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Über den „klassenfeindlichen" Lehrer Jürgen G.

Im Jahre 1973 wurde in Potsdam eine weitere Polytechnische Oberschule neu erbaut und eröffnet, ein Haus mit großen hellen Klassenräumen und reich ausgestatteten Fachräumen für Physik, Chemie, Biologie, Geographie, Musik u. a. Der „Speisewürfel", eine große Turnhalle, ein Schulgarten, Basketball- und Fußballplatz, Spielwiese und eine Anlage für Leichtathletik trugen dazu bei, daß die etwa 30 Lehrerinnen und Lehrer sowie 15 Horterzieherinnen unter besten Arbeitsbedingungen lehren und die mehr als 500 Schülerinnen und Schüler gut lernen konnten.

Selbstverständlich klappte auch die Zusammenarbeit zwischen Schule und Hort -ganz im Gegensatz zu heute nach der unsinnigen Trennung der pädagogischen Bereiche. Kinder im Alter von 6 bis zu 16 Jahren erzielten an dieser DDR-typischen Schule überwiegend gute Ergebnisse. Darüber hinaus bot die Schule vielfältige Möglichkeiten zur sportlichen und künstlerischen Freizeitbetätigung. Nicht nur die Pädagogen, sondern auch viele Mütter und Väter betreuten ehrenamtlich Arbeitsgemeinschaften, in denen Sport getrieben oder musiziert, Theater gespielt, gebastelt, gelesen oder „gedichtet" wurde.

So war es kein Wunder, daß Undiszipliniertheiten oder gar kriminelle Handlungen an dieser Schule kaum auftraten. Rechtsradikale Aktivitäten und Rauschgiftdelikte blieben unbekannt.

Um so mehr war es für die Direktorin der Schule ein Schock, als ihr eines Tages ihre Parteisekretärin die Mitteilung machte, daß ein Lehrer ihrer Schule ein „Klassenfeind" sei, um den sich die „Sicherheitsorgane" kümmern müßten. Was hatte der Sportlehrer Jürgen G. „ausgefressen", so daß er in den Verdacht geriet, ein Staatsfeind zu sein? Hatte er Schüler verprügelt oder gegen den Staat gehetzt? Nein, das hatte er nicht. War er vielleicht faul und undiszipliniert? Im Gegenteil, er arbeitete überdurchschnittlich gut und engagiert. Mehr als zwanzig Männer und Frauen hatte er für sportliche Arbeitsgemeinschaften gewonnen. So wurde es möglich, daß seine Schüler bei Vergleichswettbewerben mit anderen Schulen besonders erfolgreich abschnitten.

Die Schulleiterin sah keine Veranlassung, sich über ihren fleißigen Lehrer zu beklagen. Aber sie fragte ihren Ehemann, der Kontakt zu den „Sicherheitsorganen" hatte, was sie in diesem Falle machen sollte. Die Nachfrage bei einer „zuständigen Dienststelle" ergab, daß tatsächlich über den genannten Lehrer eine „Akte" angelegt worden war, weil die SED-Kreisleitung das so empfohlen hatte.

Was stand nun in der Akte? Nichts, was nach den Gesetzen der DDR strafbar gewesen wäre. Aber es hatte zwischen Jürgen G., dem Sportlehrer, und der Lehrerin, die ehrenamtliche Parteisekretärin der Schule war und sich als politische Leiterin der Schule fühlte, eine heftige Auseinandersetzung über Personalprobleme gegeben. Die Parteisekretärin konnte es nicht verwinden, daß der parteilose Lehrer sich von ihr nichts sagen ließ und ihr obendrein den Vorwurf gemacht hatte, sie sollte weniger „politische Reden" halten und dafür eine bessere fachliche Arbeit mit den Schülern leisten.

Erfreulicherweise konnte die unsinnige und unbegründete Verdächtigung gegen den engagierten Lehrer ausgeräumt werden. Der kritische Sportlehrer wurde nach den Auseinandersetzungen für seine vorbildliche Arbeit mit einer staatlichen Auszeichnung ebenso geehrt wie seine Direktorin, die von Erich Honecker persönlich einen Orden überreicht bekam.

Als im Jahre 1990 die Leiterin der Schule ohne Begründung durch die neue Staatsmacht - gegen den wiederholten Protest von Lehrern, Schülern und Eltern - aus dem Amt gedrängt wurde, ergriff auch Jürgen G. Partei für seine ehemalige Vorgesetzte. Und als das alles nichts half, da quittierte er den Dienst an dieser Schule sowie im gesamten Bereich des zuständigen Schulamtes.

Inzwischen wurde die genannte Polytechnische Oberschule zur Grundschule zurückentwickelt und ihr antifaschistischer Name getilgt. Nur durch massiven Bürgerprotest konnte die von der Stadtverwaltung beabsichtigte Schulschließung im Jahre 2000 verhindert werden.

Horst Jäkel 


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