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So habe ich den Niedergang der DDR erlebt

Am Ende des Zweiten Weltkrieges, im Jahre 1945, haben uns die Nazidiktatur und das expansive deutsche Kapital ein verwüstetes, besetztes und geteiltes Land, in dem unbeschreibliche Not und Elend herrschte, hinterlassen. Ich setzte mich, wie die meisten jungen Menschen damals, mit meiner ganzen Kraft für den Aufbau einer neuen demokratischen und friedliebenden Gesellschaftsordnung ein. Wir arbeiteten, lernten und taten alles dafür, damit sich eine solche Katastrophe niemals wiederholt. Nie wieder Bomben, nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus - das waren unsere Losungen.

Wer heute versucht, die Nazidiktatur, das verbrecherischste System des zwanzigsten Jahrhunderts, das ganz Europa in Schutt und Asche legte, Millionen und Abermillionen Menschen in den Tod trieb, auch in Gaskammern umbrachte, und bewirkte, daß Millionen Deutsche aus ihrer Heimat vertrieben wurden, mit der in der DDR herrschenden Ordnung zu vergleichen, treibt eine ganz gemeine und dumme Geschichtsfälschung. Wer das bewußt tut, verharmlost die Naziverbrechen und diskriminiert die DDR auf das Bösartigste.

Die Gründung und der Verlauf des Entstehens der DDR waren aus meiner Sicht eine unausweichliche Folge der damaligen politischen Lage. Sie war zunächst eine Notgeburt. Wir alle hofften auf ein friedliches geeintes Deutschland ohne Besatzungsmächte. Wir waren alle sehr traurig, als im Westen eine eigene Währung und ein separater Staat geschaffen wurden. Man hatte uns allein gelassen. Also bauten wir einen eigenen Staat auf - unter den bekannten Schwierigkeiten. In unserer Not und auf Druck der Sowjetunion übernahmen wir das sowjetische Sozialismusmodell, auch das Modell der Volksdemokratien in den östlichen Ländern, obwohl es bei uns viele andere Ideen und Gedanken gab. Die DDR war, nach meiner Meinung, zu keiner Zeit politisch, materiell und finanziell ohne fremde Hilfe lebensfähig, trotz aller unbestreitbaren Aufbauerfolge.

Für uns junge Menschen waren damals in unserem Teil Deutschlands als Ergebnis dieser Erfolge die Bedingungen für eine freie persönliche Entwicklung besonders gut. Bereits in den sechziger Jahren hatten sich meine wichtigsten Jugendträume erfüllt. Ich hatte den Facharbeiterbrief als Dreher in der Tasche, erfolgreich ein Ingenieurstudium für Maschinenbau und Elektrotechnik abgeschlossen und ein Hochschulstudium begonnen. Auch familiär ging es mir gut. Wir hatten uns mit unserer Arbeiter-Wohnungsbau-Genossenschaft eine schöne 3-Raum-Neubauwohnung geschaffen und waren stolz auf unseren Trabbi, mit dem wir nicht nur durch unser Land kutschten, sondern auch viele Auslandsreisen unternahmen. Wir konnten uns jedes Jahr mit unseren beiden Kindern einen interessanten Urlaub leisten, da wir ja beide arbeiteten. Ich hatte immer das Gefühl, daß wir in unserem Staat sicher leben können, und auch für unsere Kinder würde es eine gute Zukunft geben. So wie ich waren die meisten Menschen, trotz mancher Ärgernisse und Mängel, optimistisch und fest davon überzeugt, daß nach der geschichtlichen Erfahrung und kraft der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung nur dem Sozialismus die Zukunft gehört. Ich war mir mit meinen Kollegen und Bekannten immer einig darüber, daß der Sozialismus eine echte Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft ist und bleiben wird. Dabei diskutierten wir darüber, welche Probleme gelöst werden müssen, um dem Sozialismus zum Durchbruch zu verhelfen und die Bedürfnisse der Menschen besser zu befriedigen. Wir waren uns einig, daß die Wunsche der Menschen nur durch höhere Arbeitsproduktivität, größere Effektivität der eigenen Arbeit und Ausnutzen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts erfüllt werden können. Durch die Verstaatlichung der Banken und Versicherungen und die Überführung der wichtigsten Betriebe in Volkseigentum, sowie die Bildung von Kombinaten, die Konzentration von Forschung und Entwicklung und die größere Eigenständigkeit der Betriebe waren - nach meiner Auffassung - damals gute Voraussetzungen vorhanden. Ich war fest davon überzeugt, daß wir über die kapitalistische Gesellschaftsordnung siegen wurden.

Unserem Land ging es Anfang der siebziger Jahre gut. Wir hatten keine Schulden. Durch Kompromißbereitschaft gab es auch Erfolge in der Friedenspolitik und erste Ansätze einer besseren Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben zunehmend unser Leben im Betrieb und Wohngebiet selbst gestaltet. Die Parteien, die Gewerkschaft, der Jugendverband, die Vereine, die Handwerker, Bauern und Intelligenz zogen gemeinsam an einem Strang. Stabile Preise, neue Wohnungen, Fünf-Tage-Woche, ein besseres Angebot in den Geschäften, die Bildungs- und Freizeitmöglichkeiten haben diesen Prozeß gefördert. Ob nun im Kindergarten, in der Schule oder im Betrieb - jeder, der wollte, konnte jeden Tag eine sehr billige warme Mahlzeit einnehmen. Auch die älteren Bürger hatten diese Möglichkeit. Ich glaube, daß damals die Partei- und Staatsführung eine gute Politik gemacht hat. Walter Ulbricht hatte mit seinen interessanten Ideen im sozialistischen Lager für Aufmerksamkeit gesorgt. Wir haben nur das verbraucht, was wir erarbeitet hatten und dabei sogar ein bißchen für die Zukunft gespart.

Die Leistung der Menschen im Osten kann man nicht hoch genug bewerten. Nach 1945 wurden wir von der westlichen Kohle, von Koks, Stahl, Energie, der Autoindustrie - vor allem vom Ruhrgebiet - abgeschnitten. Dazu kam das Handelsembargo, zeitweiliger Abbruch von Handelsbeziehungen und vieles mehr. Auch mit dem Verlust der Gebiete östlich von Oder und Neiße verloren wir wichtige Potenzen der Energie- und Rohstoffversorgung sowie der landwirtschaftlichen Produktion. Die Alliierten einigten sich darauf, daß jede Besatzungsmacht die Reparationsleistungen aus ihrem besetzten Gebiet entnimmt. Da aufgrund der dort von den Nazis angerichteten riesigen Schaden die meisten Forderungen aus der Sowjetunion und den östlichen Ländern kamen, hatten die Menschen im Osten die Hauptlast der Wiedergutmachung zu tragen. Ich erlebte es, wie viele Betriebe demontiert und das zweite Gleis der Bahn sowie die elektrischen Oberleitungen abgebaut wurden. Bis 1953 arbeiteten wir in unserem Betrieb hauptsachlich für die Wiedergutmachung. Nach Berechnungen von westlichen Experten hat die DDR Reparationsleistungen in Hohe von 90 Milliarden Mark (nach Preisen von 1936) erbracht. Die Bundesrepublik hat kaum ein Zehntel dieser Summe aufbringen müssen. Dazu kam die Marschallplanhilfe der westlichen Länder für die BRD. Damit hatten wir - nach meiner Meinung - sehr unterschiedliche Startbedingungen. Die Menschen hier im Osten haben unter großen Entbehrungen eine eigene Wirtschaftsgrundlage geschaffen. Die Grundstoffindustrie wie z. B. die Stahlproduktion, die Energiewirtschaft und die Chemieindustrie wurden in schnellem Tempo ausgebaut bzw. neu geschaffen. In der Landwirtschaft wurde erfolgreich der Weg der genossenschaftlichen Produktion beschritten. Wir beteiligten uns am Bau der Erdöl- und Gastrassen bis nach Sibirien, die noch heute dem vereinten Deutschland zugute kommen. Das Verkehrswesen, besonders die Hafen an der Ostsee, wurde planmäßig ausgebaut. Die größten Leistungen aber vollbrachte die DDR auf dem Gebiet des Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesens. Keiner hat uns außer guten Ratschlagen etwas geschenkt.

Als Erich Honecker nach Walter Ulbrichts Rücktritt im Mai 1971 zum 1. Sekretär des ZK der SED gewählt wurde, hat er nach meiner Auffassung einen stabilen und schuldenfreien Staat übernommen. Persönlich war ich froh, daß dieser Machtwechsel sich ohne großen politischen Krach vollzog, obwohl es darüber einige Gerüchte gab. Erich Honecker versprach damals, alles zu tun für das Wohl des Volkes, wobei er nach meiner Einsicht gute Lebenserfahrungen aber wenig Führungsqualitäten besaß. An den Beschlüssen des VIII. Parteitages war für mich erkennbar, daß er seine Aufgabe sehr ernst nahm. Ich war, wie die meisten Bürger der DDR, fest davon überzeugt, daß wir uns mit diesem Mann eine gute Zukunft gestalten können - wenn mir auch einige Bemerkungen in seinen damaligen Reden nicht ganz gefallen haben. So sagte er z. B. sinngemäß, daß wir erst jetzt den Sozialismus genießen konnten. Ich vertrat in meinem Leben immer die Auffassung, daß wir nur das verbrauchen können, was wir täglich aufs Neue erarbeiten.

Ende 1970 wurde ich zum Stellvertreter des Vorsitzenden des Bezirkskomitees der Arbeiter-und-Bauerninspektion (ABI) in Magdeburg berufen und vier Jahre später zum Vorsitzenden. Der damalige Erste Sekretär der Bezirksleitung der SED hatte volles Vertrauen zu mir und setzte sich bei meiner Berufung durch, obwohl ich Westverwandtschaft hatte.

In dieser Funktion wurde ich zunehmend stärker mit den Problemen der Wirtschaft und den Sorgen und Nöten der Bevölkerung konfrontiert. Durch gezielte Kontrollen auf dem Gebiet der Materialwirtschaft, den Zulieferungen, des Energieverbrauches, der Versorgung der Bevölkerung mit Waren des täglichen Bedarfs, der Dienstleistungen und der Wohnungsvergabepolitik sowie mittels der Bearbeitung von Eingaben haben wir damals um die Planerfüllung und die Realisierung von Beschlüssen regelrecht gekämpft. Mitte der siebziger Jahre wurde schon sichtbar, daß wir uns übernommen hatten. Viele Betriebe konnten die Pläne nicht allseitig erfüllen und in der Versorgung der Bevölkerung traten erste Lucken auf. Nach meiner Auffassung hatten die Schwierigkeiten in den siebziger Jahren ihre Ursache in der unproportionalen Entwicklung der Volkswirtschaft. Die Finalproduktion wurde mit der Bildung der Kombinate weiter extensiv ausgebaut und die Zulieferindustrie blieb zurück. Es fehlten Gußerzeugnisse, Getriebe, Schaltschränke, Armaturen, Steuereinrichtungen, Normteile und vieles mehr. Durch die spontane Zuordnung von Betrieben zu Kombinaten kam es zu Produktionsverlagerungen bzw. -einstellungen, was verheerende Auswirkungen hatte. Auch die Überführung der halbstaatlichen Betriebe in Volkseigentum brachte anfangs große Schwierigkeiten - insbesondere in der Konsumgüterproduktion. Die jährlichen Akkumulationsraten fielen unter 20 Prozent, im produzierenden Bereich sogar teilweise unter 10 Prozent. Manche Betriebe bekamen jahrelang keine Investitionen. Die Arbeitsproduktivität blieb hinter dem Weltniveau zurück. Der geplante Gewinn wurde nicht erwirtschaftet. Die Plane mußten in vielen Bereichen nach unten korrigiert werden, damit man sie überhaupt erfüllen konnte. Andererseits wurden immer neue sozialpolitische Maßnahmen beschlossen, die kaum gedeckt waren. Natürlich freuten wir uns über diese großzügigen Maßnahmen wie z. B. Arbeitszeitverkürzungen, mehr Urlaub, Lohn- und Rentenerhöhungen, Jahresendprämien, Verlängerung der Freistellung bei Geburt von Kindern, Förderung kinderreicher und junger Familien. Jeder der es wünschte, bekam für seine Kinder Krippen- oder Kindergartenplätze. Dazu kam ein großzügiges Wohnungsbauprogramm mit Millionen neuer Wohnungen, andererseits verfiel die vorhandene Bausubstanz. Stabile Preise bei Konsumgütern, Grundnahrungsmitteln und Dienstleistungen waren unverrückbarer Grundsatz. Für jeden Bürger waren die Aufwendungen für Grundbedürfnisse einschließlich Bildung, Kultur, Freizeit, Erholung und Sport erschwinglich. Ein Krankenhausplatz kostete in unserem Bezirk pro Tag 235 Mark, von denen der Patient keinen Pfennig bezahlen mußte. Ein Kindergartenplatz kostete 2.166 Mark und ein Krippenplatz 4.730 Mark pro Kind und Jahr. Nur beim Krippenplatz mußten 27,50 Mark monatlich zugezahlt werden. Ein Pflegeheimplatz kostete jährlich 7.459 Mark, dazubezahlt werden mußten monatlich nur 105 bis 120 Mark. Das Mittagessen für Schüler kostete im Durchschnitt 1,98 Mark pro Portion. Der Schüler bezahlte nur 55 Pfennig. Bedürftige wurden von der Zahlung freigestellt. Unverständlich war für mich das sture Festhalten an stabilen Preisen für Dienstleistungen, die nicht zum Grundbedarf gehörten. Oder solche Beispiele: Eine Straßenbahnfahrt in Magdeburg kostete 15 Pfennig, der Staat schoß 60 Pfennig pro Fahrt zu. Ein 1,5-kg-Brot kostete nur 78 Pfenning. Mit solchen Preisen verlor vieles an Wert. Brot landete manchmal in der Mülltonne oder wurde verfüttert. Die Aufkaufpreise für Obst und Gemüse waren höher als die Verkaufspreise im Laden. Damit wurden ökonomische Gesetze des sozialistischen Wirtschaftens grob verletzt. Gezielte Hinweise, die ich in meiner Funktion an die Partei- und Staatsführung gab, wurden kaum beachtet. Milliarden mußten für Subventionen aufgewendet werden, hinter denen kaum eine Leistung stand. Die Nettogeldeinnahmen der Bevölkerung stiegen schneller als die Konsumgüterproduktion -und damit auch die Spareinlagen, die durch den Staat gut verzinst wurden. In den siebziger Jahren wurde diese Fehlentwicklung noch dadurch verschärft, daß die Weltmarktpreise stiegen. Der Preis für Erdöl verzehnfachte sich, die Preise für Baumwolle, Kaffee, Kakao, Metalle und viele andere Rohstoffe verteuerten sich, was auf unsere Wirtschaftslage extreme Auswirkungen hatte. Wir mußten Schulden machen, um unser Lebensniveau zu halten. Die Rückzahlung der Schulden bzw. die Bedienung der Zinsen zwang uns, alles, was irgend möglich war, zu schlechten Devisenerlösen zu exportieren - Maschinen, Konsumgüter, Halbfabrikate und auch Erzeugnisse der Landwirtschaft. Wir wurden erpreßbar, und viele dieser Produkte fehlten für die Rationalisierung und Modernisierung unserer eigenen Wirtschaft bzw. für die Versorgung der Bevölkerung. Durch die militärischen Verpflichtungen im Warschauer Vertrag, die Grenzsicherung und ein überhöhtes Sicherheitsbedürfnis wurden gut ausgebildete Kräfte für die Verteidigung eingesetzt. Das kostete nicht nur Geld, sondern die dringend benötigten Arbeitskräfte fehlten im produzierenden Bereich.

Oft haben sich die Bürger und Leiter von Betrieben an mich als Vorsitzenden der ABI gewendet und um Hilfe gebeten. Jährlich erhielten wir im Bezirk Magdeburg bis zu 1.500 Eingaben. Dazu kamen ca. 1.000 Zuschriften mit Vorschlägen und Hinweisen. Ich betrachtete diese Eingaben als einen Vertrauensbeweis der Bevölkerung zur ABI, als einen Ausdruck der sozialistischen Demokratie und als Fundgrube für das Bestimmen von Schwerpunkten unserer Kontrollarbeit. 83 Prozent dieser Eingaben waren voll berechtigt, denn durch herzloses Verhalten oder Nichtausschöpfung der gesetzlichen Möglichkeiten wurde oft zu Ungunsten der Bürger entschieden. Durch Gespräche mit den zuständigen Leitern, durch Hinweise auf Gesetze und Beschlüsse und mit viel gutem Willen haben wir fast immer eine Lösung gefunden. In den achtziger Jahren wurden die Kontrollen immer schwieriger und bei den Leitern sowie im Partei- und Staatsapparat immer unbeliebter. Wir waren ein relativ unabhängiges Kontrollorgan. Die Berichte, in denen ohne Ansehen der Person versucht wurde, die Lage objektiv darzustellen, gingen ohne Zensur an alle Leiter der kontrollierten Betriebe, Einrichtungen, an die zuständigen Ersten Sekretäre der Parteiorganisationen, Ratsvorsitzenden und an die Zentrale nach Berlin. Das gab natürlich oft Ärger. So kontrollierten wir z. B. die Reparatur von elektrischen Haushaltsgeräten im Bezirk Magdeburg. Laut Meldung des zuständigen Leiters dauerte die Reparatur durchschnittlich 10 bis 15 Tage. Diese Meldung war falsch, sie bezog nur die Geräte ein, die tatsächlich repariert wurden. Diejenigen, für die Ersatzteile fehlten, wurden erst gar nicht angenommen bzw. als Staugeräte bezeichnet. Das führte dazu, daß am Tage der Kontrollen beim Haushaltsgeräteservice 87 Fernsehgeräte, 1.792 Waschmaschinen, 715 Schleudern, 257 Kühlschränke, 357 Staubsauger und 860 Kaffeemaschinen nicht repariert werden konnten. Die Menschen waren darüber verärgert, daß in den Zeitungen oft über Erfolge berichtet wurde, aber die Realität ganz anders aussah. Diese Tendenz wurde zunehmend in vielen Bereichen sichtbar, so z. B. bei Friseurleistungen. Durch zentrale Beschlüsse wurde das Handwerk besonders gefördert, aber die Überprüfung in 440 Städten und Gemeinden unseres Bezirkes ergab, daß in 204 Orten überhaupt keine Friseurleistungen mehr angeboten wurden. Auch bei Kontrollen zur Fertigstellung von Wohnungen wurden immer öfter falsche Berichte festgestellt. So wurden Wohnungen, die wegen Qualitätsmängeln oder Nichtfertigstellung von den Rechtsträgern nicht übernommen werden konnten, als Planerfüllung abgerechnet, um im Bezirksvergleich gut dazustehen. Im Neuererwesen, das als gute Möglichkeit für das Mitwirken der Werktätigen galt, gab es oft Zahlenhascherei. Nur ca. 30 Prozent der kontrollierten Betriebe konnten auf eine gute Neuererarbeit verweisen. Bei Preiskontrollen gab es immer wieder ernste Verstöße in den Gaststätten und Verkaufsstellen. Bei der Überprüfung von 258 Gaststätten hatten nur 23 Prozent eine gute Arbeit geleistet. Von 138 gezogenen Kaffeeproben waren 46 verfälscht. 30 Prozent der Kalkulationen für Speisen waren zugunsten der Gaststätte manipuliert. In 97 Gaststätten gab es erhebliche Verstöße gegen hygienische Bestimmungen. Ernste Sorgen bestanden bei der Versorgung mit Fleisch und Wurstwaren. 1987 überprüften wir 274 Fleischverkaufsstellen. Nur 48 Prozent hatten das erforderliche Sortiment. In der Bezirksstadt und den Kreisstädten gab es noch ein gutes Angebot, aber in vielen Dörfern war es schlecht. Die Bestellung und Lieferung klappte nicht. Das Sortiment wurde nicht eingehalten. Die staatlichen Organe, insbesondere die Ratsvorsitzenden persönlich, kümmerten sich um die Versorgungsprobleme. Die Fleisch- und Gemüseversorgung bekamen wir auf die Dauer nach Qualität und Sortiment einfach nicht in den Griff. Wir hatten eine vorbildliche Landwirtschaft mit hoher Produktivität. Aber aufgrund der Lage mußten wir oft das Beste aus dem Bezirk exportieren. Es gab manchmal eine Überproduktion bei Fleisch, Obst, Gemüse, Tomaten, Gurken, Kartoffeln usw. Durch das Fehlen der zweiten Verarbeitungsstufe und wirksamer Vermarktungsstrukturen wurden diese Erzeugnisse nicht immer qualitätsgerecht versorgungswirksam. Die Menschen konnten nicht verstehen, daß wir eine hohe landwirtschaftliche Produktion hatten, aber z. B. Ketchup, Pommes frites oder Pflaumenmus nur unter dem Ladentisch gehandelt wurden. Gemüse und Obst wurden oft in schlechter Qualität und nicht sortimentsgerecht angeboten.

Im Ergebnis der Kontrollen waren die meisten Leiter und staatlichen Organe sehr bemuht, die Mängel zu überwinden, was aber aus subjektiven wie objektiven Gründen nicht immer gelang.

In den bewegten achtziger Jahren wurden unsere Kontrollergebnisse von leitenden Leuten nicht eben gern gesehen. Zeitweilig versuchte man sogar, die Kontrollen zu verbieten bzw. zu verhindern. Ich wurde manchmal als Nestbeschmutzer beschimpft. Besonders zu spüren bekam ich solche Haltungen bei der Kontrolle zur Versorgung der Bevölkerung mit Ersatzteilen für Pkw. In unserem Bericht war z. B. fein säuberlich aufgelistet, wie viele Pkw im Bezirk durch das Fehlen von Frontscheiben, Auspuffanlagen, Kupplungen, Getrieben usw. stillstanden. In Zusammenarbeit mit den staatlichen Organen und Betrieben legten wir auch eine Reihe von Vorschlägen auf den Tisch, wie man das andern könne. Als ich diesen Bericht im Sekretariat der Bezirksleitung der SED vortrug, machte ich einleitend die Bemerkung, wir mußten davon ausgehen, daß das Auto inzwischen zum Lieblingsspielzeug des DDR-Bürgers geworden sei. Plötzlich stand nicht mehr der Bericht mit seinen Problemen im Mittelpunkt des Interesses, sondern diese meine Bemerkung. Einzelne Sekretariatsmitglieder waren der Ansicht, daß die Bezeichnung des Autos als „Spielzeug" aus dem Westen käme und ich also schon der westlichen Ideologie verfallen wäre. Unser Erster Sekretär, es war damals Genosse Werner Eberlein, ein sehr aufrichtiger Mann, hörte sich das eine Weile an, dann griff er in die Debatte ein. Er empfahl, daß sich diese einzelnen Mitglieder des Sekretariats um ihre eigene Arbeit kümmern und nicht eine solche nutzlose Diskussion fuhren sollten. Der Bericht wurde mit einigen Ergänzungen bestätigt. Es gab eine Sensation: unser Bericht kam bei Herrn Mittag im Politbüro der SED unverfälscht an. Er wurde dann im Wirtschaftsausschuß der Volkskammer behandelt und die Beratung durch das Fernsehen übertragen. Ich war stolz darauf, daß endlich aufgrund eines Berichtes von unten Maßnahmen eingeleitet wurden. Bei der nächsten Dienstberatung sprach ich meinen Minister darauf an. Der brachte mich wieder auf den Boden der Realität zurück, indem er mir erzahlte, wie es wirklich abgelaufen war. Herr Mittag hatte etwas ganz anderes gesagt, als im Fernsehen berichtet wurde. Er nahm - angeblich - unseren Bericht in die Hand, sagte: „Mir liegt hier ein Bericht der ABI zur Versorgung mit Pkw-Ersatzteilen vor. Lösen können wir diese Probleme sowieso nicht." Darauf legte er den Bericht zur Seite und ging zum nächsten Tagesordnungspunkt über. So wurde von einzelnen Funktionären mit den Sorgen und Noten der Menschen umgegangen.

Wir hatten im Bezirk 21.000 ehrenamtliche Volkskontrolleure, die eine gute Arbeit leisteten und mit ehrlichem Herzen dabei waren, das Leben in unserem Lande zu verbessern und Plane sowie Beschlüsse zu erfüllen. Dennoch bekam ich oft Dresche. Wir waren verpflichtet, unsere Kontrollen öffentlich auszuwerten. Dazu nutzten wir besonders unsere Bezirkszeitung „Die Volksstimme", die natürlich auch den westlichen Zeitungsmachern zugänglich war. So wurden unsere Mitteilungen von der Westpresse für Schlagzeilen genutzt, wie z. B.: „Das größte Wohnungsbauprogramm in der DDR! Doch das System ist nicht fähig, die fertiggestellten Wohnungen qualitätsgerecht der Bevölkerung zu übergeben." Oder: „Die modernste Brauerei nach Kuba, aber mit Haarschneiden haben sie Probleme." Zu den ausführlichen Berichten über unsere Preiskontrollen gab es folgende Schlagzeile (mit anschließendem Text aus unserer Information): „Im Westen steigen die Preise - im Osten wird betrogen!" Die Politbüromitglieder und Ersten Sekretäre der Bezirksleitungen lasen natürlich auch die Westpresse bzw. erhielten besondere Artikel daraus vorgelegt. Dann wurde mein Minister Albert Stief angerufen oder zum Politbüro bestellt und bekam sein Fett weg, was er aber sehr sachlich an mich weiterreichte. Dabei sagte er immer: „Diese Kritik mußt du schon ertragen. Das liegt in deiner Gehaltsstufe. Solltest du mal stolpern, werden wir dich schon auffangen." Auch mein Erster Sekretär der Bezirksleitung Werner Eberlein behandelte mich nach solchen Attacken sehr kameradschaftlich. Er war der Meinung: „Das war richtig so! Erfolge melden viele. Du mußt das auf den Tisch legen, was die Menschen bewegt. Mach weiter so!"

Wer sich aber der Linie der Partei, insbesondere der von Herrn Mittag, nicht beugte und die Realitäten zur Sprache brachte, wurde nicht gehört oder scharf kritisiert. Etliche haben dabei ihre Funktionen verloren - wie etwa der Generaldirektor des Kombinates Ostra-Hydraulik und mehrere Fachdirektoren der Kombinate. Die Berichterstattungen in den Medien und auch die Berichte von Mittag verschwiegen die wirklichen Probleme und rückten fragwürdige „Erfolge" in den Vordergrund. Wahrheiten wurden dem Volk immer weniger gesagt.

1989 spitzten sich die Widersprüche zwischen den Erfahrungen der Burger im realen Lebensalltag und dessen Darstellung in den Medien extrem zu, und die westlichen Medien, die ja über den Äther jedem zugänglich waren, hieben nach Kräften in die offenen Wunden.

Herr Honecker und die alten Herren des Politbüros glaubten im Sinne der Berichterstattung gern, daß im Lande alles in Ordnung sei.. In dieser Situation wurden immer mehr Entscheidungen ins Politbüro zentralisiert. Nach meiner Auffassung suchte unser Generalsekretär seine Erfolge hauptsächlich in der Außenpolitik; Kurt Hager gab die Richtung für die Ideologie, Margot Honecker bestimmte die Schwerpunkte auf dem Gebiet der Bildung, Joachim Hermann lenkte die Medien und Erich Mielke kommandierte die Sicherheitspolitik. Günter Mittag dirigierte nicht nur immer hektischer die Wirtschaft, sondern auch während Honeckers Krankheit als sein Vertreter das Ganze. Die anderen Politbüromitglieder und Minister hatten kaum noch etwas zu sagen.

Um unseren Lebensstandard zu halten, wurden im Westen weiter Kredite aufgenommen, die wir nur schwer zurückzahlen konnten.. Um die Zinsen zu bedienen und Rückzahlungen zu sichern, wurde weiter alles verscherbelt, was nur möglich war. Neue Kredite mußten aufgenommen werden, um alte zu bedienen.

(Wir waren trotzdem bis zum Schluß zahlungsfähig. Die Pro-Kopf-Verschuldung lag in der DDR weit niedriger als in der BRD. Soweit mir bekannt ist, ging im Bezirk Magdeburg keine einzige Kommune mit einer Mark Schulden in die Einheit.).

Die staatliche Plankommission und der Staatsapparat auf allen seinen Ebenen waren kaum noch Planer und Organisatoren, sondern wurden zu Mangelverwaltern degradiert. Mal fehlte es an Tassen und Geschirr, dann wieder mal an Bettwäsche, Bekleidung oder Fleisch. Generell fehlte es an hochwertigen Konsumgütern, Rohstoffen und Zulieferungen für die Industrie bis hin zu Autoersatzteilen. Durch spontane Importe wurden diese Lücken zeitweilig überwunden. So z. B. wurden Fernsehgeräte und Pkw aus Japan, VW-Golfs und Bekleidung aus der BRD oder anderen westlichen Ländern importiert. Damit wurde die Bevölkerung wieder beruhigt. Auch Zulieferungen für die Industrie und Futtermittel für die Tierproduktion zur Überwindung von Engpässen wurden importiert Doch alles hatte seinen Preis und mußte bezahlt werden. Die Schuldenfalle klappte immer weiter zu. Das alles wirkte sich negativ auf die Be triebe und zeitweilig auch auf die Versorgung der Bevölkerung aus - und damit auch auf die Stimmung und Meinung des Volkes. Die Eigenverantwortung der Betriebe und Kombinate wurde durch Konzentration der Entscheidungen in der Zentrale im mer mehr eingeschränkt. Das Volkseigentum entwickelte sich zum Staatseigentum, was durch einen immer kleineren Kreis von Funktionären dirigiert wurde. Die Belegschaften wurden weitestgehend von der Mitbestimmung ausgeschaltet, was bei vielen Arbeitern zur Gleichgültigkeit und Resignation führte. Dieser autoritäre zentralistische Entscheidungsstil setzte sich bis nach unten durch. Die Parteiapparate gängelten immer mehr die Betriebe und vor allem den Staatsapparat. Einzelne Funktionäre, aber auch einfache Arbeiter, kümmerten sich mehr um ihre Privatsachen als um die eingetretene Lage bzw. um die Sorgen der Menschen. Das zart gewachsene Pflänzchen der sozialistischen Demokratie wurde immer weiter zertrampelt.

Einerseits wurde die Rolle der Arbeiterklasse als revolutionärem Teil der Gesell schaft oft überbetont, andererseits horte man immer weniger auf die Kritiken der arbeitenden Menschen. In den Grundorganisationen der SED, den Gewerkschaftsversammlungen und Kollektiven wurde die eingetretene Lage offen und ehrlich diskutiert. Viele Funktionäre stellten sich auch den berechtigten Kritiken Doch das meiste endete am Werktor. Die Leitungen verhinderten nach Kräften, daß kritische Bemerkungen der Belegschaft oder Mängel im Betrieb nach „oben" weitergegeben wurden. Die Betriebs- und Kombinatsleitungen wollten nicht von übergeordneten Leitungsebenen kritisiert werden. Denn dann kamen als Antwort auf ehrliche Berichte von „oben" auch Arbeitsgruppen, die die Leitungstätigkeit überprüften und die Ursachen der Kritiken analysierten, was zu unangenehmen Auseinandersetzungen führte. Es lebte sich einfach ruhiger, wenn die Sorgen und Mangel gefiltert das Werktor verließen und die Schuld auf andere geschoben werden konnte. In einigen Apparaten der Kreis- und Bezirksleitungen, aber auch in der Zentrale sah man es lieber, wenn als Antwort auf wichtige Beschlüsse des Politbüros oder weitere sozialpolitische Maßnahmen von den Belegschaften Briefe kamen, in denen sie sich für die kluge und weitsichtige Politik der Partei und des Generalsekretärs an der Spitze bedankten. Wenn solche Briefe nicht von selbst kamen, wurden sie von den Apparaten organisiert, die damit auf sich aufmerksam machen wollten. In dieser bedrückenden Atmosphäre begann das Volk zu schweigen und machte sich seine eigenen Gedanken. Der Generalsekretär und das Politbüro glaubten, im Lande sei Ruhe. Doch der Schein trog.

Als alles unerträglich wurde, hefteten sich viele Menschen ein grünes Schleifchen an ihr Revers und gingen auf die Straße. Wir waren alle überrascht, aber die Parteispitze schwieg weiter. Es waren keineswegs alle, die da auf die Straße gingen, unsere Feinde. Sie wollten nur eine bessere DDR. Sie wollten mitreden, mehr mitgestalten und reisen können - auch ins westliche Ausland. Als bald Zehntausende die DDR verließen, kam es zu der Äußerung aus dem Politbüro „Denen weinen wir keine Trane nach!". Diese Arroganz der Macht beschleunigte den Untergang der DDR. Die westlichen Medien nutzten das Schweigen der Parteiführung und verstärkten ihren Einfluß. Meine wichtigste Schlußfolgerung aus alledem Zur Demokratie, auch in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, gibt es keine Alternative!

Der Niedergang der DDR hatte viele Ursachen. Darüber konnte man tagelang streiten. Eine ganz wesentliche sehe ich darin: Die Sowjetunion, die kraft ihrer Geschichte, Größe und Machtposition im sozialistischen Lager den Führungsanspruch erhob, ist ihrer historischen Aufgabe nicht gerecht geworden. Sie hat uns schlecht geführt. Das Grundgesetz des Sozialismus, durch ständige Steigerung der Produktion eine bessere Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen zu erreichen, wurde verletzt. Es gelang unserer Führungsmacht immer weniger, das sozialistische Lager zum einheitlichen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Handeln zu bewegen. Initiativen anderer sozialistischer Länder und die Kritiken der Menschen wurden nicht ernst genommen. Immer mehr Länder versuchten, ihren eigenen Weg zu gehen Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe wurde in den letzten Jahren seiner Aufgabenstellung nicht mehr gerecht. Die hervorragenden Ergebnisse bei der Waffentechnik und Weltraumfahrt konnten für die zivile Wirtschaft nicht wirksam gemacht werden. Der Kalte Krieg, die unterschiedlichen Kulturen und Ausgangsbedingungen der einzelnen Völker, die ökonomische Übermacht der kapitalistischen Länder unter Führung der USA, die aufgezwungene Hochrüstung und der Krieg in Afghanistan führten dazu, daß das Mutterland des Sozialismus, die Sowjetunion, selbst krank wurde. Es ist uns wie auch den anderen sozialistischen Ländern unter der Führung der Sowjetunion nicht gelungen, die Vorzüge und Möglichkeiten des real existierenden Sozialismus für die Menschen sinnfällig zu machen, ihn als überzeugende, praktisch erlebbare Alternative zur kapitalistischen Ordnung in das gemeinsame Haus Europa einzubringen. So wurde der Arbeiterbewegung der ganzen Welt großer Schaden zugefügt.

Die Politbüromitglieder in Moskau wie in Berlin wurden immer älter und sprachloser. Sie hielten wie der Papst in Rom an ihren Funktionen lebenslänglich fest. Erst mit der Wahl von Michail Gorbatschow erwachte das sozialistische Lager kurzzeitig noch einmal aus seiner Stagnation. Bei uns hatten viele Menschen, ein erheblicher Teil der SED-Genossen und auch ich auf diesen Mann gesetzt und verfolgten seine Aktivitäten mit großen Hoffnungen. In seinen Reden steckte soviel Wahrheit, Überzeugungskraft und Aufbruchstimmung. Endlich war der Mann da, der versuchte, das sozialistische Lager zu führen. Doch bald entpuppten sich seine Reden, Meinungen und Standpunkte als hohle Phrasen. Er hatte zwar die meisten Mängel richtig angesprochen, aber ihm fehlten die Führungsqualitäten und ein produktives Umfeld. Er vermochte es nicht, das, was er sagte und forderte, in angemessene Beschlüsse zu fassen und diese in zielgerichteter Führungsarbeit zu verwirklichen. Unter den Vorzeichen von Perestroika und Glasnost brachen alle bisher unterdrückten und schwelenden Widerspruche und Konflikte offen aus, ohne daß sie zu sozialistischen Losungen hätten geführt werden können. Die Sowjetunion wurde immer kränker, wozu auch der eingefahrene zentralistisch bürokratische Filz in Politik und Wirtschaft, überhöhte Sicherheitsmaßnahmen, die fortgesetzte Hochrüstung, Alleingänge in der Außenpolitik und Zugeständnisse ohne Gegenleistungen beitrugen. Zum Schluß war die Sowjetmacht froh, daß sie vom Westen Kredite und Versorgungshilfe bekam. Der Rückzug der sowjetischen Truppen aus der DDR wurde zum Teil von der BRD bezahlt. Schon 1985 war, nach meiner Auffassung, die Sowjetunion bereit, die DDR für das „Haus Europa" zu opfern.

Unser reformunfähiges Politbüro orientierte sich bei aller Abschottung gegen Perestroika und die uns erreichenden Folgen von Glasnost bis zum Schluß treu auf die Sowjetunion und durfte keine eigenen Initiativen entwickeln. Erich Honecker verpaßte - nach meiner Meinung - die große Chance, bei seinem Besuch der Bundesrepublik einen gangbaren Weg zur Vereinigung zu finden. Er hielt stur an seiner Haltung fest: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf." Gorbatschow prägte den historischen Satz: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben." Die Sowjetunion hat dann - nach meiner Auffassung - bedingungslos und ohne große schriftliche Vereinbarung nach einem abschließenden Datschengespräch zwischen Gorbatschow und Helmut Kohl die DDR mit ihren Menschen und ihrem Vermögen übergeben und dem Zugriff des Kapitals überlassen. Ich glaube, dabei ist „Gorbi" persönlich nicht zu kurz gekommen.

Für mich und viele engagierte Bürger der ehemaligen DDR ist der Niedergang unseres Staates sehr bitter und enttäuschend. Tatsache ist und bleibt: Das Sozialismusmodell, an dem ich mit ganzer Kraft und ehrlich gearbeitet hatte, ist für immer untergegangen. Übrig blieben nur neue Visionen. In der größten Klassenauseinandersetzung des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem Kalten Krieg als Höhepunkt hat sich der Kapitalismus gegen den Sozialismus durchgesetzt. In letzter Instanz war entscheidend, daß es den kapitalistischen Industriestaaten unter Führung der USA besser gelungen ist, die wissenschaftlich-technische Revolution zu meistern und eine hohe Produktivität zu erreichen. So konnten sie die objektiv ständig wachsenden Bedürfnisse der Mehrheit ihrer Bürger auf einem Niveau befriedigen, das in keinem der sozialistischen Länder erreicht wurde (Zweidrittel-Gesellschaft). Ob uns das paßt oder nicht - das ist die entscheidende Ursache für unseren Niedergang. Mit der Einheit Deutschlands ist - wenn sie sich auch nicht so vollzogen hat wie wir es erhofften - großes Unrecht und ein schwelender Konfliktherd in Europa beseitigt worden. Nur wenn wir die Ursachen unseres Niedergangs gründlicher erforschen und daraus für die Zukunft lernen, werden wir der geschichtlichen Beurteilung standhalten und neue Kraft schöpfen.

Das Volk hörte 1989 nicht mehr auf seine Führung und forderte immer energischer ihren Rücktritt und freie Wahlen. Daß es zu keiner blutigen Revolution kam, ist den besonnenen, intelligenten Menschen zu verdanken, die in der DDR zu friedlichen Bürgern erzogen worden waren. Gewalt war uns fast fremd. Die Volksarmee, die Volkspolizei und alle anderen Sicherheitskräfte, die ja ausgezeichnet bewaffnet waren, haben nicht auf das Volk geschossen. Das besonnene Handeln auf beiden Seiten, insbesondere das der Kommandeure und verantwortlichen Funktionäre, hat bewirkt, daß nicht geschossen wurde. Wer das nicht wahrhaben will, sollte bedenken, auf welcher Seite die totbringenden Waffen waren!

Die neu gewählte Volkskammer kam nicht mehr zu kontinuierlicher Arbeit. Durch das Wegbrechen des Ostmarktes, auf dem wir den Hauptteil unseres Exportes realisierten und die wichtigsten Rohstoffe erhielten, verschärfte sich die wirtschaftliche Situation von Tag zu Tag. Die bürgerliche Medienwelt kippte ihren sensationell aufgemachten Dreckkübel über die DDR aus nach der Devise, etwas wird schon davon wahr sein und hängen bleiben. Um es mit Brecht zu sagen: Der Sieger schreibt Geschichte, dem Verlierer wird das Gesicht verzerrt, übrig bleibt die Lüge. Manches von dem, was da ans Tageslicht kam, konnte ich, konnten viele andere ehrliche Menschen nicht begreifen. Durch die neuen Machtverhältnisse in der Volkskammer und das Betreiben westlicher Politiker wurde der Staats- und Wirtschaftsapparat der DDR Zug um Zug zerschlagen. Zuerst der Kopf, das politisch-ideologische Zentrum; dann die Sicherheitsorgane, die Justiz, Presse, Rundfunk und dann nach und nach die ganze DDR-Elite in Wissenschaft, Lehre und Forschung, Kunst und Kultur. Die Menschen auf der Straße riefen nicht mehr „Wir sind das Volk!" sondern „Wir sind ein Volk" und, wo er sichtbar wurde: „Helmut, Helmut!" Die „Kohlonisierung" eskalierte.

Der neugewählten Volkskammer blieb nichts anderes übrig, als überstürzt mit einem schlechten Einigungsvertrag der BRD beizutreten. Viele Träume, die ich und das Volk auf der Straße in der Wendezeit noch hatten, haben sich nicht erfüllt.

Sepp Landa


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