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Wendeerlebnisse - haben sie mich geprägt, bin ich ein anderer geworden?
Nun gut, es sind schon mehr als 10 Jahre ins Land gegangen und vieles ist inzwischen verblaßt, hat sich relativiert, ist bedeutungslos geworden - das ist normal. Man kann nicht leben, wenn man nicht auch vergißt. „Erinnern und Vergessen" - so das Buch eines Schweizer Schriftstellers, das mich sehr beeindruckte in seiner Konsequenz.
Nun aber die Wende - viele nennen sie mit unterschiedlichen Adjektiven auch „Revolution". „Da muß es doch viel gegeben haben, das Euch, das Eure Generation geprägt hat" - so stelle ich mir Meinungen vor von denen, die eben nicht dabei gewesen sind.
„Laßt uns ein Glas Rotwein miteinander trinken und dabei über Deine Eindrücke in der Wendezeit schwatzen - Du wirst sicherlich einen Abend damit gestalten können". So die Angebote von Freunden von „drüben" unlängst. Ich war mir erst durchaus sicher, daß das so gehen könnte. Als es dann jedoch konkret wurde, als ich mich ernsthaft mit dem Anliegen befaßte, den gemütlichen Abend vorzubereiten - da merkte ich, daß ich viel erzählen könnte, daß aber alles eigentlich nur Krümelkram war, über den ich selbst (heute) nur lächeln kann.
Ja, wenn man so in Bücher schaut und sich von dort aus seine Erinnerungen umgestaltet, pendelnd zwischen „Dichtung und Wahrheit", zwischen Einbildung und bewußtem Wahrnehmen, da ließ sich sicher Vieles machen. Aber wenn man aufrichtig ist - wer hat schon dauernd auf der Barrikade gestanden? Und: wo waren sie?
Dabei habe ich durchaus ein gutes Gedächtnis. Viele Szenen der Vertreibung, der Flucht durch Deutschland, des schweren Beginns, der Schulzeit, auch später der beruflichen Entwicklung sind mir deutlich erinnerlich. Oft schwatze ich mit ehemaligen Arbeitskollegen über Zeiten, die 40 Jahre zurückliegen, Episoden, die mich geprägt haben.
Aber die Wendezeit? Es ist, als sei dort nichts passiert. Habe ich nichts erlebt, in einem anderen Land gelebt, oder in der Provinz? Ich hatte schon mal in einem Buch gelesen wie „gewöhnliche" Bürger von Paris damals den Sturm auf die Bastille erlebt haben. Wir dachten immer, ganz Paris wäre mit dabei gewesen. Ganz anders: kaum einer hatte etwas gemerkt - die Geschichtsschreibung hat uns da ein einseitiges Bild vermittelt, dem wir bis heute nachhängen. So auch „unsere" Revolution? Vielleicht ist Geschichtsschreibung immer so, erst spätere Generationen schreiben sie ein wenig richtiger? Oder gibt es das eigentlich: richtige Geschichte? Für wen richtig?
Aber was heißt eigentlich „unsere" Revolution?
Das hier verwendete Possessivpronomen hängt weitgehend davon ab, welchen Jahrgang man angehörte, welche Entwicklung man genommen hatte, aus welchem sozialen Milieu man kam. Wer wie ich, in den frühen fünfziger Jahren langsam Verstand und Urteilsvermögen bekam, mußte in die Gedanken hineingeraten, die damals auch von vielen der besten Deutschen vertreten wurden. Der Sozialismus war eine Alternative und gut geeignet, so wie mir schien, unserem „Nie wieder" auch wirklich zu entsprechen. Heute weiß ich, was wir für Träumer waren. Aber sind Menschen nicht erst dann Menschen, wenn sie auch Träumer sein können?
In der DDR war man als Intellektueller - sofern nicht mit einer strikten kirchlichen Bindung - immer auch ein engagiert politischer Mensch. Was aber ist das und welche Rolle haben denn in der DDR die Intellektuellen überhaupt gespielt? Hatten Sie eine Chance, ihre Aufgabe als „geistige" Elite, als die Vordenker zu spielen? Oder beschränkte sich alles auf stasiüberwachtes Stammtischgemurmel? Was war man überhaupt für einer? Heute heißt es, daß man entweder Täter oder Opfer war - etwas anderes soll es nicht gegeben haben. Was war ich - was bin ich? Lebte ich in einem anderen Land?
Was eigentlich sollte meinem Leben Sinn geben? Etwa das, was sich mit meiner Person befaßt: reine Eitelkeit etwa? Oder gab es auch etwas, was über mich hinausging? Und wenn ja, wie sollte so etwas denn funktionieren? Von allein, so etwa wie in einer Marktwirtschaft, wo eine „unsichtbare Hand" alles steuert und der Mensch nur noch zusieht und hofft? Nein, da hat mein Freund aus Trier schon ein paar bessere, menschlichere Gedanken gehabt, die mich damals durchaus beeindruckten. Darf der Mensch eine Vision haben - oder vielleicht ist er nur soviel Mensch, wie er auch Visionen hat?
Nun, ist man engagiert und nicht auf Oppositionskurs (was ich durchaus nicht immer als eine persönliche Leistung sehe), gibt man sich Mühe, mitzuwirken und mitzuhelfen, nachzudenken und Lösungen zu suchen: eben tätig zu sein. Auch für Andere: „Ehrenamt" sagt man heute.
Nun ist es schwierig: was war eigentlich die DDR - nur eine Diktatur, nichts anderes? Die Utopie - hat sie nicht viele auch mitgenommen? War das Leben wirklich so schwierig, ohne die tägliche Wahl zwischen 15 Brotsorten? Natürlich ist Diktatur auch in einer Schafherde da: der Hirt bestimmt mit seinen Hunden „wo es lang geht - oftmals aber auch zum Vorteile jedes einzelnen Schafes, auch wenn dieses zunächst zornig ist, gejagt zu werden und einen nahen Grashalm nicht mehr erreicht. Also nicht die Diktatur selbst scheint mir das Problem zu sein, sondern war es eigentlich in dieser Zeit noch möglich, so eine menschliche Gesellschaft von Rang zu etablieren? Heute kann man darüber spotten. Aber: laßt uns doch mal über unsere Erfahrungen reden: vielleicht sind sie doch zu etwas nütze? Und: wer ist heute das Zentrum des Landes: Kirche, Parteien, Wissenschaft, Kunst, Politik, Medien? Ist Demokratie ohne Zentrum?
Wir hier sind aufgewachsen als „politische Menschen", als „Zoon Politikon" - wirklich. Im Gegenüber von Kapitalismus und Sozialismus. Dabei beginne ich jetzt erst zu begreifen, daß hier Äpfel mit Birnen verglichen werden. Nun bin ich kein Wissenschaftler dieses Genres und kann mich auch sehr irren: Kapitalismus ist sicher die bessere Art, viel und effizienter zu produzieren - aber wird man dadurch auch glücklich? Nein, so sagt man mir nun, das gehört nicht zu den Aufgaben des Kapitalismus: dort geht es nur ums Geld und um sonst nichts! Der Sozialismus, er hat es sicher auch nicht geschafft, die Leute glücklich zu machen: aber wir, genauer: ich, waren davon überzeugt, daß er es schaffen wird: warum nicht, wenn alle mitmachen und es für jeden dann besser wird? Haben nicht so viele, ja die besten Deutschen, vielleicht auch so wie ich gedacht?
Meinen politischen Charakter erhielt ich nicht nur aus meiner beruflichen Arbeit oder meiner frühen Tätigkeit in der Jugendorganisation auf unserem Dorf. Ich hatte das Glück, in einer „sozialistischen" Stadt Freunde zu finden, die ähnlich wie ich auch die künstlerische Aneignung der Welt als ihre menschliche Dimension sahen, die Bücher lasen, die ins Theater gingen, die Bilder betrachteten, die Gespräche führten: ehrlich, offen, eben wie ein Gespräch sein muß, sonst wäre es ja keines. Was wäre ein Gespräch, wenn man bei jedem Wort an die Rolle dächte, die man zu spielen hatte. Das ist mir erst nach der Wende so bewußt geworden - dieses „Rolle spielen", diese Inszenierungen. Die Art Atmosphäre war bei uns immer von einer „Produktivität" oder „Kreativität" geprägt, die uns dann auch schließlich in der beruflichen Arbeit half und die ein Gegenstück zur heutigen „Neidgesellschaft" war - welch ein Traum. „Der Traum, ein Leben" - so ein Theaterstück von Grillparzer, und: war nicht Don Quichotte ein glücklicher Mensch? Vielleicht arm (er hätte reicher sein können, wenn er spekuliert hätte, das gab es ja auch damals schon), aber dennoch glücklich? Sind wir so naiv gewesen?
So war also unser Leben. Naiv würde sicher nicht der richtige Ausdruck sein, aber etwa in dieser Weise. Und so habe ich dann auch die Entwicklung verfolgt. Viele „Vorbeben" konnte ich schon wahrnehmen in unseren Gesprächen im Freundeskreis. Kunst hatte in der DDR eine andere Funktion als heute: sie war die universelle Kritik auch unseres gesamten Lebens. Wenn man ein Buch Christa Wolfs las, so las man nicht nur was da stand, sondern man las auch noch das, was zwischen den Zeilen gesagt wurde. Das war eigentlich noch viel wichtiger und weitreichender. Es war oft so, daß das eben das intellektuelle Erlebnis war, immer verbunden mit einem bestimmten Abenteuer.
So gelangte ich auch zu meiner
Vorstellung, wie die Entwicklung unserer Gesellschaft eigentlich erfolgen müßte,
natürlich immer von meiner Perspektive aus betrachtet. Dadurch hatte ich auch
bestimmte Vorstellungen über konkrete Veränderungen, die erforderlich sind, um
eine moderne Gesellschaft zu sein.
Wirklich überrascht haben mich eigentlich zwei Dinge: das Verbot des Sputnik und die Pressekonferenz am 9.11.1989 mit Schabowski. Beide Dinge sind mir deutlich in Erinnerung. Seit längerer Zeit war ich von russischer und sowjetischer Literatur begeistert. Mit Freude verfolgte ich die Entwicklung, wie sie in der „Nach-Breschnew-Ära" einsetzte: Schukschin, Aitmatow, Trifonow, Tendrjakow, Rasputin. Welch eine Hoffnung! Und dann dieser jähe Absturz mit dieser Begründung - es war ja so durchsichtig, daß das nicht stimmte. Das hat mich schon sehr skeptisch werden lassen, was denn noch so alles kommen könnte.
Aber die Überraschung war dann wirklich doch die Geschwindigkeit, mit der die Mauer fiel: das hätte ich bei weitem nicht erwartet. Ich kann mich noch genau besinnen: wir kamen von einer Versammlung nach Hause, es war so gegen 18.30 Uhr und zum Abendbrot lief dann der Fernseher: die Pressekonferenz und die Stotterei von Schabowski, aber mit welcher Konsequenz? So wird eben Geschichte gemacht - so sage ich es heute: wer weiß einen besseren Weg zur Einheit unseres Landes: das war doch ein großes Glück, was uns hier erreichte: wie viele schlechtere Wege hätte es gegeben. Trotz alledem!
Mit der Wende ging es mir so wie vielen: spätestens seit den sechziger Jahren war ich überzeugt, daß unser geistiger Vorlauf aufgebraucht war und Instrumente herhalten mußten, die ungeeignet waren: sie überzeugten nicht. Dennoch immer wieder die Hoffnung - und die Nischen. Es war schon mit einiger Sensibilität etwas zu erahnen. Aber wohin sollte die Fahrt gehen? Ich weiß nicht, wer sich nun hinstellen kann und sagt: so, genauso habe ich es kommen sehen und mitmachen helfen! Was ist Geschichte und wo ist hier das eherne Gesetz? Manchmal habe ich schon Ehrfurcht, manchmal packt mich das Grausen, was hätte alles passieren können. Ein Glück, daß es so gekommen ist - trotzdem sind wir nicht ans Ende der Geschichte gelangt. Es geht weiter und in gleicher Weise wie damals nimmt es uns niemand ab, auch heute wieder politisch sein zu müssen, wenn wir an unsere Verantwortung denken vor der Zukunft. Die Lage ist im Grunde nicht anders, die Herausforderungen genauso.
Und so wird es immer sein!
Gerhard Schlegel
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