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Frühsommer bis Herbst 1989
Ich lag mit Fieber im Bett. Kirschenzeit, weit und breit keine zu bekommen. Sehr, sehr ärgerlich. „Mein Gott," so dachte ich, „wir leben doch mitten im Obstanbaugebiet. Es kann doch nicht alles nach Berlin geschickt werden! Soviel können die doch gar nicht verspeisen. Dort wird die Hälfte wieder weggeworfen, und hier ist nicht eine zu haben!" Viel, viel später erfuhr ich dann, daß die für unseren Raum bestimmten Kirschen irgendwo bei Wriezen auf einem Abstellgleis verschimmelten. Zufall?
Ich arbeitete zu dieser Zeit als Diensthabende beim Stadtbezirk Berlin-Marzahn. Der Bürgermeister hatte in alle Neubauwohnungen eine Broschüre „Was, wann, wo?" legen lassen. Heute würden wir dazu sagen, die Gelben Seiten von Marzahn. Ganz vorn stand: „Wenn sie einmal nicht wissen was sie tun sollen, so wenden Sie sich vertrauensvoll an unsere Diensthabenden, die werden Ihnen helfen."
Diensthabender, das war ein 24-Stunden-Dienst. Wir mußten uns zuerst einmal informieren, welche Betriebe wo Bereitschaftsdienste hatten, Verbindung zur Volkspolizei und den Verantwortlichen des Gesundheitswesens und zu den Nachbarbezirken herstellen. Dann begannen die Telefone heißzulaufen, oder es war auch manchmal überhaupt nichts los, was sehr selten vorkam.
Nur zwei Beispiele: Was macht man, wenn ein Rollstuhlfahrer aus dem Theater kommt, der Mann im obersten Stock eines Hochhauses (12.) wohnt und beide Fahrstühle kaputt sind? Der Fahrstuhldienst teilte mir mit, daß ein Ersatzteil erst besorgt werden muß. Also schickt man den Herrn samt Ehefrau erst mal in eine Gaststätte, damit sie wenigstens sitzen konnten. Die Rechnung dessen, was verzehrt wurde, bezahlte das Rathaus. Hotels, alle besetzt. Feierabendheime, kein Zimmer frei. Krankenhäuser kamen nicht in Frage, der Mann war ja nur behindert. Pensionen, nichts frei. Also mußte wieder mal „Dein Freund und Helfer", die VP, helfen. Vier Polizisten trugen den Mann samt Rollstuhl bis zur Wohnung. Verdienten diese nicht wirklich den Titel „Freund und Helfer"?
Ein anderes Beispiel: Eine Familie hatte sich ein Häuschen gebaut. Das war in der DDR ohnehin schwer genug. Nach der Einzugsfeier hatte jemand den noch heißen Grill zu nahe am Auto in der Garage „geparkt". Das gesamte Haus brannte ab, zum Glück gab es keinen Personenschaden. Was tun? Die bisherige Wohnung war bereits wieder vergeben, dahin konnten sie nicht zurück, wäre auch ohne Möbel keine Lösung gewesen. Für solche Zwecke gab es beim Diensthabenden mehrere unterschiedlich große Wohnungen, deren Schlüssel wir vergeben konnten. Diese Wohnungen wurden entsprechend der Größe der Familie ausgewählt. Sie waren möbliert. Die Kleidung mußte ersetzt werden. Dafür stand der Familie dann für mindestens 3 Tage eine Fürsorgerin zur Seite, die mit Rat und Tat half. Ob das heute wohl auch noch möglich wäre?
Nun aber zu den weniger angenehmen Seiten dieser Tätigkeit. Ich erhielt abends gegen 19.00 Uhr einen Anruf, daß in einem Haus das Wasser ausgefallen sei. Kurz danach kamen weitere Anrufe und ich mußte feststellen, daß es mehrere Straßenzüge betraf. Der Havarie-Bereitschaftsdienst trat in Aktion. Anfangs war ich froh, daß es Abend war, weil ich glaubte, daß es sich um einen Rohrbruch handelte, der nach ein paar Stunden behoben sei. Die Rohre waren alle in Ordnung. Dann, nach einigen Suchen, wurde festgestellt, daß ein Schieber für die Wasserzuführung zum Wohngebiet geschlossen worden war. Es ist aber nun nicht leicht möglich, daß so etwas von allein entstehen kann. Da muß im wahrsten Sinn jemand dran gedreht haben. Also ein Fall für die Kriminalpolizei und die Staatssicherheit. Die war ja nicht nur da, Leute zu bespitzeln, sondern ihre Hauptaufgabe war, Schaden von der Bevölkerung abzuwenden. Abwehr von Spionage und Sabotage waren das Hauptgebiet ihrer Tätigkeit und so was lag hier wohl vor. In dieser Nacht wurden noch zwei weitere geschlossene Schieber geöffnet. Das größte Problem war, sie alle zu finden. Da Marzahn ein junger Stadtbezirk war, waren alle Bauunterlagen vorhanden und auch nachts der Zugriff gesichert. So konnte relativ schnell den Bürgern geholfen werden. Warum macht man das, dachte ich damals. Klar, wenn man die DDR beseitigen will, muß man die Leute verärgern, damit sie die richtige Wut auf den Staat kriegen. Diese Havarie gab es, als die ersten Demonstrationen vor der Thomaskirche in Leipzig stattfanden.
Ähnliche „Havarien" gab es auch noch mit dem Stadtlicht und dem Erdgas. Doch da hatten wir dann schon die nötige Erfahrung gesammelt und der Schaden für die Bevölkerung konnte relativ klein gehalten werden. Nun war mir auch klar, daß die Kirschen nicht zufällig „abhanden" gekommen waren.
Der 7. Oktober. Wir hatten Besuch, dieser war noch nie in Berlin gewesen. Also beschlossen wir am Abend zum Alex zu fahren. Nach einem Bummel hatten wir Durst und wollten ganz auf die Schnelle im Bierstübel, so hieß es, glaube ich, etwas trinken. Der Laden war voll. Trotzdem gingen wir hinein. Ich wurde „zufällig" angestoßen und blitzartig von oben nach unten abgetastet. Mir war sofort klar, wir waren in eine Gruppe der „Systemgegner" geraten. Man hielt uns für Stasi-Leute und wollte wissen, ob wir Waffen trugen. So wie mir ging es auch meinem Mann und unseren Besuchern. Ohne etwas getrunken zu haben, sind wir schnellstens gegangen. Gegenüber, im Eiskaffee, haben wir ungestört unseren Feiertag bei Wein und guter Musik gefeiert. Leider sollte es auch der letzte gewesen sein.
Am 9. November saß ich
im Rathaus und hatte Dienst. Den ganzen Abend klingelte nicht einmal das
Telefon, was selten vorkam. Alle saßen wohl am Fernseher, so wie ich auch,
oder waren auf dem Weg nach Westberlin. Mir war sofort klar, daß die Öffnung der Grenze in Berlin das Ende der DDR bedeutete.
Im Rathaus machte sich Unsicherheit breit. Keiner wußte so recht, wie es weitergehen sollte.
Unseren Bereich berührte es weniger. Wir versuchten, nach wie vor den Bürgern zu helfen. Viele Bürger, denen wir in der Vergangenheit helfen konnten, riefen uns auch zwischendurch mal an, um sich bei uns Rat zu holen. Wir kannten diese Leute nur vom Telefon her. Nun, als die Wende begann, häuften sich die Anrufe der Bürger, die hofften, daß wir bessere Informationen hätten als sie selbst. Ich weiß noch, daß mehrere Bürger sich äußerten, daß das wohl das Ende sei und begannen, sich Sorgen um ihre und die Zukunft der Kinder zu machen. Ich hatte auch Anrufer dabei, die meinten, die Armee und die Polizei sollten gewaltsam den „Umsturz" verhindern. Ich habe unzählige Diskussionen geführt, um die Bürger zur Ruhe und Besonnenheit zu ermahnen. Überall hörte ich die Zukunftsangst heraus. Der Staatsapparat und auch die Parteikreisleitung hatten aufgehört zu existieren. Formal arbeiteten sie ja noch, aber ratlos wie sie selbst waren, konnten sie den Menschen nicht nützen. Also mußten wir, die schon immer Ansprechpartner für die Bürger waren, die Arbeit übernehmen.
Bald wurde unser Bürgermeister abgesetzt und ein neuer eingesetzt. Eine der ersten Maßnahmen war, unseren Arbeitsbereich aufzulösen. Genau zum 24.12. wurde ich entlassen, so sparte das Rathaus mein Weihnachtsgeld. Ich habe das mit Humor ertragen. Ich war inzwischen älter als 55 Jahre und konnte somit in den Vorruhestand eintreten. Mir oblag dann auch, unsere Arbeitsdokumente der Vernichtung zuzuführen, denn ich war die letzte Diensthabende des Stadtbezirkes Berlin-Marzahn.
Wenige Tage später erhielt ich einen Hilferuf. Man wollte wissen, ob irgendwelche Dokumente „aufzutreiben" seien. Was war die Ursache für diesen Anruf? Die Bürger hatten sich so an unser Vorhandensein gewöhnt, daß sie den Rat des Stadtbezirkes überforderten. Die Polizei, die Teile unserer Arbeit übernommen hatte, befand sich selbst in Auflösung. Die neu eingestellten Leiter der Polizei hatten keine Ahnung von unserer Arbeit. Die Fäden, die wir zwischen den einzelnen technischen Bereichen der Gewerke und Ämter geknüpft hatten, waren gerissen.
Ich ließ die Jahre noch mal in Gedanken an mir vorüberziehen. Es gab in der DDR vieles, was mich störte. Zum Beispiel, daß Fehler, die an der Basis gemacht wurden, hart gerügt wurden. Fehler, die der Staat machte, aber nicht diskutiert wurden bzw. man als Antwort bekam: „Das verstehst du nicht, du kannst nicht alle Zusammenhänge überblicken!" Manchmal wußten wir es aber tatsächlich besser. Wurden wir doch täglich durch die Realität und die Nähe zu unseren Bürgern mit deren vielfältigen Problemen konfrontiert.
Mich störte, daß unsere Regierung mit einer Handbewegung wichtige Entscheidungen und Probleme vom Tisch fegte.
Insgesamt gesehen, überwogen aber doch die „guten Seiten" der DDR. Besonders im Gesundheits- und Sozialwesen sowie in der Bildungspolitik, und daß jeder, der arbeiten wollte, das auch konnte und keiner sich Gedanken machen mußte, wo er das tägliche Brot für sich und die Kinder herbekommen wird.
Ich bin kein Historiker und auch kein Politiker. Meine Ansicht wird deshalb umstritten sein. Ich meine, wir, die Bürger der DDR, hatten von Anfang an schlechte Karten; der Aufbau des Sozialismus auf so kleinem Territorium und mit der direkten Einflußnahme des Kapitals auf unseren Staat war wohl ein zu großes Risiko und konnte leicht scheitern. Unsere Qualitätsprodukte mußten wir auf dem Weltmarkt billig abgeben. Das Embargo, was gegen die DDR verhängt wurde, tat ein Übriges. Wir haben aber bewiesen, daß der Sozialismus keine Utopie ist.
Unsere Regierung hat mit dem Sozialprogramm übertrieben. Ich denke da nur an die Fahrpreise, Mieten und vieles andere. Ideologisch waren wir nicht in der Lage, den Bürgern den Sozialismus richtig zu erklären. Sonst hätte es nicht geschehen können, daß viele Bürger glaubten, daß sie mit dem Wechsel zur freien Marktwirtschaft die DM gewinnen und alle anderen Vergünstigungen der DDR behalten könnten. Das Erwachen war für viele Bürger mehr als bitter, vielfach existenzbedrohend. Vielleicht war unsere Regierung auch nicht wendig genug, um zu gegebener Zeit einen Richtungswechsel zu vollziehen.
Wenn ich mir aber den heutigen Bundestag so ansehe ... Es ist ja auch nur eine Schwatzbude, am Ende einer Sitzung kommt nichts Gescheites heraus. Die Regierung der DDR lebte, so glaube ich, bescheidener. Und das Volk ...? Jedenfalls mußte keiner unter Brücken schlafen! Aber das, lieber Leser, ist eigentlich schon wieder eine neue Geschichte.
Christa
Nikusch
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