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1988/1989-Vietnamesen in Belgern

Wer hinter Bergen, Auen oder Meeren lebt, kennt kaum das kleine Städtchen Belgern an der Elbe. Aber jeder gebildete Deutsche, ob Katholik oder Protestant, weiß, daß Dr. Martin Luther bei seiner Bibelübersetzung die Meißener Kanzleisprache benutzte. Meißen ist eine Stadt zwischen Dresden und Belgern. Dabei erinnert der Name der Stadt an die Besiedlung durch die Slawen, denn „belaja gora" heißt soviel wie „der weiße Berg", der den Ursprung der Namensgebung bildete, obwohl ihn Bergleute nur als „Hügelchen" bezeichnen würden. Immerhin bestand und besteht dieser Hügel aus weiß-grauem Ton, der bei Deutschen großes Interesse erweckte, weil Ton einen Grundstoff beispielsweise zur Herstellung von begehrten Tonrohren bildet. Das schuf hinreichend soviel leere Arbeitsplätze, daß die örtliche Region sie nicht auszufüllen vermochte, weshalb sich die Wirtschaftsfühler bis hin zum fernen Vietnam ausstreckten. Dort gab es trotz des vergangenen Vietnamkrieges gegen die Amerikaner Arbeitskräfte, denen hier und anderswo in der DDR Arbeit angeboten werden konnte, wenngleich sich das manche Menschen im Jahre 2001 nicht mehr so vorzustellen vermögen. Neben Kräften aus verschiedenen Regionen der Welt holte die Regierung auch dreiundfünfzigtausend Vietnamesen in die DDR. Mehr als fünfzig von ihnen sollten im Steinzeugwerk Belgern neben einer ähnlichen Anzahl von Frauen in der Bettwäschefabrik „Planet" für fünf Jahre eine Bleibe in Belgern finden. So war es gedacht. Davon wußte ich unscheinbarer Rentner nichts.

Am 12. Oktober 1988 saß ich wie gewöhnlich kurz vor der Geisterstunde an meinem Schreibtisch, sah Zeitungen sowie die Post durch und hörte leise Nachrichten.

Als Lehrer war ich Nachtarbeit gewöhnt. Sicher hätte ich mich deshalb an diese späte Stunde nicht mehr erinnert. Aber relativ kurz zuvor hatte meine ehemalige Schule einen Schülerabsolventen namens Weißhaupt entlassen. Daran erinnerte ich mich, als ich folgenden Satz in der Presse las: „Am 11. Oktober traf der stellvertretende US-Außenminister John C. Whitehead in Ostberlin mit Generalsekretär Erich Honecker zu einem Gespräch über Abrüstungsfragen und die bilateralen Beziehungen zusammen." „Donnerwetter, ein Weißhaupt wie bei uns, die Welt ist klein wie mein Dorf“, dachte ich und las in einem Brief aus Bayern, welchen Gedanken Franz Josef Strauß vor seinem Tod am 3. Oktober hinterlassen hatte:

„Ich habe vielen Menschen geholfen, dem Frieden gedient und meinen Beitrag geleistet, Deutschland zu erhalten und Bayern auf dem Weg zum schönsten Land der Welt ein gutes Stück vorangebracht..."

„Die Rüstungsindustrie hat er weitgehend nach Bayern gezogen und sich das vom Volk bezahlen lassen", dachte ich, denn zur gleichen Zeit forderten arbeitslose Lehrer des Nordens ihre Einstellung in den Schuldienst. Das hatte Strauß offensichtlich nicht gekümmert, weil das kein bayrisches Problem war.

In einem anderen Brief fragte der Direktor der Kreisvolkshochschule (VHS) Torgau an, ob ich bereit wäre, Vietnamesen in Belgern die Grundlagen der deutschen Sprache beizubringen. Ich war bereit.

Am 28. November 1988 sollte der Deutschkursus als großes Experiment beginnen. Bis dahin blieben mir mehrere Wochen Zeit zur Vorbereitung. Ich besorgte mir Literatur und erfuhr ganz erstaunliche, für mich teilweise beachtliche Tatsachen. Was im Deutschen völlig verpönt ist, zum Beispiel der Glottisschlag beim Ansingen, das ist im Vietnamesischen ganz normal, wird dort geradezu gefordert. Aber nicht nur der Stimmritzenlaut brachte viele Probleme mit sich. Da war auch die Ähnlichkeit der Sprachstruktur zu den sinotibetischen Sprachen. Was sollte ein Deutscher mit dem monosyllabischen (einsilbigen) Prinzip und den bedeutungsdifferenzierenden musikalischen Akzenten (wie im Chinesischen) anfangen? Spricht man das a ganz normal, dann heißt ein Wort ma = „Erscheinung". Benutzt man den Vokal à mit accent grave, dann wird das Wort mà = „aber". Accent aigu ergibt im Wort má = „Wange". Der Vokal a im Wort ma führt zur Bedeutung „Mutter"1. Das Wort ma heißt „meisterhaft". Und ma hat die Bedeutung „Pferd". Nur das erste Wort ma ist also im Normalton zu sprechen. Die diakritischen Zeichen der anderen Wörter verlangen fallenden Ton, steigenden Ton, tiefen Ton, fallend-steigenden und unterbrochen-steigenden Ton. Als ich lernte, daß man die diakritischen Zeichen auch kombinieren kann, stieg meine Hochachtung vor den Sinologen, die in diesen Problemkreisen wie zu Hause sein müssen. Als Schüler hatte ich früher gelernt, daß wir Europäer ganze und halbe Töne der Tonleiter unterscheiden. Die Hochschule lehrte mich, daß die Ostasiaten auch Vierteltöne auseinanderhalten können. Das Vietnamesische bot bei A 15, bei E 10, bei I 5, bei O 15, bei U 10 und bei Y 5 verschiedene Tonhöhen an. Bisher kannten wir nur solche Zeichen wie die Cedille, also das Häkchen unter dem c, das zur Aussprache „s" zwingt wie in Façon.  

Quelle: Privatfoto

Deutschlehrer Heinz Weiß mit acht Vietnamesen im Steinzeugwerk Beigern

  Solche Zeichen, diakritisch genannt, geben den Vietnamesen die Möglichkeit, die Vokale, das Y eingeschlossen, in 60facher Weise zu unterscheiden! Ich verstand, Höhen und Tiefen beherrschten sie, die Vietnamesen. Dafür hatten manche von ihnen Schwierigkeiten mit deutschen Lauten, zum Beispiel mit dem < r >. Das Wort „richtig" wurde zu sichtig und „Rand" zu Sand. „Ich kehre das Zimmer aus" hieß: „Ich käse das Zimmer ..." So lächerlich das für den Unbeteiligten klingen mag, mir standen im praktischen Unterricht manchmal die Haare zu Berge. Knallhart wurde mir bewußt, auf welches Abenteuer ich mich da eingelassen hatte. Aber die menschlichen Beziehungen glichen das wieder aus.

Was waren das für Menschen, die ihre Heimat (z. B. 108 Grad östlicher Länge und 23 Grad nördlicher Breite) zeitweilig mit einem Aufenthalt bei uns wechselten und damit gravierende Milieuunterschiede hinnahmen? Vietnam hat eine Jahresmitteltemperatur von etwa + 25 Grad. Belgern dagegen ein Jahresmittel von ungefähr + 7 Grad. Kein Vietnamese kannte Schnee aus hautnaher Anschauung. Neun Männer waren Absolventen der zehnten Klasse, drei der neunten Klasse, ein Mann hatte die achte Klasse geschafft und sieben die siebente. Siebzehn Ehemänner stellten sich als Väter von bis zu drei Kindern vor. Fast alle kämpften als Soldat im Vietnamkrieg, manche erlitten drei oder vier Verwundungen. Zwei Hauptleuten folgten Feldwebel und einfache Soldaten. Ging man auf die Seelen der Männer ein, zeigte sich eine deutlich spürbare Sensibilität bis hin zum Weinen.

Das alles erfuhr ich nach der Einführung und Vorstellung durch den Kreisschulrat, den VHS-Direktor, den Betriebsleiter und den Technischen Leiter. Außerdem kümmerten sich noch fünf Verantwortliche bis hin zum persönlichen Betreuer um die Gäste. Von diesen Verantwortlichen des Betriebes wurde vor den Vietnamesen festgelegt, daß deren Mittagszeit zugunsten der deutschen Arbeiter auf später zu verlegen sei, was einen unpsychologischen späteren Unterrichtsbeginn nach sich zog. Mit Ausländerfeindlichkeit hat das nicht das geringste zu tun, sondern mit einer Gedankenlosigkeit. Zunächst aber wurde klar, daß zu jedem Handwerk angemessene Werkzeuge als Hilfsmittel gehören. Sprachunterricht braucht in hinreichender Zahl Wörterbücher. Vorhandene dünne Glossare boten dafür keinen Ersatz. Damals schwer zugängliche Vervielfältigungsgeräte waren zeitaufwendig und verlangten entsprechend hohe Papierreserven. Deshalb glaubte ich, mich an die dafür zuständigen Institutionen wenden zu dürfen. Sicher drängelten auch Menschen von anderer Seite her. Schließlich lagen die Wörterbücher vor.

Die Vietnamesen wollten sich für alles an ihren Festen bei den Deutschen dankbar erweisen, indem sie ein Programm einübten, ein festliches Mahl mit vietnamesischen Besonderheiten herrichteten und die Ehepartner ihrer Lehrer und Betreuer dazu einluden, von denen noch keiner vietnamesische Frühlingsrollen mit frischen Bambusspitzen gegessen hatte. Des Staunens war auch bei den anwesenden Betriebsangehörigen kein Ende. Viet hatte lange Zeit Heimatlieder eingeübt und sie mit Gitarre begleitet, Tieng sprach gefühlvoll vietnamesische Gedichte. Mucksmäuschenstill lauschte der Saal. Kiem bot mehrere Flötenvorträge auf dem selbst gefertigten Instrument. Der stille Phö, der immer das „r" mit dem „s" verwechselte, hatte von der Betriebsleitung die Genehmigung erhalten, die Wände mit eigenen Zeichnungen und Gemälden zu schmücken. Das schuf ein Flair, dem sich niemand entziehen konnte. Als der Betriebsleiter den Vietnamesen Spiele und Sportgeräte für die Freizeitbeschäftigung schenkte, baute er gleichsam eine Brücke zwischen Asien und Europa mit sichtbarem Gewinn für jede Seite.

Dann kam die Wende.

Der Anschluß der DDR an die BRD wurde zu einer Art Weltereignis, daß man in Westdeutschland nur völlig unzureichend zur Kenntnis nahm. Manche Politiker von dort wollen es jetzt kaum glauben, was durch geistig-seelische Einheit gewaltlos zu erreichen ist. Das wird an verschiedenen Symptomen sichtbar, nicht nur an der unverhältnismäßig hohen materiellen statt geistigen Rüstung. Als Beispiel dafür sei nur die Abschiebung der Vietnamesen genannt. Sie wurden nicht mehr gebraucht, sagte man jetzt und schickte sie weitgehend zurück in ihre Heimat. Tieng, der vietnamesische Sprecher, schrieb mir, man wolle sich von mir und meiner Frau verabschieden. Das war Anfang Mai. Eigenartigerweise hatte es geschneit. Die Tulpen blühten unter dem Schnee auf unserer Terrasse. Auf einmal kamen die Vietnamesen. Aber es waren keine fünf oder zehn, auch keine zwanzig, nein, alle, sogar die aus der Nachbarklasse. Die Stühle reichten nicht. Wir holten die aus dem Garten und schleppten Gartenbänke heran. Provisorische Sitze mit Kissenunterlage mußten sogar her.

Zwei Vietnamesen grillten, andere schenkten Getränke aus. Plötzlich erklang das Lied: „Immer scheine die Sonne ...", danach vietnamesischer Gesang. Mir wurden die Augen feucht, als sich jeder einzelne mit einer Umarmung von uns verabschiedete und einen Briefumschlag mit seiner vietnamesischen Anschrift hinterließ.

Heinz Weiß


1 Die von Heinz Weiß erläuterten diakritischen Zeichen lassen sich – je nach verwendetem Zeichensatz – nur teilweise darstellen und werden dann möglicherweise am Computer nicht richtig wiedergegeben.


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