorgang und kamen oft vor.

An der Probe und den Aufnahmeterminen in Dresden nahm ich teil und beriet die Kabarettisten wie das Aufnahmeteam. Der erste Mitschnitt war etwa brauchbar, der zweite nach zahlreichen Hinweisen in vielen Details deutlich besser und für die Platte (mit wenigen Korrekturstellen aus dem ersten) gut geeignet. Ich fuhr sehr zufrieden wieder nach Hause.

Wir beantragten nun bei der Honorar- und Lizenzabteilung des Funks die Übernahme der Bänder - und erfuhren nach langer Wartezeit, daß unserem Anliegen nicht entsprochen werden könne, da die Bänder nach Verwendung für eine Informationssendung des Studios Dresden gelöscht worden seien. Das kam uns spanisch vor, wir informierten den Direktor der „Herkuleskeule" Manfred Schubert und der erkundigte sich beim zuständigen Redakteur des Dresdener Funkstudios. Dessen Antwort: Die Bänder seien nicht gelöscht, er würde sie in seinem Büro sorgfältig aufbewahren.

Was tun?

Über den Buschfunk erfuhren wir vom Parteibeschluß, wonach alle Medien gehalten waren, in der Vorbereitungszeit des Parteitages jegliche DDR-kritischen Beiträge zu unterdrücken. Das galt besonders für Funk und Fernsehen, aber auch für die Presse und andere Publikationsformen. Parteitage waren längst Schaufensterveranstaltungen geworden; jedes dort gesprochene Wort - auch in der Diskussion - unterlag sorgfältigster Zensur von oben und ganz oben, und auch das ganze Umfeld des Parteitages hatte dem politischen Schaufenstercharakter Rechnung zu tragen. Es mußte ideologisch alles im Sinne der „Linie" in bester Ordnung sein. Die „Keule" selbst war nicht betroffen, ihr Programm lief gerade aus. Aber die hinter den Kulissen direkt parteigesteuerten Medien Funk und Fernsehen hielten sich streng an den Beschluß, und wer das nicht tat, riskierte Kopf und Kragen.

Wir versuchten dennoch, an unsere Bänder zu kommen. Unser Künstlerischer Direktor Hansjürgen Schaefer kannte einen Genossen aus der obersten Leitungsebene des Funks. An den richteten wir einen von mir verfaßten und von Schaefer unterschriebenen Brief. Ich führte aus, daß das Funkstudio Dresden in unserem Auftrag und nach unserer künstlerisch-technischen Konzeption das Programm plattengerecht aufgenommen hatte, daß es eine feste Abrede die Übernahme der Bänder betreffend gab, daß die Bänder nicht, wie ,irrtümlich' von der Honorar- und Lizenzabteilung mitgeteilt, gelöscht, sondern nach wie vor vorhanden seien, und daß wir ihn darum bäten, zu prüfen, ob die Bandübernahme nicht doch stattfinden könnte. Ganz am Rande erwähnte ich in einem Nebensatz, daß der lange vorgeplante Veröffentlichungstermin für die Platte erst nach dem Parteitag läge (was der Terminnot beim Hersteller der begleitenden Druckerzeugnisse (Plattentasche etc.) geschuldet war).

Wieder dauerte es sehr lange, bis eine Antwort kam. Zunächst bürstete uns der Genosse aus der obersten Leitungsebene gehörig ab, weil wir uns wegen des Vorhabens nicht gleich an ihn gewendet hatten. Dann entschied er: wir könnten den vom Sender Dresden ausgestrahlten Teil des Programmes haben; alles andere sei nicht mehr vorhanden. Bei der Veröffentlichung dürften wir aber mit keinem Wort erwähnen, daß es sich um eine Funkaufnahme handele (was gegen das geltende Leistungsschutzrecht verstieß)!

Bald darauf erhielten wir den gekürzten ersten Mitschnitt. Die politisch besonders angriffigen Szenen fehlten - und dann wußten wir ja, daß der zweite Mitschnitt nicht nur vollständig, sondern auch deutlich besser war. Wie an ihn herankommen?

Wir forschten über Manfred Schubert nach und erfuhren, er läge unberührt und in keinem offiziellen Bandverzeichnis des Funks erwähnt, im Privatschrank des gewitzten Studioredakteurs. Es traf sich, daß Manfred gerade Geburtstag hatte. Zu diesem Anlaß schenkte ihm der Funkredakteur „in Würdigung jahrelanger guter Zusammenarbeit mit dem Studio Dresden" den kompletten Satz Bänder, womit natürlich alle Rechte daran an den Beschenkten übergingen. Wir wollten ihm die Bänder abkaufen, aber er nahm kein Geld an. Wir nutzten sie für die Platte, die planmäßig veröffentlicht wurde, sich gut verkaufte und keinerlei politischen Wirbel - auch nicht seitens der Kulturabteilung des ZK - auslöste.

1985 wurde ich in die ehrenamtliche Funktion des Vorsitzenden der Zentralen Revisionskommission des Verbandes der Theaterschaffenden gewählt. Gegenstand ihrer Arbeit waren nahezu alle Verbandsaktivitäten und deren Niederschlag in den geplanten und tatsachlichen Ausgaben. Somit beschäftigten wir uns vornehmlich mit kulturpolitisch-inhaltlichen Fragen. Als Vorsitzender hatte ich das Recht, an der Arbeit des Verbandspräsidiums teilzunehmen. Die Kommission arbeitete in der Wendezeit vollzählig weiter bis zur von der neuen Obrigkeit erzwungenen Auflösung des Verbandes, dem man seine in der Sache unbestreitbare „Gemeinnützigkeit" aberkannte.

Der Verband der Theaterschaffenden war als eine Art „Transmissionsriemen" (Lenin) zwischen Parteiführung und Theaterleuten konzipiert; er diente als Klagemauer für die wachsenden Sorgen und Probleme der Künstler, besaß aber in allen für die Theaterentwicklung entscheidenden Fragen nur ein Appellationsrecht, d.h. er vermochte aus eigener Kraft so gut wie nichts zu verändern. Seine Eigenleistungen lagen hauptsachlich auf dem Gebiet der fachspezifischen Bildungsarbeit, der Forderung der Theaterwissenschaft und der Pflege internationaler Kontakte nach Ost und West.

In den letzten 10 Jahren vor der Wende wurden die mündlichen und schriftlichen Appelle an der Klagemauer immer zahlreicher und gewichtiger. Sie kamen vornehmlich von den Verbandskongressen und den zahlreichen Vorstandssitzungen, sowie aus dem Präsidium. Alle Debatten, Kritiken, Vorschlage, Eingaben und streitbaren Schriften (z. T. in Beschlußform) verhallten jedoch wirkungslos oder verliefen sich im politbürokratischen Wald des Kulturministeriums und des Zentralkomitees. In einem von unserer Revisionskommission einstimmig beschlossenen Bericht an den Vorsitzenden der Zentralen Revisionskommission der SED, Genossen Kurt Seibt, schrieb ich:

„Bezogen auf den Verband und seine Leitungsgremien können wir ... nur feststellen, daß sich neben schöpferischer Ungeduld zunehmend resignative Haltungen ausbreiten, daß der Begriff ,Stagnation' gebraucht wird, daß der Verband in den Augen gerade seiner engagierten Mitglieder fortgesetzt an Ansehen einbüßt, weil erkennbare Wirkungen seiner Bemühungen um einige grundlegende Veränderungen weitgehend ausblieben ..."

Genosse Seibt forderte aufgrund der in unserem Bericht skizzierten Sachverhalte eine Stellungnahme der Kulturabteilung des ZK. Die kam auch, aber befriedigte ihn nicht, da sie von vorn bis hinten aus Gummiformulierungen bestand (wir erhielten eine Kopie). Da beschlossen wir, ihm die Kopie eines Briefes des Verbandspräsidiums an den Minister für Kultur zu schicken (mit Zustimmung der Verfasser), der Auskunft über viele große Probleme der Theater gab und eine Reihe von gewichtigen Vorschlagen enthielt, die weit über die bestehende Theaterstruktur hinauswiesen. Ich gebe diesen Brief auszugsweise wieder - mit einigen Kommentaren für den weniger fachkundigen Leser:

„Das Präsidium ... gibt aber nachdrücklich zu bedenken, daß für eine Reihe von Entwicklungsproblemen nicht mehr Papier, sondern umgehend praktische Schritte unerläßlich sind. Das betrifft vor allem staatliche Entscheidungen zur weiteren Perspektive kleiner Musiktheater und Ballettensembles, sowie von Orchestern, von denen die Mehrheit wegen unbesetzter Stellen keine qualitätvolle, den Anforderungen unserer Gesellschaft entsprechende künstlerische Arbeit mehr leisten können und für die in den nächsten Jahrzehnten kein zureichender Künstlernachwuchs zur Verfügung stehen wird."

Die kleineren Musiktheater hatten viele unbesetzbare Stellen und ihre Kollektivkörper (Orchester, Ballett) waren zumeist überaltert. Um noch einigermaßen spielfähig zu bleiben, engagierten sie Sänger, Musiker und Tänzer aus Osteuropa, die gern in der DDR arbeiteten, aber auch ihre Zahl reichte nicht aus. Ein kleineres Musiktheater braucht etwa 40-50 Orchestermusiker. Hier einige Zahlen von 1988: Annaberg 27, davon 9 Ausländer; Bernburg 23, davon 16 A.; Döbeln 32, davon 16 A.; Halberstadt 50, davon 23 Ausländer.

Der Mangel an jungen Schauspielern war besonders an den kleineren, großstadtfernen Theatern noch gravierender, und Ausländer - abgesehen von einigen Österreichern - konnten ihm wegen der Sprachprobleme nicht abhelfen. Statt dessen gab man interessierten Laiendarstellern feste Anfängerverträge, ließ sie, der Not gehorchend, tragende Rollen spielen, war aber nicht in der Lage, ihnen eine zureichende Ausbildung zu geben und damit Voraussetzungen für einen Berufsnachweis. Leider kann ich über die Zahl der Laiendarsteller keine Angaben machen, da die Laien aus verständlichen Gründen von den Theatern öffentlich nicht als solche ausgewiesen wurden. In meiner Zeit am Theater Anklam beschäftigten wir schon 1970 im Schnitt etwa drei Laien und dazu zwei bis drei Österreicher bei 21 besetzten Stellen. Für ein spielfähiges kleines bis mittleres Theater galten 20-24 Schauspieler als normal. 1988 hatten Annaberg 6, Döbeln 11, Eisleben 16, Nordhausen 15, Rudolstadt 13, Stendal 17 usw. Dabei waren die Schauspielensembles der meisten kleinen Theater überaltert, so daß oft 30-40jahrige Kollegen die Rollen von Jugendlichen spielen mußten - und gerade die waren in zeitgemäßen Stücken besonders zahlreich.

Weiter im Brief des Präsidiums:

„... Erstens hat die Einordnung der Theater in das System der Leitung von Volkseigenen Betrieben zunehmend zu großen Schwierigkeiten und Hemmnissen in der schöpferischen Arbeit der Theater geführt. ... Das betrifft die Frage nach der Leistungsfähigkeit der Ensembles, vor allem des Schauspiels ..."

Gemeint ist hier die 1971 eingeführte neue Arbeitsgesetzgebung. Zuvor erhielten die Schauspieler individuell mit dem Intendanten ausgehandelte Verträge von einem Jahr Laufzeit an aufwärts. Näherte sich die Laufzeit dem Ende, mußte neu verhandelt werden. Wollte der Schauspieler an ein anderes Theater wechseln, stand ihm das zum Ende der Spielzeit frei, wollte der Intendant den Vertrag nicht verlängern bzw. nicht zu den geforderten Bedingungen, stand ihm das auch frei. Auf diese Weise kam eine etwa leistungsgemäße gesunde Fluktuation zustande; viele begabte Schauspieler stiegen von kleinen relativ schnell bis zu Spitzentheatern auf; leistungsschwächere fanden bald den ihren Möglichkeiten gemäßen Platz in der nach Bedeutungsgruppen gegliederten Theaterhierarchie. Bei solchen Engagementswechseln spielten naturgemäß subjektive künstlerische Vorstellungen und Urteile von Schauspielern, Regisseuren und Intendanten eine große Rolle, was einfach zum Lebensexilier dieses Berufsgebietes gehört.

Das neue Arbeitsgesetz ging von mehr oder weniger stabilen Betriebsbelegschaften aus. Die Arbeitsverträge waren zeitlich nicht begrenzt. Der Schauspieler konnte zu jedem Spielzeitende den Vertrag lösen, aber der Intendant konnte ihn nur bei groben Vergehen kündigen. Jeder Kündigung mußte die zuständige Gewerkschaftsleitung zustimmen. Wenn nun der Intendant der Meinung war, daß der Schauspieler A mangels zureichenden Talents und Könnens kaum einzusetzen war und eine Stelle blockierte, für die er gern einen fähigeren Kollegen engagiert hätte, mußte er dem Schauspieler A seine mangelnde Fähigkeit nachweisen, sonst stimmte die BGL der Kündigung nicht zu. Wenn er seinem künstlerischen Gewissen folgend, A nicht in anspruchsvollen Rollen ausprobierte, sagte die BGL: Du hast ihm keine Bewährungschance gegeben, also können wir die Kündigung nicht akzeptieren. Nun „beweise" man einmal die Richtigkeit eines künstlerischen Urteils! Hier regiert - mit erheblichem berechtigten Spielraum - Subjektivität, ohne die in der Kunst nichts geht.

Die Wirkung des neuen Arbeitsgesetzes war also, daß es an jedem größeren Theater eine Gruppe von Schauspielern gab, die regelmäßig ihre Gagen abholten, aber kaum einmal auf der Bühne erschienen - es sei denn, in kleinen, unbedeutenden Rollen -die aber nicht kündigten, weil sie um ihre soziale Sicherheit fürchteten. Sie blockierten die Stellen, die das Theater im Interesse seiner künstlerischen Weiterentwicklung unbedingt hätte neu besetzen müssen.

Und so forderte das Präsidium in seinem Brief zum wiederholten Male, daß

„es durch gesetzgeberische Erweiterungen, also eine differenzierte Vertragsgestaltung, möglich sein muß, die Personalstrukturen entsprechend der wechselnden künstlerischen Konzeption des Theaters umzugestalten, d.h. daß ein bestimmtes Maß befristeter Arbeitsverträge eingeführt werden sollte, das über die bisherigen Lösungen hinausgeht."

Die weiteren Forderungen des Präsidiums fochten nun die ganze bestehende Theaterstruktur der DDR an:

Wir unterstreichen nachdrücklich ... den Gedanken, daß das zukünftige Theater der DDR ein Theater von größerer Vielfalt der Profile, der Organisationsformen, Inhalte und künstlerischen Vermittlungsformen sein soll. Das bedeutet:" (Gesetze, Ordnungen, Rahmenverträge, Strukturen, Unterstellungsverhältnisse usw.)... „müssen so gestaltet werden, daß ein differenziertes theatralisches Angebot entstehen kann und sich neben den traditionellen Stadttheatern, in denen wir eine wichtige Form des Theaters ... sehen, noch weitere entwickeln können. Wie z. B. Einspartentheater unterschiedlichster Profile von hoher Mobilität, neuen Finanzierungs- und Unterstellungsformen; dazu Studios, Gruppen u. a., in denen der künstlerische Nachwuchs ein Bewährungsfeld findet. Das betrifft auch nicht staatlich geleitete Gruppen, soweit sie das geistige Leben der sozialistischen Gesellschaft auf qualitätvolle Weise zu bereichern in der Lage und willens sind."

Auf diesen Brief, der in seinen vorsichtigen, aber dem Adressaten Parteiführung voll verständlichen Formulierungen weitaus mehr in Frage stellte als nur die letzten 10 Jahre Theaterpolitik von Partei, Staat und Gewerkschaft, und der - genau genommen - eine Theaterperestroika als Teil einer allgemeinen, sehr weitgehenden Umgestaltung in der DDR forderte - auf diesen Brief gab es keine offizielle Reaktion mehr. Die schier unlösbaren Probleme der Theater verschwanden im Spätsommer und Herbst 1989 hinter weit größeren, von denen sie nur ein signalsetzendes Symptom waren.

Ich könnte nun noch von meinen Erlebnissen als Mitglied eines Wahlvorstandes bei den im Ergebnis gefälschten Kommunalwahlen im Mai 1989 (unser Wahlvorstand rechnete ehrlich mit 82 Prozent ab, vom Kreis nach oben gemeldet wurden 95 Prozent) berichten, oder von meinen Eindrücken im Zusammenhang mit der großen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4.11.89, aber darüber wurde bereits viel geschrieben. Und so möchte ich noch einmal einen kleinen Zeitsprung zurück machen und eine Anekdote erzählen, die nur scheinbar mit dem großen Geschehen nichts zu tun hat.

Ich nahm an einer Anleitung der Vorsitzenden von Revisionskommissionen des Kulturbereichs im Hause des Zentralkomitees teil, die von einem betagten, aber sehr sachkundigen Genossen gegeben wurde. Man konnte von ihm manches lernen. Und nun die Anekdote. Der Leser mag sie ganz nach seinem Gutdünken als Zeichen des Niedergangs oder des Fortschritts deuten:

In den frühen DDR-Jahren kämpfte die Volkspolizei (nach dem Ermessen örtlicher Organe oder Kommandogewaltigen) noch gegen die westliche Unkultur, indem sie die wenigen Nackten am Ostseestrand aufspürte und einer Bestrafung zuführte. Kurz vor besagter Anleitung hatte Berlin sein 750jähriges Bestehen gefeiert - mit großem, festlichem Aufwand. Nur der an Bekleidungsstücken war sehr eingeschränkt. An der Parade der Wasserfahrzeuge beteiligte sich ein großer Binnenfrachter, der vom Bug bis zum Heck von Nackten jeglichen Alters und Geschlechts wimmelte, die den staunenden Spannern am Ufer und auf den Seen fröhlich zuwinkten. Auch die zentrale Demonstration durch das Stadtzentrum zeigte auf Wagen viel „oben ohne" und manchmal auch verschämte ganze Nacktheit.

Ein Teilnehmer der Anleitung im ZK stellte nun dem betagten Genossen die überraschende Frage, was denn seine Meinung zu der vielen Nacktheit auf den Straßen und Gewässern Berlins sei. Der Alte kratzte sich am Kopf und murmelte, daß auch ihm das sehr mißfallen habe; er verstünde nicht, was das solle und ob das richtig sei. Dann aber unterbrach er plötzlich sein Gemurmel und rief: „Aber das Konzept muß doch dem Politbüro vorgelegen haben! Ich werde mich gleich erkundigen." Nach einer Pause eilte er zum Pult und erklärte sichtlich erleichtert: „Hört mal her, Genossen, ich habe mich erkundigt. Das Politbüro hat das Konzept so beschlossen. Es ist also alles in Ordnung und richtig!"

Das Sekretariat des Theaterverbandes veröffentlichte Mitte Oktober 1989 auf vervielfältigten und zusammengehefteten Blättern Abschriften von 30 Erklärungen und Resolutionen zur innenpolitischen Lage in der Zeit um den 40. Jahrestag der DDR, spontan entstanden in Theatern und Organisationen Kunstschaffender, die insgesamt mehr als tausend Unterschriften trugen. Sie waren unterschiedlich adressiert, einige direkt an Erich Honecker. In den Verteilern wurden das ZK der SED, das Ministerium für Kultur, der Theaterverband, die jeweiligen örtlichen Partei- und Staatsorgane sowie weithin gelesene Zeitungen genannt. Die hauptsächlichen Autoren der Texte waren SED-Mitglieder oder der Partei nahestehende Kollegen. Die Inhalte dieser 30 Erklärungen stimmen im Grundsätzlichen weitestgehend überein, deshalb genügt es, hier nur eine wiederzugeben - die des Kabarettensembles der Leipziger Pfeffermühle:

„In tiefer Sorge um dieses unser Land, um dessen Aufbau und Fortkommen auch wir uns seit mehr als 35 Jahren mit unseren Mitteln bemuhen, sehen und spuren wir gerade in diesen Tagen des 40jähngen Bestehens unserer Republik eine immer großer werdende Kluft zwischen den Idealen des Sozialismus und den Realitäten, mit denen wir tagtäglich konfrontiert sind, einen immer großer werdenden Zwiespalt zwischen der Selbstdarstellung unseres Landes in Festreden und den Medien und der viele Burger bedrückenden Wirklichkeit, zwischen den Bedürfnissen, Wünschen und Lebenszielen der Menschen und den Möglichkeiten ihrer Verwirklichung.

Zehntausende vor allem junge Menschen kehren in diesen Tagen unserer Republik den Rücken, enttäuscht und entmutigt, gewiß auch verführt vom Glanz scheinbar besserer Lebensqualität jenseits unserer Grenzen, ein Ungewisses Schicksal in Kauf nehmend Unübersehbar aber ist die Zahl der Bürger unseres Landes, die nicht gewillt sind, diesen Irrweg zu beschreiten, die jedoch immer drängender in Gesprächen und Diskussionen, im kleinen Kreis ebenso wie auf den Straßen unserer Städte, ihre Unzufriedenheit, ihre Sorgen um unser aller Zukunft, ihre Hoffnungen auf Veränderung artikulieren

Wir glauben nicht, daß es unserer Sache, dem Sozialismus, gemäß und dienlich ist, alle diese Menschen auszugrenzen und zu diffamieren, sie mit Rowdies und Chaoten gleichzusetzen, die Unzufriedenheit und Unsicherheit für sich nutzen wollen und von denen wir uns distanzieren. Wir glauben aber ebensowenig, daß es dem Wesen einer humanistischen, der sozialistischen Gesellschaftsordnung entspricht, Unzufriedene, Fragende, auch Zweifelnde als Kriminelle, Asoziale, Verräter oder Staatsfeinde zu verunglimpfen Und in aller Deutlichkeit- wir glauben nicht, daß Schlagstocke und Wasserwerfer geeignete Antworten auf ihre, auf unsere Fragen sind.

Uns bewegt die Furcht, daß Druck nichts anderes als Gegendruck erzeugt, daß die Anwendung von Gewalt Gewaltanwendung provoziert, daß Intoleranz und Unfähigkeit zu demokratischer Auseinandersetzung unabsehbare Folgen nach sich ziehen könnte.

Setzen wir dem die Fähigkeit und die Möglichkeit zum Dialog entgegen, schaffen wir Räume des offenen Gesprächs, des freimütigen Gedankenaustausches in aller Öffentlichkeit, ohne Angst vor Mißdeutungen und ohne Unterstellungen, vor allem aber ohne Furcht vor unbequemen Wahrheiten. Geben wir uns damit die Chance der produktiven Veränderung und nehmen wir dadurch unseren Gegnern das Potential für Desorientierung und Manipulation.

Wir haben uns die Devise „Alles zum Wohle des Volkes" auf unsere Fahnen geschrieben Wenn es uns um diesen Wahlspruch ernst ist, sollten wir zu jeder Stunde auf die Fragen, die Gedanken, den Willen des Volkes hören. Wahrhaft sozialistische Demokratie bedarf der offenen, rückhaltlosen und vor allem öffentlichen Analyse des Zustandes unserer Gesellschaft, bedarf der sachlichen, uneingeschränkten Diskussion unserer Schwierigkeiten und Probleme, ihrer Ursachen und unserer Versäumnisse, und sie bedarf der gemeinsamen Suche nach Wegen, die uns aus Ratlosigkeit und Stagnation, Entmutigung und Gleichgültigkeit fuhren können.

Wir Kabarettisten wollen das unsere dafür tun, in einer Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens, des wirklichen und wahrhaftigen Miteinander, des öffentlichen Dialogs und der kritischen Auseinandersetzung für eine Erneuerung und Demokratisierung des Sozialismus, der uns am Herzen liegt. "

(Unterschrieben vom Direktor Rainer Otto und sämtlichen Künstlern und Mitarbeitern der Pfeffermühle.)

Zum Abschluß eine mich tief beeindruckende Begebenheit am Tage der Maueröffnung:

In den Jahren 1988/89 hatten wir bei LITERA viel Arbeit in die Vorbereitung eines Schallplatten-Doppelalbums über Thomas Müntzer und seine Zeit, den Großen Deutschen Bauernkrieg 1525, investiert, in deren Zentrum Müntzers revolutionäre Predigten und Appelle standen. Auch Luther und viele andere Zeitgenossen kamen zu Wort, jeweils von Spitzenschauspielern in einer den frühneuhochdeutschen Originaltexten nachgestalteten Diktion interpretiert.

Müntzer und der Bauernkrieg hatten in der DDR-Geschichtswissenschaft, Literatur und Kunst große Aufmerksamkeit und Würdigung gefunden. Mit seinen sozialen Visionen und Forderungen ging er angesichts der unerträglichen Ausbeutung und Unterdrückung der Bauern durch Adel, Klerus und ihre Handlanger weit über das hinaus, was zu seiner Zeit real möglich war. Als tiefgläubiger, von seinem Missionsbewußtsein erfüllter Utopist fand er ein tragisches Ende - wie alle großen Bauernführer seiner Zeit, und die Unterdrückung der Bauern nahm noch krassere Formen an.

Die deutschen Sozialisten begriffen sich etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts auch als Müntzers geistige Erben und Fortsetzer, wofür etwa die große Schilderung des deutschen Bauernkrieges durch Wilhelm Zimmermann und Friedrich Engels' Schrift „Der deutsche Bauernkrieg" Zeugnis ablegen. Ganz in dieser Tradition denkend, war unser Team - der Konzeptor Hans Bräunlich, der Regisseur Fritz Göhler und der Komponist Jürgen Ecke, der eine bewegende sinfonische Musik schrieb - an die Arbeit gegangen.

Als ihre Fertigstellung absehbar war (also Monate vor dem Endtermin), legten wir fest, das Doppelalbum in einer Veranstaltung am 9.11.89 im Club des Schauspielhauses am Gendarmenmarkt der Öffentlichkeit vorzustellen, was auch geschah.

Der Saal war nicht so gut besetzt, wie das die Clubleitung vorangekündigt hatte, was mit den aktuellen politischen Ereignissen zusammenhängen mußte. Meine kurze Einleitung und das Vorspielen von Ausschnitten aus beiden Platten wurden mit großer Aufmerksamkeit verfolgt - unsere Gäste waren sichtlich stark beeindruckt. Danach standen wir ihnen Rede und Antwort.

Alle Anfragen ließen sich in eine zusammenfassen: Durftet ihr das überhaupt machen und an die Öffentlichkeit bringen?? Hat euch die Zensur, die Partei, das nicht unmöglich gemacht??

Ich war, ob ich wollte oder nicht, quasi als zuständiger und allein anwesender staatlicher Leiter verpflichtet, zu antworten. Ich sagte den Fragestellern, daß wir mit Genehmigung und großer Unterstützung der Direktion des Schallplattenbetriebes gearbeitet hatten (man hatte z. B. für die Aufnahme von Eckes aufwendiger Musik zusätzliche Mittel und Kapazität zur Verfugung gestellt), hinsichtlich des Inhalts der Platten habe es keine Zensur - auch nicht von übergeordneten Organen - außer unserer bei Künstlern immer üblichen Selbstzensur gegeben; da ich aber hier als Vertreter der staatlichen Leitung spreche, möchte ich meine für uns freiberuflich tätigen Kollegen Bräunlich, Göhler und Ecke, die ja die Arbeit geleitet und ausgeführt hätten, darum bitten, daß sie die Fragen nach der Zensur beantworten.

Das taten die drei auch und bestätigten meine Aussage. Ecke (Mitglied des Neuen Forum) fügte noch seinen ausdrücklichen Dank für die von unserer Direktion erfahrene Unterstützung hinzu.

Die Diskussion war sehr lebhaft. Es zeigte sich, daß man - vereinfacht gesagt -Müntzers revolutionäres Pathos, gerichtet gegen die Fürsten, Bischöfe und adligen Herren, gegen die Kleriker, „die Gott zum gemalt Männlein gemacht haben", als ganz und gar gegen die Partei- und Staatsführung der DDR gerichtet verstanden hatte ...

Niemand von uns war auf die Idee gekommen, daß so etwas möglich sei.

Als wir nach der Veranstaltung das Haus verließen, erfuhren wir, daß die Grenzübergänge nach Westberlin geöffnet worden waren. Mein Heimweg vom Stadtzentrum nach Glienicke/Nordbahn führte auf der ganzen Länge immer ziemlich dicht an der Mauer entlang. Ich sah Zehntausende von euphorischen DDR-Bürgern zu den Grenzübergängen strömen ...

Mir wurde, wenn auch hinsichtlich der Folgen noch undeutlich, klar, daß meine bisherige Welt, in die ich nach dem mörderischen Krieg meine ganze Kraft investiert hatte, am Einstürzen und dem Kapitalismus hilflos ausgeliefert war.

Jürgen Schmidt


1 Ausführlich geschildert in meiner 1996 bei GNN erschienenen Autobiographie „Ich mochte ich bleiben".


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