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Die Initialzündung

Die Initialzündung für diese Massenbewegung, die innerhalb weniger Wochen - ausgehend von den seit August stattfindenden Leipziger Montagsdemonstrationen - die ganze DDR erfaßte und mit dem „Mauerfall" am 9. November die Welt bewegte, war bereits im Frühjahr erfolgt. Die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 waren es, die das Faß zum Überlaufen brachten. Die DDR-Bürger waren wieder mal aufgerufen, mit der Wahl der Kandidaten der Nationalen Front1 für die Stadt- und Gemeinderäte sowie für die Bezirkstage ein „überzeugendes Bekenntnis zu ihrem Staat" abzugeben. Die politische Stimmung im Lande brodelte, die erstarrten gesellschaftlichen Verhältnisse im osteuropäischen Block waren in Bewegung geraten. Gorbatschow - seit 1985 Partei- und Staatsoberhaupt in der Sowjetunion - hatte Reformen eingeleitet. „Perestroika" (Umgestaltung) und „Glasnost" (Offenheit) waren die Leitbegriffe. In Polen standen Oppositionskandidaten auf den Wahllisten - etwas völlig Neues in einem sozialistischen Land. Gorbatschow, von vielen hier zu Lande voller Sympathie „Gorbi" genannt, war Hoffnungsträger für einen besseren Sozialismus. Aber nicht wenige - zu denen gehörte auch ich - beschlich die Sorge, wohin soll das führen, wenn alles überall in dem riesigen, an übermäßige Zentralisation gewohntem Lande auf einmal in Frage gestellt wird. „Konzeptionen hatten wir zur Genüge, die haben uns nicht vorwärts gebracht, jetzt verzichten wir darauf und machen einfach Politik auf neue Art". So etwa habe ich die Worte eines Genossen aus Leningrad (heute wieder Petersburg) in Erinnerung, der an der Leipziger Karl-Marx-Universität (KMU) in einem Diskussionsforum über die Perestroika in der Sowjetunion sprach. Daß eine grundlegende Änderung der Politik erforderlich war, daran gab es keinen Zweifel. Aber diese Art und Weise! Kann das nicht für das Land und seine Bürger in einem Chaos enden? Das war nicht nur meine Sorge - wie die weitere Entwicklung zeigte, nicht unbegründet. Auf jeden Fall, das, was in der Sowjetunion und in anderen sozialistischen Ländern vor sich ging, verstärkte die Unzufriedenheit mit den erstarrten politischen Verhältnissen in der DDR. Das damalige Politbüromitglied Kurt Hager sprach zu all dem noch den bildhaften Vergleich aus: „Wenn der Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, dann muß ich nicht ebenfalls meine Tapeten wechseln." Das provozierte, und die Unzufriedenheit mit der Politik von Partei und Regierung wuchs noch mehr an. So war die Situation vor den Kommunalwahlen im Frühjahr 1989.

Als besonders befreiend erlebt

Am 3. Oktober 1988 wurde ich endgültig von meiner ehrenamtlichen Funktion als Sekretärin der SED-Grundorganisation der Sektion Psychologie der KMU entlastet. Immerhin hatte ich diese Funktion acht Jahre lang ausgeübt - die meiste Zeit über nicht ungern, obwohl das sehr zeit- und kraftaufwendig war.

Nun kandidierte ich nicht wieder, meine Abberufung als Hochschuldozentin stand mit der Vollendung meines sechzigsten Lebensjahres bevor. Kein Gedanke daran, daß genau zwei Jahre später das Aus für die DDR-Realität sein könnte.

Den Zeitpunkt, diese Funktion abgeben zu können, den habe ich jedoch herbeigesehnt. Es wurde im letzten Jahr immer schwieriger, dem Druck von oben und von unten standzuhalten. Die übergeordnete Leitung erwartete von „ihren" Parteisekretären, daß sie die politische Situation in den Institutionen beherrschen, die Lage im Griff haben. Und die Genossen meiner Grundorganisation, aber auch Parteilose und Angehörige von anderen Parteien (unter den Sektionsangehörigen und Studenten gab es, bis auf die Bauernpartei, Mitglieder aller anderen Parteien), erwarteten von mir, daß ich „oben" Klartext rede, wie es „unten" aussieht, damit „die da oben" endlich begreifen: Es kann so nicht weiter gehen. Schwer auszuhalten. Das Bild „Sandwich-Position" - Druck von oben und von unten - charakterisiert das recht gut. Damit wird vielleicht auch verständlich, daß ich mit der Entlastung von meiner Funktion als besonders befreiend erlebte, bei den bevorstehenden Wahlen nicht mehr den Streß des Wahltags aushalten zu müssen. Dazu muß man wissen: Die Studenten wählten (in den letzten DDR Jahren) am Studienort - bei uns an der Uni in für sie eingerichteten Wahllokalen. Als Parteisekretärin hatte ich zu bestimmten Zeiten den Stand der Wahlbeteiligung an meine übergeordnete Leitung zu melden und, da das bei „unseren" Studenten immer sehr schleppend verlief, „Maßnahmen" einzuleiten. Von Mittag an ging das auf die Nerven. Und der Gipfel: Die Psychologen hatten immer ein oder zwei Nicht -wähler - letztens als einzige Sektion der KMU. Heute schwer zu begreifen, einfach irre, daß das ein Problem war und einem so zusetzen konnte. Aber so war es, so waren wir.

Bei der letzten Wahl, die ich in meiner Funktion miterleben mußte, war ein Student nicht zur Wahl gegangen. Am nächsten Tag bekam ich einen Anruf vom Ersten Sekretär der SED-Leitung der Uni (und nehme an, er vorher einen von der Bezirksleitung). Auf jeden Fall sollte ich in Erfahrung bringen, warum dieser Student nicht wählen war. Einen blöderen Auftrag hatte ich selten. Ich reagierte gewohnt diszipliniert - vielleicht ehrlicher gesagt, anpasserisch. Ich wehrte mich nicht offen gegen dieses Ansinnen, sondern suchte nach einer Möglichkeit, die Information so mehr nebenbei zu erlangen. Am Plan sah ich, wo dieser Student Vorlesung hat, wartete die Pause ab und hoffte, er würde sich in der Mensa am Frühstücksbuffet anstellen. Es klappte. Ich stand dann hinter ihm und sagte: „Ich war gestern zur öffentlichen Auszählung im Wahllokal und kriegte mit, Sie waren gar nicht wählen?" Eine Frage erübrigte sich. Er sagte von sich aus: „Ja, ich hatte mir vorgenommen, diesmal gehe ich nicht wählen. Bei der letzten Wahl war ich Armee-Angehöriger und erlebte sehr unangenehm den Zwang zum Wählen." „Also, sie hatten ihre ganz persönlichen Gründe", so etwa war meine Reaktion.

Blöde Situation. Deshalb ist mir das auch so gut in Erinnerung geblieben.

Diesmal Nägel mit Köpfen

Gemunkel und Vermutungen über Wahlbetrug gab es schon längere Zeit. Bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 jedoch, machten Bürgerrechtsgruppen, die sich seit dem letzten Jahr landesweit gebildet hatten, Nägel mit Köpfen. Sie organisierten - so auch in Leipzig - in etlichen Wahlkreisen eine Kontrolle der öffentlichen Stimmauszählung und verglichen die dort von Beobachtern notierten Ergebnisse mit den amtlichen Meldungen. Für die Wahllokale, die sie nicht in ihre Kontrolle einzubeziehen vermochten, nahmen sie das offizielle Ergebnis als stimmig an. Das Resultat: Es zeigte sich eine Nichtübereinstimmung zwischen den amtlich gemeldeten und den bei den Auszahlungen von Beobachtern ermittelten Ergebnissen, also eine Beschönigung der Wahlbeteiligung, bzw. der Zustimmung der Wähler zur Liste der Nationalen Front.

Die Bürgerrechtsgruppen, in denen viele aus kirchlichen Kreisen mitwirkten, wollten ihre Ergebnisse publik machen und Druck in der Öffentlichkeit erzeugen. Sie wandten sich wegen ihres Verdachtes auf Wahlfälschung an die Staatsanwaltschaft, kamen aber damit nirgendwo durch. Ich erinnere mich, wie eine meiner Mitarbeiterinnen am Ende einer Arbeitsberatung von diesen Aktivitäten einer Leipziger Bürgerrechtsgruppe berichtete und empfand so etwas wie heimliche Freude darüber - hoffte, die Parteiführung mußte doch nun endlich begreifen, solche Beschönigungen von Wahlergebnissen schaden nur uns selbst. Ich wünschte, wir wurden künftig solche „Korrekturen" unterlassen - auch wenn Wahlbeteiligung und Zustimmung zu den Kandidaten der Nationalen Front um ein paar Prozentpunkte zurückgingen, was der Stimmung im Lande entspräche. Ich sah hier eigene Erwartungen und Hoffnungen artikuliert.

Als meine Kollegin mich um Rat fragte, an wen sich die Bürgerrechtsgruppe nun wenden konnte, vermochte ich lediglich auf die SED - Bezirksleitung zu verweisen. Das aber hatten die Bürgerrechtler langst getan, ohne wirklich Gehör zu finden. Damit war ich mit meinem Latein am Ende. Ihr Anderes zu empfehlen, verbot sich für mich, baute ich doch darauf, daß von oben ausgehend, sich baldigst etwas verändert.

Prozesse wegen Verdacht auf Wahlfälschung gab es erst nach dem Beitritt der DDR zur BRD - auch Verurteilungen. Zum Beispiel traf das den damaligen Oberbürgermeister von Leipzig. Mein Kommentar dazu: Den Letzten beißen die Hunde. (Mit den „Letzten" sind nicht die ehrenamtlichen Wahlvorstande gemeint, sondern die hauptamtlichen Zahlenmanipulierer auf Kreis- und Stadtbezirksebene, die unter Erfolgsdruck an ihren Computern für ein „gutes" Wahlergebnis „kämpften".) Egon Krenz, oberster Wahlleiter der Republik, konnte sicher mit bestem Wissen und Gewissen sagen, daß er die Zahlen, die bei ihm im Zentralcomputer ankamen, nicht korrigiert habe. Wer jedoch im Kreis oder in einer Großstadt die Verantwortung für die nach oben weiterzuleitenden Wahlergebnisse hatte - das waren immer Staatsfunktionäre, nicht Parteifunktionäre! - der mußte sich nach dem Beitritt zur BRD, wenn es Diskrepanzen gab und Anklage erhoben war, vor Gericht verantworten.

Den enormen Druck auf hohe Wahlbeteiligung, dem schwer zu widerstehen war, kann einer, der nicht in dieser Mühle steckte, kaum begreifen. Er ging aus von der SED-Führungsspitze, wurde aber nicht etwa vom Generalsekretär selbst, in der Regel nicht einmal von den Ersten Bezirkssekretären, verstärkt nach unten weitergegeben. Das oblag vielmehr Funktionären Hierarchiestufen darunter. Wer denkt, diese müsse man doch dingfest machen können, der irrt; denn wer äußert sich schon beim Suggerieren von unbedingt zu erreichenden Wahlergebnissen mit Worten, die ihm als Aufforderung zur Wahlfälschung ausgelegt werden konnten? Also: Den Letzten beißen die Hunde.

Die hohe Zustimmungsrate zur Liste der Nationalen Front war im wesentlichen durch die Wahlordnung und durch Gewohnheiten programmiert. Es gab kein „Ja" oder „Nein" anzukreuzen, es gab für die Wähler keine Information darüber, was zu tun ist, damit ihre Stimme als Nein-Stimme zählt. Man faltete gewohnheitsmäßig den Wahlzettel und steckte ihn in die Urne. Wer die überall vorhandene Wahlkabine aufsuchte, der fiel auf.

Übrigens, das einzige Wahlfälschungsverfahren gegen einen Ersten Bezirkssekretär der SED lief gegen Hans Modrow, Erster Sekretär der Bezirksleitung Dresden. Man kann ganz sicher davon ausgehen, daß ihm nicht mehr als jedem anderen Bezirkssekretär vorgeworfen werden konnte. Es drängt sich der Verdacht auf, dieses Verfahren kam primär zustande wegen seines politischen Wirkens in der Endphase der DDR, wegen seines Rufs als Hoffnungsträger, den er in breiten Kreisen der DDR-Bevölkerung genoß.

Zeigt das ganze nicht: Es ist unsinnig, hier isoliert Wahlbetrug aufdecken zu wollen. Was hier ablief, war eingebunden in die Ideologie und in festgefahrene Strukturen des Staates. So, wie sich das entwickelt hatte, entsprach das nicht, beziehungsweise nicht mehr, den sozialistischen Idealen, die sich für mich, wie für Hunderttausende andere mit der Gründung der DDR und dem Ziel des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft verbunden hatten.

Ingetraud Lander-Berndt


1 Ein Aktionszusammenschluß aller politischen Parteien und Massenorganisationen der DDR, der auch die Listen der Wahlkandidaten aufstellt. Außer der SED, laut DDR-Verfassung die führende Partei, gab es die Christlich-Demokratische Union (CDU), die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD), die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD), die National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD).


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