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Aus
der Sicht eines alten Genossen
Als
Zeitzeuge und Mitbeteiligter am Entstehen der drei Bände des GNN-Verlages
„Spurensicherung", die Entwicklungen aus vierzig Jahren schildern,
bleibt mir zum Niedergang der DDR nicht mehr viel zu sagen; denn unter meinen
Beiträgen und auch denen anderer Autoren gibt es kaum einen, in dem nicht
kritisch und selbstkritisch auch auf Ursachen des Scheiterns dieses ersten
Versuches zur Herstellung einer neuen, sozialistischen Gesellschaftsordnung in
Deutschland verwiesen wurde. Zahlreich sind die Hinweise auf Fehler, die auf
allen Ebenen von seit 1945 heimgekehrten überlebenden Antifaschisten und
ehrlichen, meist politisch unerfahrenen Arbeitern, Bauern und anderen Bürgern
gemacht wurden. Zahlreich sind auch die Beispiele für aufrichtiges Bedauern,
die Eingeständnisse persönlichen Versagens, für übertriebenes, manchmal
blindes Vertrauen bei der Bewertung mancher Unzulänglichkeit, für das
Nicht-Stellen berechtigter Fragen nach Ursachen von Fehlentwicklungen und nach
den Gründen für unklare Forderungen und Beschlüsse.
Es gab Verletzungen der Grundprinzipien des Statuts der SED und der
Verfassung der DDR, grobe Fehldispositionen der staatlichen Führung bei der
Planung und Leitung der Volkswirtschaft, überspitzte Maßnahmen in der
Sicherheitspolitik, Arroganz bei leitenden Funktionären, Mangel an Selbstkritik
bei der Bewertung von Entwicklungsprozessen und das Fehlen einer offenen und
klaren Information der Bürger über die Hintergründe und die gesellschaftliche
Größenordnung der sie im Alltag bewegenden Probleme.
Erst in den Jahren nach der „Wende" wurde ausführlich über
das eigene Versagen und seine Ursachen sowohl in der Führung wie auf den
Bezirks- und Kreisebenen und auch an der Basis - oft bis zur Selbstzerfleischung
- offen und schonungslos berichtet.
Als Beispiel ungeschminkter Wiedergabe persönlichen Erlebens nenne
ich hier den Beitrag von Arnold Eisensee im GNN-Band „Zeitzeugen zum 17. Juni
1953. Funkstudio Stalinallee". Er läßt sich nicht in eine Kurzfassung
bringen, wie auch nicht meine eigenen kritischen Beiträge in der Autobiographie
„Suchend im Jahrhundert erwacht". Genannt werden sollen hier die Berichte
über die bürokratischen Methoden von Mitarbeitern der Redaktion „Neues
Deutschland" und des ZK der SED bei der Behandlung einer
Meisterbeschwerde, oder über mangelndes Reagieren des Rates des Kreises auf
kritische Hinweise und berechtigte Forderungen eines Mitarbeiters in Bezug auf
die Entwicklung des Handwerks im Kreis. Die Autobiographie enthält Kopien
mehrerer
meiner Pressebeiträge. Sie widerspiegeln die prozesshaften Auseinandersetzungen
mit Problemen in Industriebetrieben, im Bauwesen und der Landwirtschaft; sie
sind Belege für offene Information und zugleich Aufrufe zur Lösung anstehender
Aufgaben.
In diesen Betrachtungen sollen auch negative Erscheinungen
unmittelbar in der Produktion nicht unerwähnt bleiben, ohne in lange,
detaillierte Beschreibungen zu verfallen. So wurden in Arbeitskollektiven, die
zum Teil mit dem sozialistischen Ehrentitel ausgezeichnet waren, die
Plankontrollen oft nur oberflächlich organisiert, Arbeitsdisziplin und
Arbeitsordnung unzureichend eingehalten und Wettbewerbsprämien formal unter
Mißachtung der realen Leistungen und des Prinzips des materiellen Anreizes
verteilt. Brigadeleiter, aber auch Gewerkschafts- und Parteileitungen, wurden in
dieser Frage ihrer Verantwortung nicht immer gerecht. Mancher Beschäftigte
empfing seinen vollen Lohn, ohne sich selbst zu fragen, ob er auch seine volle
Leistung gebracht hatte.
Wo mangelnde Kontrolle, Aufsicht und Leitungsqualität es zuließen,
wurde der Volkseigene Betrieb als melkende Kuh für private Zwecke
verantwortungslos mißbraucht - auch nach der bekannten Losung: „Freitag um
eins macht jeder seins!" Leider spricht seit 1990 manch ein Kritiker der
DDR-Misere über alles, nur nicht über seinen eigenen Anteil an der Schuld.
Diese verbreitete Einstellung von der eigenen Schuldlosigkeit
zeigt, daß es ungenügend gelungen war, in der Mehrheit der Bevölkerung die
Überzeugung auszuprägen und beharrlich zu festigen, daß ein Sieg des
Sozialismus nur bei hohem Verantwortungsgefühl jedes Einzelnen für seine
eigene Leistung und auf langem Wege möglich ist.
Sozialismus - das bedeutet Übereinstimmung von persönlichen und
gesellschaftlichen Interessen. Es genügt nicht, über ihre Notwendigkeit zu
reden; sie muß in der Alltagspraxis erlebbar werden. Die dafür nötige
politische Arbeit blieb unterbelichtet, wurde sträflich vernachlässigt, wie
denn auch der Kampf gegen die immer wieder die Unzufriedenheit der Bevölkerung
schürenden Versorgungslücken.
Zu all dem Gesagten kommen manche Ergänzungen aus den
Strafverfahren, die zur Verurteilung sogenannter „staatsnaher" Funktionäre
- ihrer Herkunft nach Arbeiter und Antifaschisten - durch die bundesdeutsche
Justiz führten. Viele Urteilsbegründungen konnte ich in Grenzen akzeptieren,
weil die dort beschriebenen Vorgänge auch in meinen eigenen Wirkungsbereichen -
im Territorium und in Betrieben - eine Rolle spielten. Ernsthaft nachdenklich
wurde ich jedoch, und meine Bereitschaft zu Selbstkritik, meine
Lernbereitschaft, stark eingeschränkt, als bundesdeutsche Politiker,
Historiker,
Journalisten und auch Richter meine DDR, meinen persönlichen Beitrag und den
vieler Gleichgesinnter zu ihrem Werden und Wachsen mit dem Treiben der
Hitlerfaschisten
im „Dritten Reich" verglichen und gleichsetzten.
Nein, ich lasse mir meinen Schwur von 1946, den Schwur des
Heimkehrers aus Krieg und Gefangenschaft: „Nie wieder Krieg und
Faschismus!" von niemand, am wenigsten von nicht oder falsch informierten
Alt-BRD-Bürgern diffamieren! Ich habe für seine Verwirklichung als politisch
aktiver DDR-Bürger gemeinsam mit vielen Genossen und Mitbürgern gekämpft
und bin ihm bis heute treu geblieben.
Auch wenn ich, wenn wir bei unserer vierzigjährigen Arbeit Fehler
gemacht oder geduldet haben, waren wir keine Kriminellen!
Beim Schreiben dieser Zeilen kommen mir Fragen in den Sinn.
Was will ich, was wollen wir als Zeitzeugen? Noch 1.000 Seiten Details,
Beispiele von Mängeln und Schwächen, von „Schandtaten", vielleicht
noch langatmig romanhaft auswalzen? Vierzig Jahre unserer Unfähigkeit
dokumentieren?
Wer sind wir eigentlich? Abtrünnige aus dem Reich des stolzen
deutschen Großkapitals. Antifaschisten, Arbeiterkinder, dem Kriegstod
entronnen - welch ein Glück! Erstmals in Deutschland an die Macht gekommen, an
die Regierung (was für eine Schande!). Und dann gleich fehlerlos? Oder wie?
Brutal? Verräter am eigenen Volk, dem ausgebluteten, in den Trümmern deutscher
Verbrechen?
Lassen wir doch unsere Leser nicht noch länger Zeit vergeuden!
Vermiesen wir ihnen nicht das Lesen mit Begebenheiten, die nun schon zwölf
Jahre lang aufgewärmt werden! Noch Hunderte davon ändern an den Erkenntnissen
nichts mehr. Meine aufs Haupt gestreute Asche ist alle. Die Sieger haben sich
ausreichend die blutbefleckten Hände gerieben und uns gedemütigt - und sie würden
uns noch lange freudig Beifall klatschen!
Und für wen schreiben wir eigentlich? Hüten sollten wir uns
davor, die inzwischen unzähligen Seiten der Akademikerstreitereien über
unseren Weg, geführt auf streng „wissenschaftlicher" Basis (bis hin zur
Wortklauberei, Haarspaltereien um des Kaisers Bart) noch zu erweitern. Was wir
brauchen sind klare Worte, verständlich für breite Kreise und Schichten der Bürger,
die ihnen bei der politischen Auseinandersetzung mit unserer Geschichte, unserem
Gestern, Heute und Morgen helfen. Solche Worte sind jetzt besonders dringend
angesichts der fortschreitenden Globalisierung, der Osterweiterung der EU und
der wachsenden rechten Gefahr. Wir brauchen auch klare Worte über die sich
abzeichnende Gefahr eines weiteren, vielleicht noch viel schlimmeren
Niedergangs.
Wenn
ich mich umsehe, wächst in mir wieder Stolz auf Vergangenes. Da war unser
Anfang aus dem Nichts. Wir bauten und schufen eine Grundstoffindustrie, Werften,
Schiffe, eine Handelsflotte, Wohnungen, neue Städte, Kulturhäuser, Sportstätten,
Krankenhäuser, ein nie zuvor gekanntes Gesundheits- und Sozialwesen; wir
entwickelten die Landwirtschaft, organisierten Weltfestspiele mit der
friedliebenden Jugend aller Nationen ... Das und vieles mehr bleibt unvergessen.
Es waren wertvolle Erfolge - oder etwa Stationen des Niedergangs? Wer das meint,
ist kurzsichtig, neidisch und verlogen. Ich werte das Erreichte und nun brutal
Beseitigte als eine gelungene Lehrlingsarbeit. Auf ihr fußten manche
ausgezeichnete Gesellen- und Meisterprüfungen in allen Arbeitsbereichen
einschließlich ungezählter Diplome, Promotionen und Habilitationen von
Akademikern. Natürlich kann sich, wer will, auch bei den logischerweise dazugehörigen
Beispielen durchgefallener Prüflinge aufhalten und seinen ärmlichen Trost
dabei finden. Immerhin sind wir aus Ruinen auferstanden und haben neben harter
Arbeit viel und immer lernen müssen. Und hätten wir statt im Kalten Krieg in
einer Sphäre friedlicher Koexistenz wachsen können und an Stelle der BRD etwa
Spanien, Italien, Portugal, Frankreich oder andere Nachbarn und Partner
gehabt, wäre uns ein Niedergang, eine „Wende" mit solchen Dimensionen,
garantiert erspart geblieben. Wir haben doch nie die uns vom Beginn bis zum
Ende begleitende Armut -verglichen mit der reichen Bundesrepublik - geleugnet!
Unsere strenge Sparsamkeit war in der Zeit begründet, war ein Merkmal des
sozialistischen Aufbaues und keine Schande! Auch unsere Freunde konnten sich
materiell nicht mit den Gegnern im Kalten Krieg messen. Russische Erde - das
ganze Land im Krieg verwüstet, in Trümmern liegend und verbrannt. Das reiche
Marschallplan-Land, auf das keine Bombe oder Granate gefallen war, half dem
verurteilten Kriegsschuldigen „solidarisch" schnell wieder - für einen
guten Preis - auf die Beine. Die NATO und die eigentlich verbotene neue Deutsche
Wehrmacht, sag Bundeswehr, zwangen uns zur NVA. Die Sicherheit unserer Grenze
wurde teuer. Ungeplant wurde diese Belastung zu einem nennenswerten Faktor
unserer Krise und Ursache von Kritik und Unzufriedenheit der Bürger. Auch
unsere Auslandsbeziehungen mit den 130 Botschaften kosteten Geld, wie die
Milliarden Reparationen an die Sowjetunion.
Heute zeigt sich, daß der immense westliche Reichtum zum Zwecke
von Erhalt und Mehrung immer mehr zum rigiden Sparen in den hochverschuldeten
Staats-, Länder-, Kreis- und Gemeindehaushalten zwingt, und zwar stets zu
lasten der Kleinen und Unbemittelten, also der Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger,
Asylsuchenden, der Kinder und Jugendlichen, der unvermögenden Kranken, des
Bildungswesens, der Kultur usw. Es zeigt sich auch, daß die kleinen Eigentümer
immer mehr zu Sklaven ihres Eigentums werden, das in wachsendem Maße den Banken
gehört.
Eine
systembedingte Selbstverständlichkeit oder schlechterdings eine Schande?
Gegen die riesigen Widersprüche zwischen Luxus und Armut,
Arbeitshetze und aufgezwungener Untätigkeit, standen wir im kalten Krieg im
Kampf. Vor allem aber gegen die verheerende NATO-Rüstungspolitik und ihre
bitteren Folgen.
Heutige Tagesthemen sind Korruption, Spekulation, Auswüchse des
Nationalismus, Kriege und Kriegsdrohungen, hohe Kriminalität, politische
Demagogie, gravierende Seuchen, parasitäre Werbung, Armut und Hunger in der
dritten Welt und erbitterter Kampf um die Erhaltung der natürlichen Umwelt als
Grundbedingung menschlichen Lebens. Vor alledem hängt der Vorhang der „repräsentativen
Demokratie"; vor diesem sitzt das eingelullte Volk, das glaubt, alles zu
haben und alles zu können - und das alles in „Freiheit" mitmacht. Nur
eine Minderheit handelt im Sinne der alten Forderung: „Denken ist die erste Bürgerpflicht!"
Nach dieser Maßgabe begann ich als Besiegter 1946 meinen Weg. Ich
habe ihn ungebeugt - nicht krumm - nach 1990 fortgesetzt. Und mit dem Jahr
2000 habe ich aufgehört, mich vor den neuen Siegern zu entschuldigen. Jetzt,
2001, bin ich nicht stolz auf ein großdeutsches Preußenjahr, statt dessen aber
auf Ostdeutschland und seinen - unseren Versuch, eine neue, gerechtere Ordnung
zu schaffen.
Harald Eidam
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