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Das Ende einer „unverbrüchlichen Freundschaft"

Mein Verhältnis zur DDR prägten von allem Anfang zwei Faktoren: meine Herkunft aus einer Arbeiterfamilie und mein schon in der Kindheit reges Interesse für Sprachunterschiede.

Mein Vater war gelernter Schmied und arbeitete meist als Schlosser, meine Mutter war vor ihrer Verheiratung Kartonagenarbeiterin gewesen. Beide waren fromme Christen, verabscheuten die Nazis und versuchten auch meinen ein Jahr jüngeren Bruder und mich in diesem Sinne zu erziehen. Dies gelang ihnen jedoch nur bedingt. Für die Ideen, die unsere Lehrer uns einzuflößen bestrebt waren oder vielleicht auch gezwungen zu sein wähnten, war ich durchaus nicht unempfänglich. Dennoch wäre ich nie in die Versuchung gekommen, meine Eltern ob ihrer Weltanschauung zu verachten und wegen ihrer „staatsfeindlichen" Ansichten etwa zu denunzieren.

Vom Massenmord an den Juden im besetzten Teil der Sowjetunion erfuhr ich 1942 als Zehnjähriger von einem Onkel, dessen Schwager zur Polizei eingezogen und zur Teilnahme an den Massakern abkommandiert worden war. Da er nicht damit fertig wurde, so zum Verbrecher gemacht worden zu sein, hatte er sich seinen nächsten Verwandten anvertraut. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, daß die Berichte der Wahrheit entsprachen. Äußerten doch auch einfache Leute in meinem Heimatdorf offen, daß „auf uns zurückfallen muß", was den Juden angetan werde. Auch machten besonders fanatische Nazis gar kein Hehl daraus, daß mit der proklamierten „Endlösung der Judenfrage" die physische Vernichtung der Juden gemeint war.

Obwohl es mir dann im Mai 1945 nicht schwer fiel, einzusehen, daß Deutschland über zwölf Jahre von Verbrechern beherrscht worden war, hatte ich dennoch Angst vor den „Russen". Die kamen dann im Juni auch in die bis dahin unbesetzt gebliebene Zone um die „Republik Schwarzenberg", in der wir lebten. Auch in unserem Dorf war kurze Zeit eine Kommandantur. Zu Zwischenfällen beim Einmarsch kam es nicht.

Was die sowjetische Besatzungsmacht unter der Losung „Errichtung einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung" an grundlegenden politischen und sozialen Umgestaltungen einleitete und beförderte, fand meine uneingeschränkte Zustimmung. Auch meine Eltern hielten Bodenreform und Enteignung der Kriegs- und Naziverbrecher für richtig. Bei der einzigen freien und geheimen Wahl, die in der Sowjetischen Besatzungszone 1946 stattfand, wählten sie - ich selbst war noch nicht wahlberechtigt -verständlicherweise CDU. Als ich mich dann jedoch immer mehr von der Kirche entfernte und in die FDJ eintrat, kam es zu Konflikten. Daß ich 1950 sogar Kandidat der SED wurde, haben sie wahrscheinlich gar nicht mehr richtig wahrgenommen, da ich bald darauf Vaterhaus und Heimatdorf verließ und nur noch zu kurzen Besuchen nach Hause kam, bei denen wir auf weltanschauliche Auseinandersetzungen verzichteten.

Ich habe eingangs bereits erwähnt, daß ich schon früh ein lebhaftes Interesse für Sprachen entwickelte. Ich wurde gewissermaßen mit der Nase darauf gestoßen, denn unsere westerzgebirgische Dorfmundart unterscheidet sich nicht nur beträchtlich vom Hochdeutschen, sondern sogar nicht unwesentlich von der obersächsischen Umgangssprache. Das, was Sachsen unter Hochdeutsch verstehen, beherrschte ich einigermaßen schon vor der Einschulung. Denn mein frommer Vater las uns regelmäßig aus der Bibel vor. In der Hauptschule, die ich ab 1942 besuchen konnte, hatten wir Englischunterricht. Und nun, nach dem Kriege, bot sich mir die Möglichkeit, eine völlig anders geartete Sprache, nämlich Russisch, kennen zu lernen. Ich nutzte dazu jede Gelegenheit.

Im Januar 1947 wurde mir Schulgeldfreiheit gewährt. An der Oberschule Stollberg konnte ich mein Russisch mit Hilfe von Lehrern vervollkommnen, die es als Muttersprache sprachen. Außerdem erweiterte ich meine Lateinkenntnisse, die ich mir nach dem Abschluß der Grundschule als Waldarbeiter nach Feierabend angeeignet hatte. Ich verschlang förmlich alles, was mir in diesen Jahren an Literatur in die Hände fiel, wenn es nur irgendeinen Bezug zu Sprachen hatte. Der Zufall wollte es, daß einer der prominentesten sorbischen Philologen Studienrat an in unserer Schule gewesen war und noch in Stollberg lebte. Ich machte mich mit ihm bekannt und erhielt von ihm Literatur, um Sorbisch zu lernen. Ein Lateinlehrer konnte auch Ungarisch und schenkte mir ein Lehrbuch dieser Sprache. Schließlich machte mich mein Deutschlehrer darauf aufmerksam, daß in der Sowjetunion eine sprachwissenschaftliche Diskussion im Gange sei, in die auch Stalin eingegriffen habe. Die als „geniales Werk" apostrophierte Broschüre Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft erschien dann auch in mehreren Auflagen in der DDR und überzeugte mich davon, daß auch in der sowjetischen Linguistik die Behandlung einiger Grundfragen nun endlich vom Kopf auf die Füße gestellt sei, und zwar vom „großen Führer" höchstpersönlich. Denn was ich vorher in einigen Heften der Reihe Sowjetwissenschaft über die in der Sowjetunion propagierte „Neue Lehre von der Sprache" gelesen hatte, war mir spanisch vorgekommen. Vieles stand in krassem Gegensatz zu dem, was man in ernst zu nehmenden deutschen sprachwissenschaftlichen Arbeiten lesen konnte.

Alles, was ich über die sowjetische Nationalitätenpolitik erfahren konnte, begeisterte mich dagegen geradezu. Als ich nach Abitur und kurzer Neulehrerausbildung ein Schuljahr lang selbst Russisch und Latein unterrichten durfte, nutzte ich jede Gelegenheit, um nicht zuletzt am Beispiel dieser Politik für Freundschaft mit der Sowjetunion zu werben. Daß ich Funktionär der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft wurde, versteht sich von selbst.

Als die DDR 1951 die Möglichkeit erhielt, junge Menschen zum Studium in die Sowjetunion zu delegieren, war ich mit unter den ersten. Vom Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen, wie es damals hieß, erhielt ich den Auftrag, an der Universität Leningrad Russistik zu studieren. Ich kam diesem Auftrag mit großem Eifer nach und nutzte außerdem die zahlreichen darüber hinaus gegebenen Möglichkeiten, nicht zuletzt im unmittelbaren Umgang mit anderssprachigen Mitstudenten, Sprachen zu lernen sowie Wissen auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft zu erlangen. So nach und nach wurde mir auch klar, daß das, was Stalin 1950 vom Kopf auf die Füße gestellt hatte, Hirngespinste eines Geisteskranken gewesen waren. Andererseits wurde deutlich, daß er sehr apodiktisch auch einige falsche Thesen aufgestellt hatte, über die bis zu seinem Tode natürlich nicht gesprochen werden durfte. Daß das von ihm nach Lenins Tod sukzessive installierte Regime es überhaupt erst ermöglichte, die von Scharlatanen in die Welt gesetzten Absurditäten zur „einzig wahren marxistischen Wissenschaft" zu deklarieren, habe ich natürlich erst viel später begriffen.

In unserem Studentenheim lebten einträchtig nicht nur Angehörige vieler der über 150 die Sowjetunion bevölkernden Nationalitäten mit uns zusammen. Nach der Entstehung der „volksdemokratischen" Staaten hatten sich auch Studenten aus diesen Ländern dazu gesellt.

Wir DDR-Studenten waren die letzten. Als sich unsere bevorstehende Ankunft herumgesprochen hatte, sollen polnische Studenten sich geweigert haben, mit Deutschen unter einem Dach zu leben. Als wir eintrafen, war davon nichts mehr zu spüren. Nach und nach wurden gerade die Polen mit unsere besten Freunde.

Meine damals noch ziemlich naive Sicht auf die Lösung der nationalen Frage in der Sowjetunion und in der „sozialistischen Staatengemeinschaft" überhaupt schien jedenfalls durch die Lebenswirklichkeit bestätigt zu werden. Ein Erlebnis gleich im ersten Jahr meines Aufenthalts in Leningrad allerdings irritierte mich. Eines Tages befragte ich einen chinesischen Mitstudenten, der mit mir und sechs anderen, zwei Russen, einem Tschechen, einem Ruthenen aus der Ostslowakei, einem Rumänen und einem Koreaner, in einem Zimmer wohnte, nach den Verhältnissen in der zu China gehörenden Inneren Mongolei. In dem Moment betrat ein anderer Student aus China den Raum. Mein Gesprächspartner zeigte auf ihn und sagte lachend: „Der da ist Mongole." Die Reaktion des Ankömmlings war unerwartet. Mit finsterem Gesicht überschüttete er seinen Landsmann auf chinesisch mit einem Redeschwall, den ich in dieser Situation nur als eine Anreihung von Vorwürfen, wenn nicht von Beschimpfungen interpretieren konnte, was mir mein Zimmergenosse dann auch bestätigte. Ein chinesischer Staatsbürger wollte also nicht, daß man erfuhr, daß er nicht zum in der Volksrepublik die übergroße Mehrheit stellenden Han-Volk gehörte, sondern „nur" ein Mongole war. Ein vernichtenderes Urteil über die in einem Vielvölkerstaat herrschenden Beziehungen zwischen den einzelnen Volkern konnte ich mir nicht vorstellen1.,

Die Nichtrussen unter unseren sowjetischen Mitstudenten bekannten sich jedenfalls voller Stolz zu ihrer Nationalität.

Die Sommerferien verbrachte ich teilweise auch in der Lausitz, um mich im Sorbischen auch praktisch zu üben. Im Jahre 1955 absolvierte ich am Institut für sorbische Volksforschung ein einmonatiges Praktikum, um Material für meine Diplomarbeit zu sammeln, die einem Problem der sorbischen Grammatik gewidmet war. Insbesondere während dieses Praktikums konnte ich mich überzeugen, daß das Bekenntnis der DDR-Führung, gegenüber dem sorbischen Volk die Prinzipien der „Leninschen Nationalitätenpolitik" verwirklichen zu wollen, ernst gemeint war. Erstmals in der Geschichte Deutschlands wurden die Sorben als mit den Deutschen gleichberechtigte und kulturell zu fordernde nationale Minderheit anerkannt und dies auch in der Verfassung der DDR verankert.

Im gleichen Jahr wurde jedoch auch die Errichtung des Kombinats Schwarze Pumpe mitten im sorbischen Sprachgebiet beschlossen. Daß dies die Abbaggerung der auf Braunkohlenflözen stehenden sorbischen Dörfer einleitete und die Umsiedlung ihrer Bewohner in die Neubaugebiete von Hoyerswerda oder Cottbus die unvermeidliche Beschleunigung ihrer Germanisierung zur Folge haben wurde, war abzusehen.

Dennoch blieb mein in seiner Naivität fest gefügtes sozialistisches Weltbild ungebrochen. Und zwar nicht nur in Bezug auf mein Heimatland DDR, sondern auch hinsichtlich der „unverbrüchlichen Freundschaft" mit dem „großen Vorbild" UdSSR. Dabei verschloß ich keineswegs die Augen vor der sowjetischen Wirklichkeit. Die Primitivität unserer Behausung nahm ich hin. Ich war auch zu Hause nicht verwöhnt worden. Die schockierende Armut, die uns überall umgab - mit dem Leben der Nomenklatura hatten wir keinerlei Berührung -, erklärte ich mir mit der ererbten Rückständigkeit Rußlands und den Nachwirkungen des Krieges.

Eines allerdings ging sicher den meisten von uns, salopp gesagt, auf den Geist - die hemmungslose Selbstbeweihräucherung der sowjetischen Agitation und Propaganda. Auf allen Gebieten sollte „russische" Wissenschaft und Technik die „Priorität" besitzen. Dabei wurde andererseits in Pauschaleinschätzungen ja gar nicht geleugnet, wie rückständig das zaristische Rußland gewesen war. Unter vier, höchstens sechs, Augen tauschten wir uns über unsere Zweifel auch aus. Mit der Zeit bekamen wir mit, daß sich unter uns DDR-Studenten auch selbsternannte „Chefideologen" befanden, die sich jeder Anerkennung der Realität verschlossen.

Daß an dem Tage, als gegen Morgen der durch die Bekanntgabe der ärztlichen Bulletins bereits erwartete Tod Stalins endlich gemeldet wurde, eine Umbildung der gesamten Regierung erfolgte, ließ diejenigen aufhorchen, die inzwischen gelernt hatten, auf Zwischentöne zu achten und zwischen den Zeilen zu lesen. Und dazu hatte es manche Anlässe gegeben. Daß sie mit der Kaltstellung und De-facto-Verbannung von Marschall Schukow nicht einverstanden waren, hatten Sowjetbürger, in erster Linie ehemalige Frontsoldaten, auch uns gegenüber schon zu Stalins Lebzeiten nicht verhehlt. Und nun wurde Schukow, kaum daß Stalin für immer die Augen geschlossen hatte, nach Moskau zurückgeholt und zum Ersten Stellvertreter des Verteidigungsministers ernannt. Uns schwante: etwas war faul im Staate Sowjetunion.

Im Sommer 1953 begann eine Kampagne gegen einen noch anonym bleibenden „Personenkult". Daß sie Stalin galt, war jedem klar, der nicht hartnackig die Augen vor allem verschloß, was nicht ins anerzogene Weltbild paßte.

Am Vorabend des 20. Parteitags der KPdSU stellten wir zu dritt - meine beiden Gesprächspartner wurden später an DDR-Universitäten Geschichtsprofessoren - Überlegungen an, „ob sie wohl die Wahrheit über Stalin sagen. Wahrscheinlich nicht, aber ganz ausgeschlossen ist es doch nicht." Was dann kam, übertraf alle unsere Erwartungen.

Mich berührte vor allem Chruschtschows Eingeständnis, daß Stalin ganze Völker, insgesamt mehre Millionen Menschen, der Kollaboration mit den deutschen Eroberern beschuldigte und sie noch während des Krieges oder unmittelbar danach unter barbarischsten Bedingungen aus der angestammten Heimat im Kaukasus oder aus dem Wolgagebiet in kaum bewohnbare Gebiete Sibiriens oder Mittelasiens verschleppen lassen hatte. Da sie in keiner nach dem Kriege veröffentlichten Übersicht über die Völker und Sprachen der Sowjetunion - ich besitze mehrere davon - vorkamen, so als hatten sie nie existiert, bestand offenkundig die Absicht, sie, soweit sie nicht schon wahrend der Deportation umgekommen waren2, nach und nach aussterben zu lassen. In Chruschtschows Aufzählung fehlten allerdings eine ganze Reihe Völker, die ein ähnliches Schicksal erlitten hatten. Dazu gehörten die vor allem in einer autonomen Republik im Wolgagebiet konzentrierten, aber auch in der Ukraine, im Kaukasus, in Mittelasien sowie in nationalen Kreisen Sibiriens lebenden Sowjetdeutschen, insgesamt allein schon mehrere Millionen, die Krimtataren, die Griechen des Schwarzmeergebietes, die Kurden Armeniens, die turkisierten Georgier, die Polen aus den Gebieten, die bei der Aufteilung des polnischen Zwischenkriegsstaates 1939 zwischen Hitlerdeutschland und der Sowjetunion an letztere gefallen waren, sowie die Finnen aus den Gebieten, die Finnland nach Stalins 1940 gescheitertem gewaltsamen Versuch, das ganze Land zu annektieren, an die Sowjetunion abtreten mußte. Ebenso die Koreaner, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg unter etwas erträglicheren Bedingungen aus dem Fernen Osten der Sowjetunion nach Usbekistan verbracht worden waren. Auch über diese Völker wurde nunmehr gesprochen und gerätselt, warum sie unerwähnt blieben.

Für uns vor dem Staatsexamen Stehende war von besonderer Bedeutung, daß wir zur Vorbereitung die Bibliothek der Akademie der Wissenschaften benutzen durften.  Nach dem 20. Parteitag waren manche vorher sekretierte Bücher, Zeitschriften und Zeitungen vorübergehend freigegeben worden. Später verschwanden sie dann teilweise wieder im Giftschrank. Darunter befanden sich auch nach dem Abschluß der 1939 zwischen dem „Großdeutschen Reich" und der UdSSR abgeschlossenen Verträge erschienene Jahrgänge der Prawda. Wir konnten also schwarz auf weiß nachlesen, wie Stalin in Telegrammen an Hitler die „mit Blut gefestigte sowjetisch-deutsche Freundschaft" beschwor, wie Molotow die in Komplizenschaft mit den Nazis vollzogene Vernichtung des polnischen Staates rechtfertigte oder wie Frankreich und Großbritannien in offiziellen Verlautbarungen zu „Aggressoren" gestempelt wurden, die das mit der SU befreundete Deutschland überfallen hätten.

Wie wir dem von uns auch in Leningrad gelesenen Neuen Deutschland entnehmen konnten, blieben alle diese Tatsachen in der DDR Tabu. Die SED-Führung war bemüht, die in Chruschtschows Geheimrede enthüllten Verbrechen der Stalindiktatur möglichst zu vertuschen und soweit dies nicht mehr möglich war, zu bagatellisieren sowie jede Kritik an den eigenen Fehlern, die nicht zuletzt zu dem Aufstand am 17. Juni 1953 geführt hatten, rigoros zu unterdrücken. Besonders empört waren viele von uns über Ulbrichts in der Öffentlichkeit gemachte, im ND veröffentlichte und von uns als Verhöhnung empfundene Bemerkung, die jungen Genossen hätten Stalins Biografie besser gekannt als die Mitglieder des Politbüros.

Daß Ulbricht selbst die halbherzige und widersprüchliche Entstalinisierung, wie sie Chruschtschow betrieb, für die DDR kategorisch ablehnte und zu hintertreiben entschlossen war, wurde mir erst so recht klar, als ich im Sommer 1956 nach Abschluß meines Studiums in die DDR zurückkehrte. Am 1. August nahm ich am Slawischen Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig eine Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent auf. In der SED-Grundorganisation, in die ich kam, waren die oppositionellen Stimmungen besonders stark vertreten. Ich fand diese völlig gerechtfertigt und unterstützte auch die Forderung, Ulbricht müsse als der für die Fehlentwicklung in der DDR Hauptverantwortliche zurücktreten bzw. im Falle seiner Weigerung vom Zentralkomitee abgesetzt werden. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Aufstand in Ungarn und seiner Niederschlagung durch sowjetische Truppen wurden Überlegungen angestellt, wie eine solche katastrophale Entwicklung bei uns verhindert werden könne. In dem Maße, wie das Regime die Repressalien verstärkte - Signale waren die Prozesse gegen Wolfgang Harich und andere sowie gegen Walter Janka und andere - wurden wir vorsichtiger mit zu offenen Bekundungen unserer Ablehnung der Politik der SED-Führung.

Doch auch als wir im Sommer 1957 erfuhren, daß in Halle Bekannte meiner Kollegen verhaftet worden waren, blieben wir dabei, daß ein Beharren auf einem stalinistischen Kurs für die DDR verhängnisvolle Konsequenzen haben müsse. Wir waren jedoch überzeugt, daß diese anachronistische Linie angesichts der Fortführung eines vorsichtigen Entstalinisierungskurses in der in „unverbrüchlicher Freundschaft" verbundenen Sowjetunion über kurz oder lang aufgegeben werden würde. Die Befürchtung, das poststalinistische Regime könne sich noch zehn Jahre halten, sahen die meisten von uns als eine viel zu pessimistische Perspektive an. Daß es noch 32 Jahre dauern könnte, hielt niemand für möglich. Ich persönlich blieb optimistisch, hielt es jedoch für sinnlos, durch unvorsichtige Äußerungen gegenüber nicht ausreichend glaubwürdigen Personen Repressalien unnötig herauszufordern. Diesen Standpunkt vertrat ich auch als Mitglied der Parteileitung und 2. Sekretär bzw. ab September 1957 als 1. Sekretär der Grundorganisation. Eine solche Haltung wurde uns später als „konspirative partei- und staatsfeindliche Tätigkeit" angelastet, die strafrechtlich zu ahnden sei.

Im September gab es auch in unserer Grundorganisation die ersten Festnahmen. Ich wurde am 13. November 1957 verhaftet. Die Untersuchungshaft sowie noch mehrere Monate nach dem am 23. Dezember 1958 nach zweitägiger Dauer mit der Urteilsverkündung abgeschlossenen Prozeß verbrachte ich in Einzelhaft. Insgesamt waren es 17 Monate. Das Urteil lautete für mich auf „Beihilfe zum Staatsverrat". Das Anklage und Verurteilung zugrunde gelegte Strafrechtsergänzungsgesetz hatte vor unserer Verhaftung noch gar nicht existiert. Daß es dennoch angewandt wurde, begründete das Gericht damit, daß es das mildere Gesetz sei. Mein Institutskollege Ralf Schröder erhielt als Hauptangeklagter wegen angeblichen Staatsverrats zehn Jahre Freiheitsentzug. Mein Vernehmer hatte kurz vorher bei einem der Gespräche, zu denen er mich auch dann noch in unregelmäßigen Abständen aus der Zelle holte, als die Voruntersuchung im Frühjahr 1958 abgeschlossen war, erklärt, „niemand denke daran", Ralf Schröder (wie vorher Wolfgang Harich) zu zehn Jahren zu verurteilen. Ich selbst kam mit drei Jahren relativ glimpflich davon, was ich mir nicht recht erklären konnte, zumal der Staatsanwalt im Schlußplädoyer ausgerechnet mir mangelnde Einsicht und Reue vorgeworfen hatte. Wahrscheinlich paßte ich als Arbeiterkind und SU-Absolvent einfach nicht ins Schema. Denn meinen Mitangeklagten - Nachbar auf der Anklagebank war Erich Loest - wurde natürlich auch ihre „kleinbürgerliche" Herkunft angekreidet. Daß ich dennoch mit abgeurteilt wurde, muß auch mit meiner Funktion als Parteisekretär zusammengehangen haben. Denn mehrmals, wenn sich herausstellte, daß Dinge, die mir als Verbrechen angelastet wurden, auch für weiter in Freiheit Befindliche zutrafen, reagierte der Vorsitzende mit der Bemerkung: „Sie aber waren Parteisekretär!". Offenkundig zur Belohnung für sein „parteimäßiges" Verhalten avancierte dieser Richter, ein NDPD-Mitglied, wenig später zum Stellvertreter von Justizministerin Benjamin.

Unsere Strafen verbüßten wir in der Strafvollzugsanstalt Bautzen, im sog. „Intelligenzheim", wie es im Jargon der Insassen genannt wurde. Der Alltag dort bestand zu einem beträchtlichen Teil in kleinlicher Schikane. Als wir z. B. kurz nach unserer Einlieferung den Katalog der in Bautzen I, dem sog. „Grauen Elend", befindlichen Anstaltsbibliothek erhielten, um uns Bücher auszuleihen, entdeckte ich darin ein Lehrbuch der Hindustani-Sprache. Voller Befriedigung, nun auch für die arbeitsfreie Zeit meiner Haft eine meinen speziellen Interessen entsprechende Beschäftigung zu erhalten, bestellte ich es sofort. Daraufhin wurde ich zum Anstaltsleiter befohlen, der mir die Ablehnung meiner Bestellung eröffnete und mit triumphierender Stimme hinzufügte: „Sie sind hier als Strafgefangener, nicht als Privatgelehrter".

Die meisten Mitgefangenen in Bautzen II waren straffällig gewordene ehemalige MfS-Angehörige, darunter auch einige wegen krimineller Delikte verurteilte, die das besondere Vertrauen der Anstaltsleitung genossen. Soweit sie wegen angeblicher Spionage verurteilt waren, handelte es sich ihren Berichten zufolge in Wahrheit um fahrlässige Preisgabe von Dienstgeheimnissen oder einfach um „Republikflucht".

Die übrigen - von uns eigentlichen Politischen einmal abgesehen - waren echte Spione, die für unterschiedliche westliche Geheimdienste gearbeitet hatten. Nicht wenige von ihnen bekannten sich zu einer faschistoiden bzw. direkt faschistischen Gesinnung. Die nähere Bekanntschaft mit diesem Personenkreis bestimmte maßgeblich meine spätere politische Überzeugung und Haltung.

Da ich unter die vom nunmehrigen Staatsratsvorsitzenden Ulbricht im September 1960 verkündete Amnestie fiel, brauchte ich meine Strafe nicht vollständig abzusitzen. Statt am 13. kam ich bereits am 8. November frei. Außerdem wurde mir ein Betreuer zugeordnet, dem ich es vor allem zu verdanken habe, daß ich bereits am 1. Juni 1961 wieder in meinem Beruf als Sprachwissenschaftler arbeiten konnte, und zwar im Institut für Slawistik der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Vorher hatte ich einige Monate als Bauhilfsarbeiter und dann als freischaffender Übersetzer gearbeitet.

Von vornherein stand für mich fest, daß ich mich weiterhin politisch engagieren wurde. Flucht in die BRD kam jetzt für mich ebensowenig in Frage wie im September 1957, als ich von der Verhaftung Ralf Schröders und anderer Kollegen erfuhr. Von der Notwendigkeit des Schutzes der DDR gegen äußere Bedrohung war ich nach den in der Haft gemachten Erfahrungen mehr denn je überzeugt. Die Schließung der Grenze am 13. August begrüßte ich ohne Einschränkung. Die danach von Ulbricht angestrebte Politik eines etwas größeren Spielraums im Rahmen der „unverbrüchlichen Freundschaft" fand ich sinnvoll. Ich „verzieh" gewissermaßen der Politbürokratie ihre „Strenge", und sie ließ ihrerseits „Milde" walten. Auf einen Antrag der Kaderleitung der Akademie hin wurde mir in einem Schreiben der DDR-Generalstaatsanwaltschaft vom 8.1.1964 mitgeteilt, daß angeordnet worden sei, den Vermerk über meine Verurteilung im Strafregister zu tilgen, und ich mich als unbestraft bezeichnen könne.

Da ich überzeugt war, daß die Interessen der DDR trotz aller Fehler, die dabei gemacht wurden, von der SED nach wie vor am besten vertreten wurden, bemühte ich mich nach der „Begnadigung" erneut um Aufnahme in diese Partei. Ende 1969 beschloß die Grundorganisation des neugegründeten Akademieinstituts für Sprachwissenschaft meine Wiederaufnahme. Auch danach war ich bemüht, in Diskussionen nie etwas zu vertreten, wovon ich nicht wirklich überzeugt war. Das schloß leider nicht aus, daß man vieles, wovon man überzeugt war, nicht öffentlich äußern durfte. Nie abfinden konnte ich mich z. B. wie viele, vielleicht sogar die meisten SED-Mitglieder mit der rigorosen Unterbindung jedweder, wie es hieß, „Fehlerdiskussion", mit der verlogenen Schönfärberei und der widerwärtigen Selbstbeweihräucherung. Besonders abwegig und für die Zukunft der DDR verhängnisvoll fand ich die Art und Weise, wie seit Oktober 1950 hierzulande „Wahlen" veranstaltet wurden. Vor 1989 sah ich allerdings diesbezüglich keinen anderen Ausweg als mich dem von oben vorgegebenen Ritual zu unterwerfen, also die Degradierung vom Wähler zum „Falter" hinzunehmen.

In wesentlichen Grundfragen stimmte ich jedoch mit der SED-Politik überein. Das galt für die Selbständigkeit der DDR, die enge Bindung an die UdSSR, das Gemeineigentum an den grundlegenden Produktionsmitteln, den Kampf gegen den Imperialismus, ja selbst für die Position in der deutschen Frage. Die Perspektive der seit 1949 in zwei Staaten mit konträren Gesellschaftsordnungen lebenden deutschen Nation sah ich, und zwar noch bevor dies Ulbricht zur Parteilinie deklarierte, in ihrer Differenzierung in zwei eigenständige Nationen. Darin, daß die SED bis in die zweite Hälfte der sechziger Jahre für die Wiedervereinigung auf sozialistischer Grundlage eintrat, dann aber die schon vorher betriebene Abgrenzungspolitik auch theoretisch mit der These von den zwei Nationen zu untermauern versuchte, sah ich keine Prinzipienlosigkeit und auch nicht in erster Linie vordergründige Taktik, sondern die Reflektierung eines mit der Gründung der DDR eingeleiteten und mit dem Mauerbau forcierten objektiven Differenzierungsprozesses. Durch meine schon während des Studiums intensive Beschäftigung mit der nationalen Frage kannte ich nicht wenige Falle, daß sich ursprünglich einheitliche ethnische Gemeinschaften unter spezifischen politischen Bedingungen in mehrere differenziert hatten. Allein vom mittelalterlichen deutschen Reich hatten sich so sukzessive getrennt: die alemannische Schweiz, die Niederlande, Luxemburg und Osterreich. Dabei war ich mir bewußt, daß dem Fortbestand einer deutschen Nation mit dem Wegfall der staatlichen Einheit lediglich die Grundlage entzogen war und bis zum Abschluß des Differenzierungsprozesses noch Jahrzehnte vergehen wurden.3 Die dilettantische, jede Theorie der Nation und die gesellschaftliche Erfahrung mißachtende Behandlung dieser Frage durch die Honecker-Führung, als nach Grundlagenvertrag und Einführung der D-Mark via Intershop als De-facto-Zweitwahrung längst der gegenläufige Prozeß begonnen hatte, mußte natürlich auf Widerspruch stoßen. Und nicht nur bei jenem Teil der DDR-Bevölkerung, der der DDR von allem Anfang an ablehnend gegenüber stand bzw. der vor allem durch die rigorose Beschränkung der Freizügigkeit eine ursprünglich positivere Einstellung nach und nach aufgegeben hatte. Ich bin überzeugt, daß nicht zuletzt die falsche Politik in der nationalen Frage dazu beigetragen hat, daß sich zwischen der Politbürokratie und ihrem Apparat einerseits und der Mehrheit der Parteimitglieder andererseits in den achtziger Jahren jene Entfremdung breit machte, die sich schließlich zu einem echten antagonistischen Widerspruch auswuchs. Eine große Rolle durfte dabei auch die Feindseligkeit gespielt haben, mit der Honecker und seine Umgebung auf Gorbatschows Perestrojka- und Glasnost-Politik reagierten. Von einer „unverbrüchlichen Freundschaft" konnte keine Rede mehr sein. Dabei wurde von Tag zu Tag offensichtlicher, daß jene Ursachen für die Fehlentwicklung in der Sowjetunion, wie sie beispielsweise auf der 19. Parteikonferenz der KPdSU 1988 aufgezeigt wurden, auch bei uns vorhanden waren. Auch in der DDR war es zur Entfremdung der Werktätigen von der politischen Macht und von den Produktionsmitteln gekommen.

Wo sich Unmut an der SED-Basis bemerkbar machte, war die Antwort der Politbürokratie jedoch stures „Weiter so!". Die jahrzehntelang von ihr kolportierte Losung „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen", wurde jetzt von großen Teilen der DDR-Bevölkerung, die SED-Mitgliedschaft eingeschlossen, als Appell an die eigene bornierte Obrigkeit verstanden. Dabei war sie eigentlich schon obsolet geworden.

Denn daß die Sowjetunion keinen Bestand haben wurde, zeichnete sich gerade in den wenigen Jahren von Glasnost und Perestrojka immer deutlicher ab, als sich die immer vehementer aufbrechenden nationalen Konflikte nicht mehr vertuschen ließen. Spätestens im Herbst 1988, als der Streit wegen Nagornyj Karabach zum Krieg zwischen den Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidshan eskalierte und das Moskauer „Zentrum" genau so hilflos reagierte wie auf alle vorausgegangenen Konflikte, mußte jedem, der diese Prozesse verfolgte, klar werden, daß die Floskel „Die nationale Frage ist im Prinzip gelöst, es gibt jedoch einige Probleme", mit der auch Gorbatschow noch operierte, bestenfalls Selbstbetrug war. Die hohlen Phrasen, mit denen selbst Ausbruche offener Gewalt bagatellisiert wurden, waren nicht geeignet, das Aufbegehren der nichtrussischen Nationalitäten gegen die von Stalin wiederbelebte und von allen seinen Nachfolgern auf verschiedene Weise intensivierte traditionelle Russifizierungspolitik abzuwenden.

Daß man angesichts dieser Perspektive auch für die DDR das Schlimmste befürchten mußte, lag auf der Hand.

Dennoch hoffte ich bis Ende 1988 noch immer, daß sich in der SED-Führung ein gesunder Kern finden wurde, der die Kraft hatte, Partei und Republik noch rechtzeitig zu demokratisieren. Doch ich hoffte vergeblich. Das Jahr 1989 war vor allem von regelrechten Provokationen der Politbürokratie gegen die DDR-Bevölkerung geprägt. Es begann mit der Wahlfarce vom 7. Mai und dem selbst gegen den passiven Widerstand von Teilen des FDJ-Apparates erzwungenen Pfingsttreffen und wurde mit den Vorbereitungen auf ein pompöses Begängnis anläßlich des 40. Jahrestages auf die Spitze getrieben. Die kaltschnäuzige Reaktion auf die Massenflucht via Ungarn und Tschechoslowakei tat ein übriges. Die Art und Weise, wie der „Mauerfall" bewerkstelligt wurde, öffnete auch der Einmischung in den Wahlkampf von außen Tür und Tor. Das Ergebnis am 18. März besiegelte so das Ende der DDR.

Die „unverbrüchliche Freundschaft" endete mit dem Verschwinden beider Partner, die sie hätten tragen können.

Ronald Lötzsch


1 Davon, daß meine Befürchtung nicht unbegründet war, mußte ich mich im Sommer 1952 überzeugen Da die Studenten aus China und Nordkorea auch wahrend der Sommerferien in der Sowjetunion bleiben mußten, war je einer Gruppe von etwa 30 Personen aus den beiden Staaten ermöglicht worden, diese Zeit in der DDR, und zwar in Georgenthal bei Gotha, zu verbringen. Einige von uns SU-Studenten begleiteten sie als Betreuer und Dolmetscher. Die chinesische Gruppe wurde von Li Pang, dem späteren Regierungschef und heutigem Parlamentspräsidenten, geleitet, der damals in Moskau studierte. Seine Mutter war Ministerin in der Zentralen Volksregierung. Bei unseren Ausflügen durch Thüringen fuhren beide Gruppen getrennt jeweils in einem Reisebus. Eines Tages kam Li Pang zu mir und bat mich, unserem verantwortlichen Leiter auszurichten, er möge doch darauf achten, daß der Bus mit der chinesischen Gruppe immer als erster in der Kolonne fährt. Die Antwort unseres Chefs möchte ich hier nicht im Wortlaut wiedergeben.

2 Als sie nach Stalins Tod und teilweiser Entlarvung 1959 in den Angaben über die Ergebnisse der ersten Nachkriegsvolkszählung wieder erschienen, hatte sich die Zahl beispielsweise der Tschetschenen gegenüber 1939 um 22 Prozent verringert. Wenn man bedenkt, daß sich ihre Zahl im vergleichbaren Zeitraum von 1959 bis 1979 von 418 000 auf 756 000 nahezu verdoppelte, dann vermag man zu ermessen, wie hoch die durch die Verschleppung verursachten Verluste tatsächlich waren.

3 Daß es knapp zwei Jahrzehnte später zu einem von zwei Dritteln der Wähler, die an der ersten geheimen Wahl in der DDR teilnahmen, gewollten bedingungslosen Anschluß an die BRD kommen und dieser zu einer durch Fremdbestimmung geprägten Kolonialisierung und Deindustrialisierung der DDR ausarten wurde, konnte damals niemand ahnen. Und noch weniger, daß dies zu einer von den Apologeten der „Wiedervereinigung" als „Ostalgie und „Mauer in den Köpfen" beklagten Ausprägung einer besonderen ostdeutschen Identität bei einem großen Teil der Ex-DDR-Bürger führen wurde.


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