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Die Antihelden vom „Heldendorf“ und ihre früheren Streiche

Neuglobsow - ein Ort, ein Dorf und ein Name wie Saitenklang, zumindest in den Ohren vieler ehemaliger DDR-Bürger, die sich an einen unvergesslichen Urlaub dort im Norden der Mark Brandenburg erinnern können, kurz bevor Mecklenburg beginnt. Doch bereits schon viel früher war Neuglobsow nicht nur als beliebter Luftkurort weithin bekannt, sondern durch den Stechlinsee am westlichen Dorfrand geradezu berühmt. Und dieser wiederum verdankte seinen Ruhm dem Roman „Der Stechlin" und damit Theodor Fontane, der ihn geschrieben hat.

Der Neuruppiner Apothekersohn, der sich u. a. als „Wanderer durch die Mark" einen Namen machte, hatte bereits vor über hundert Jahren - als an Radio und Fernsehen noch gar nicht zu denken war - diese Region achtzig Kilometer nördlich Berlins nicht nur einmal treffend und trefflich beschrieben. Auch in Neuglobsow sind seine Spuren in Gestalt von Hausinschriften festgehalten und künden noch heute von seinem Aufenthalt. Am Fontanehaus ist z. B. die für ihn typische Überlieferung zu lesen: „Guter Rat: An einem Sommermorgen da nimm den Wanderstab, es fallen Deine Sorgen wie Nebel von Dir ab."

Neuglobsow hat gegenwärtig etwa 500 Einwohner und besteht seit 1754. In diesem Jahr kamen die ersten Kolonisten in die scheinbar gottverlassenen Wälder am Stechlinsee. Angelockt wurden sie durch die Glashütte von Friedrich Gottfried Pirl, die Arbeit und Brot versprach und aus heutiger Sicht so etwas wie eine „Strukturanpassungsmaßnahme" von Preußens König Friedrich Zwo war. Die Wälder lieferten den Brennstoff, der See das Wasser, und die märkische Streusandbüchse gab das Ihrige ab, um feinstes Apothekerglas in Grün und Schwarz schmelzen und blasen zu können. Bis nach Hamburg verkaufte Pirl seine Erzeugnisse. Trotzdem konnte das Dorf davon allein nicht leben, zumal die nahe Grenze zu Mecklenburg verführerisch auf mancherlei Gelichter wirkte und den Warenschmuggel von Preußen nach dort enorm beförderte.

Aber schon zu Fontanes Zeiten fühlten sich immer mehr Erholungssuchende nach Neuglobsow hingezogen, natürlich angespornt vor allem durch seine lebhaften mündlichen und schriftlichen Schilderungen. So ist es ganz sicher auch ein bleibendes Verdienst des märkischen Dichters, dazu beigetragen zu haben, dass sich Neuglobsow von einem Glasbläserdorf zu einem beliebten Luft-, Bade- und Kurort entwickelte. An den Ufern des Stechlin- und Dagowsees entstanden Villen und Sommerresidenzen besonders der Berliner begüterten Gesellschaft. Ebenso fanden hier Künstler - wie Maler und Schriftsteller - eine schöne, ruhige Bleibe, die ihr Schaffen mit sehr natürlichen Anregungen und Eingebungen bereicherte. Auch Personen der Zeitgeschichte lebten in Neuglobsow. Z. B. der kaiserliche Generalfeldmarschall Karl Litzmann, der sogar 1850 hier geboren worden war und 1936 auch im Ort verstarb. Im Ersten Weltkrieg holte er sich seine Meriten als Truppenkommandeur an der Ostfront und gelangte später als einer der ersten Propagandaredner der NSDAP, der er schon 1929 beigetreten war, zu zweifelhaftem Ruhm. Vor allem auch dadurch, dass die Nazis nach der Unterwerfung Polens im Zweiten Weltkrieg der Stadt Lodz seinen Namen gaben, sie also in Litzmannstadt umbenannten.

Doch ungebrochen ist seit Jahrzehnten der Ruf Neuglobsows als Urlauberdorf. Saison für Saison zog und zieht es Tausende an den Stechlinsee. Schon in den ersten DDR-Jahren begann auch der Gewerkschaftsbund FDGB hier Urlaubsheime einzurichten und mit der Zeit auszubauen. Mehr und mehr lebte der Ort vom Fremdenverkehr. Gut 15.000 Urlauber pro Saison, die sich in den Gewerkschafts- und einigen Betriebsferienheimen - auch als prophylaktische Kurgäste außerhalb der Spitzenzeiten - erholten, waren die Norm. Sie begeisterten sich vor allem an dem unwahrscheinlich klaren Wasser des Sees, über dessen allerbeste Güte das unmittelbar am Neuglobsower Ufer gelegene Institut für Limnologie (Gewässerkunde) wacht. So darf kein Motorboot den See durchpflügen und die Ruhe stören, nur Ruderboote kann man mieten. Doch fast zu jeder Jahreszeit gehören romantische Spaziergänge oder Fahrradtouren sowie fröhliche Feste in Ferien- und Kureinrichtungen zu den Hauptattraktionen am Stechlin. Zu DDR-Zeiten hatte der Ort bereits im Frühjahr besondere Gäste, Tauchsportler aus bis zu 16 Ländern Europas ermittelten hier regelmäßig ihre Meister im Orientierungstauchen. Das superklare Wasser machte Neuglobsow zu einem Dorado der Neptunjünger, und die heutige Tauchschule steht in dieser Tradition.

Als damals verantwortlicher Redakteur der hiesigen Lokalzeitung erhielt ich nicht selten begeisterte Zuschriften von Feriengästen, für die das folgende Beispiel typisch ist: „Als wir auf dem Ferienscheck den Namen ,Neuglobsow' lasen, wussten wir damit nichts anzufangen. Der Name sagte uns nichts. Jetzt vor der Heimfahrt scheiden wir mit Wehmut von diesem Ort der angenehmsten Erholung, die in Worten schwer zu beschreiben ist. Wir kommen wieder!"

Auch das erste Atomkraftwerk der DDR, das am unbewohnten Westufer des Stechlinsees seit 1966 in Betrieb war, tat den Urlaubsfreuden keinen Abbruch. Erst nach der Wende 1989/90 wuchsen Angst und Argwohn angesichts der nun unverblümten Botschaften, dass das unterdessen stillgelegte und im Rückbau befindliche AKW täglich viele tausend Kubikmeter Kühlwasser aus dem Stechlinsee saugte. Doch diese Wende kündigte sich ausgerechnet an dessen Ufern auf eigentümliche, jedoch fast unbemerkte Weise an, weil recht früh im Jahre '89 geschehen.

Der Rote Hahn krähte nicht

Wie jeder Ort, der auf sich hält, hat auch Neuglobsow ein Wappen. Es zeigt einen roten Hahn. Das Wappentier steht für eine Sage, die aus den Tiefen des Stechlinsees entsprungen ist. Fontane hat sie nach den Erzählungen seiner Gastgeber im Dorf niedergeschrieben und somit der Nachwelt erhalten. Nach diesen Schilderungen soll im See ein roter Hahn gelebt haben (und manche glauben, er lebe noch heute dort), der sich nur zu besonderen Ereignissen zu zeigen pflegte. Etwa, wenn der Vesuv oder andere Vulkane auf der Erde aktiv -wurden und Lavamassen ausstießen, wenn weit „hinten in der Türkei" die Völker aufeinander einschlugen oder anderswo eine Naturkatastrophe hereingebrochen war. Dann schäumte der Stechlinsee, dann durfte sich kein Fischer auf den See hinauswagen, sonst war es um ihn geschehen. Der rote Hahn stieg aus den Fluten und zog ihn hinab in die Tiefe. Den symbolischen roten Hahn sieht man heute nicht nur als Wappentier auf dem Schild der Gemeindeverwaltung, sondern auch an Fensterladen und Türen der älteren Häuser. Aber so gern die Neuglobsower auch diese Sage immer wieder erzählen, keiner von den jetzt lebenden Einwohnern hat je den roten Hahn selbst gesehen - auch nicht, als beinahe das ganze Dorf schäumte, und ein gewisser Blätterwald mit der Zeitung „Die Welt" und dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel" an der Spitze zu rauschen begann. „Heldendorf' scholl es flugs aus dem Wald und Neuglobsow geriet bundesweit in die Schlagzeilen, als es noch gar nicht zur Bundesrepublik gehörte. Was war geschehen?  

Quelle: Privatfoto

Blick auf den Stechlin. Der rote Hahn ist nicht zu sehen

  Vor Wahlen galt in der DDR der Brauch, Einheitslisten mit den Kandidaten, die in den einzelnen Bereichen und Bezirken antreten wollten oder sollten, als Wahlvorschlag für den eigentlichen Wahltag aufzustellen. Auch vor der Kommunalwahl, die am 7. Mai 1989 stattfinden sollte, war das so. Am Stechlinsee war es aber etwas anders. Als man auf einer Einwohnerversammlung die Neuglobsower Wahlliste als „Wahlvorschlag der Nationalen Front" abnicken lassen wollte, sagte die Mehrheit überraschend „nein!" und lehnte die Kandidatenkür rundweg ab. Das hatte mehrere Gründe. Der damalige Bürgermeister, ein Mitglied der SED, stand allein schon wegen Trinkerei in keinem guten Ruf, darüber hinaus wurde ihm öffentlich vorgeworfen, ein Weiberheld zu sein. Gleich ihm hätten es auch noch einige andere Mitglieder des Rates der Gemeinde getrieben, sodass sie folgerichtig bei der Bevölkerung - wie man sagte - unten durch waren. Obwohl es im Gemeinderat bereits vor der Versammlung kritische Meinungen und Distanz zu diesen unappetitlichen Sachen gab, sogar eine Streichung der betreffenden Personen von der entworfenen Wahlliste erwogen worden war, wiegelte die SED-Kreisleitung Gransee, in deren Zuständigkeitsbereich das Dorf lag, alle Forderungen der Neuglobsower Basis ab und beharrte auf dem Prinzip: „Wir haben die Liste bestätigt und dabei bleibt es. Basta!" Ukas aus der Kreisstadt. Und schon im „Spiegel" vom 3. April 1989 konnte man lesen: „Die Zurückhaltung der ostdeutschen Medien leuchtet ein: Was sich in Neuglobsow am Stechlinsee abspielte, war eine für die SED peinliche Revolte der Basis gegen Arroganz und Filz des Parteiapparates ... Bei der Abstimmung im Jägersaal des Lokals ,Seeterrassen' votierten 20 der etwa 100 anwesenden Wahlberechtigten für den Bürgermeister, 30 waren gegen ihn, die andere Hälfte enthielt sich. Mit dem Bürgermeister kippten die Wähler fünf weitere Kandidaten der SED-Kreisleitung."

Zum Jahrestag der insgesamt wenig rühmlichen Kommunalwahlen - am 7. Mai 1990    - wollte nun die Zeitung „Die Welt" den Ruhmeskranz winden: „Vor gut einem Jahr nahmen die ebenso eigenwilligen wie selbstbewussten Leute von Neuglobsow die Kandidatenvorschläge der Staatspartei mit spitzen Fingern vom Tisch und warfen sie in den politischen Papierkorb. ... Das Wort vom ,Heldendorf’, Minimalform der Heldenstadt Leipzig, war geboren."

Wenn das Gasthaus zur „Amtsstube" wird

Die Einwohner von Neuglobsow schmunzeln höchstens, aber niemals - das soll nicht unerwähnt bleiben - wollten sie sich wegen ihres 89-er Tuns und Lassens als Helden melden oder gar ihr Dorf mit dem Ehrentitel „Heldendorf“ versehen. Doch die dargestellten Sachverhalte entsprechen ihrem Erleben, und so sagen sie auch mit einer gewissen Genugtuung: „Genau das war geschehen: In selbstherrlicher Weise hatte eine übergeordnete Leitung stur auf einen von ihr verordneten Wahlvorschlag beharrt, der vor Ort schon längst als unhaltbar erkannt worden war." Versammlungsteilnehmer schildern die Vorgänge im Jägersaal noch weitaus detaillierter und plastischer. Allerdings räumen sie auch ein, dass allein wegen der Kapazität niemals 100 Menschen in diesem Saal Platz gefunden hätten. Allein der Tabak- und Alkoholkonsum habe aber dieser Zahl gerecht werden können. Dementsprechend sei auch die Veranstaltung verlaufen. „Ein einziges Tohuwabohu!" Zur Diskussion über den eigentlichen Wahlvorschlag, berichteten mir Zeitzeugen weiter, sei es gar nicht gekommen, weil ein regelrechtes Trommelfeuer an Vorwürfen auf den Bürgermeister und seine Ratskumpane einprasselte. Da unter diesen Umständen natürlich keine gemeinsame Wahlliste bestätigt werden konnte, blieb demzufolge auch ein formeller Beschluss aus. Und ohne Beschluss war keine Kandidatenliste gültig, also wurde fortan auch die alte umstrittene, aus Gransee vorgegebene, gegenstandslos.

Der spezielle Unmut der Neuglobsower wurde natürlich auch durch die wachsende allgemeine Unzufriedenheit mit der DDR genährt. Im Nachhinein erschrak man vor dem Ausmaß, in dem viele berechtigte Anliegen der Bürger herzlos und bürokratisch abgetan und ignoriert wurden. In Neuglobsow kam hinzu, dass man den Bürgermeister mehr im Gasthaus als in seiner Amtsstube antreffen konnte. Für die wichtigen Anliegen der Naturschützer und Ökologen, die sich regelmäßig unter dem Dach der Kirche trafen, hatten er und seine zuständigen Räte kein Ohr, sondern nur abweisende Arroganz und demonstrative Missachtung übrig. So sammelte sich im Laufe der Zeit viel Sprengstoff am idyllischen Stechlinsee an. Und zu allem Überfluss wuchs - wie auch an anderen Orten - eine zunächst unsichtbare aber latente Grenze zwischen „Ureinwohnern" und „Zugezogenen". Die damit verbundenen unterschwelligen Gegensätze hatten sich bereits früher einmal entladen, in den siebziger Jahren, als die Neuglobsower ebenfalls einen Bürgermeisterkandidaten durchfallen ließen, einen „Fremden", den ihnen die Partei von außen „aufdrücken" wollte.

Die Wellen schlugen bis ins SED-Politbüro

Nach der Wahlkampfveranstaltung vom 21. März 1989 im Jägersaal der „Seeterrassen" gab es ein böses Erwachen auf allen Leitungsebenen, die über dem Stechliner Wasserspiegel lagen. Nie zuvor rollten so viele Dienstlimousinen mit Berliner oder Potsdamer Kennzeichen gen Neuglobsow. Eine Delegation nach der anderen rieb die Klinke an der Tür zum Gemeindebüro blank. Von überall her hagelte es Ratschläge, gute, wie man meinte. Und noch heute bietet dieses hektische Kommen und Gehen den Dorfbewohnern bannig Gesprächsstoff. Den Ärger mit den Führungen auszubaden hatten aber die Verantwortlichen des Rates des Kreises Gransee - denn die Parteileitung hatte natürlich keine Fehler gemacht, wie immer hatte die Partei nur Recht.

Doch, o Wunder, was vorher nicht nur in Neuglobsow versäumt und vernachlässigt wurde, nämlich offen auf die Fragen der Menschen einzugehen, sie bar jeder eingefahrenen Routine für die konstruktive Mitarbeit an der Lösung von anstehenden Problemen zu gewinnen, stand plötzlich in den wenigen Tagen bis zum 30. März 1989, dem verbindlichen letzten Termin für den Abschluss der Kandidatennominierung, im Ort zur regen Debatte.

Es ist verbürgt, dass die Ablehnung der ursprünglichen Kandidatenliste in Neuglobsow Wellen bis nach Berlin ins SED-Politbüro schlug. Immerhin war ja auch der DDR-Wahlleiter Egon Krenz Mitglied dieses höchsten DDR-Führungsgremiums. Und er zeigte sich von der Entscheidung der Neuglobsower sehr angetan. Ihr energisches Aufbegehren begrüßte Krenz als Bereicherung der sozialistischen Demokratie. An diesem Beispiel hätte sich gezeigt, wie mündige Bürger von ihren demokratischen Rechten Gebrauch machten, indem sie das Wahlgesetz der DDR richtig anwandten. Und es ist ebenso verbürgt, dass in derselben Politbürositzung der SED-Generalsekretär Erich Honecker - und als dessen Lautsprecher das Politbüromitglied Horst Dohlus - diese bis dato unerhörte Begebenheit als Inkarnation der „Konterrevolution" bezeichneten, der man sofort und entschieden entgegentreten müsse. Diese zwiespältige Haltung ganz oben wirkte natürlich nicht gerade beruhigend, sondern vielmehr äußerst verunsichernd auf die ganz unten im Ort agierenden Verantwortungsträger. Trotzdem gelang es ihnen, auf mehreren, auch mitunter diffizilen Wahlveranstaltungen, neue Kandidaten für eine gemeinsame Liste zu gewinnen und damit die in Misskredit geratenen und von der Bewohnermehrheit abgelehnten Funktionäre aus dem Wahlvorschlag und ihren Ämtern zu entfernen. Als neue Bürgermeisterkandidatin fand sich eine 32-jährige Mutter von zwei Kindern, Mitglied der SED und Angestellte der Zivilverteidigung im Kreis Gransee, deren Leumund im Dorf unbeschadet war, die auch mit dem früheren Filz und Bürgermeisterschlendrian nicht in Berührung stand. Dennoch wussten alle - und sie spielten damit auf ihren Familiennamen an - dass die Spitzenkandidatin für Neuglobsow ein „Notnagel" war. Trotzdem muss man der jungen Frau noch heute Anerkennung zollen, dass sie den Mut fand, sich in dem brodelnden Dorf am Ende der DDR (temporär und geografisch) der angetragenen Verantwortung zu stellen.

Mehrheit unterstützte neuen Anlauf

Noch innerhalb der gesetzlichen Frist - am 29. März 1989 - fand dann die entscheidende Versammlung zur Aufstellung und Bestätigung der Kandidatenliste der Nationalen Front statt. Veranstaltungsort war diesmal der große Saal im Urlauberzentrum „Stechlin" und gut zwei Drittel der Wahlberechtigten des Dorfes strömten dorthin. Das Protokoll vermerkte, dass 221 von 325 Wahlberechtigten teilgenommen hatten. Damit auch alle Ortsansässigen Platz bekamen, mussten erstmals Einlasskontrollen vorgenommen werden, da auch viele neugierige ortsfremde Besucher in den Saal drängten und womöglich den Einheimischen, auf die es ja gerade an diesem Abend ankam, nur einen Platz vor der Tür gelassen hätten. Und diese kamen wirklich mit gestrafften Körpern und machten die Aussprache zu einer lebendigen, kritischen und selbst-bewussten Demonstration ihrer Genugtuung darüber, dass sozialistische Demokratie einschließt, in gegebenen Fällen „nein" sagen zu können und notfalls auch gegen komplette Wahlvorschläge zu stimmen. So fand die neue Kandidatenliste, auf der Vertreter von SED, CDU, FDGB u. a. Organisationen für die Kommunalwahlen nominiert waren, schon allein wegen ihrer Entstehungsgeschichte allgemeine Zustimmung. Lediglich zwei Gegenstimmen registrierte der Versammlungsleiter am Ende der Abstimmung, und die stammten von den Angehörigen eines gescheiterten Kandidaten, der auf der ersten, abgelehnten Liste stand.

Am Sonntag, dem 7. Mai 1989, war dann Wahltag in Neuglobsow. Aber keiner wie sonst immer. Mit seiner praktischen und konsequenten Probe auf die sozialistische Demokratie hatte das Dorf weithin Aufmerksamkeit erregt und illustre Gäste angelockt - aus der Kreisstadt, der Bezirksstadt und selbstverständlich auch aus der Hauptstadt. Sogar eine Korrespondentin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ließ sich akkreditieren und erhielt die ansonsten unübliche Erlaubnis, die Wahlen den ganzen Tag über unmittelbar im Wahllokal zu verfolgen. Doch das war sicher nicht der Grund, weshalb sich damalige Wähler erinnern, mit angenehmeren Gefühlen als früher an die Wahlurne getreten zu sein. Etwa 145 Wahlberechtigte, so konnte die Journalistin notieren, trafen ihre Entscheidung in der Wahlkabine. Andere sagten: „Ich kenne die Kandidaten, habe ihnen schon bei ihrer Aufstellung öffentlich zugestimmt, also kann ich sie jetzt auch offen wählen."

Um 18 Uhr begann nach Schließung des Wahllokals die Stimmenauszählung, zu der sich neben aufmerksamen Dorfbewohnern auch noch weitere Pressevertreter eingefunden hatten. Ergebnis: Alle im Wahlvorschlag genannten Kandidaten wurden mit zum Teil großer Mehrheit gewählt. Doch zwischen ihnen gab es diverse Abstriche. Die geringste Zustimmung betrug 60 Prozent, doch auch sie bedeutete „gewählt", und das Gesamtergebnis glich einem Bekenntnis des „Heldendorfes" für seine Kandidaten der Nationalen Front.

Denken Beteiligte und Verantwortliche von damals an diese Zeit, kommt noch immer zur Sprache, wie beschämend die Einsicht war, dass viel zu wenig gegen die verordnete „Disziplin von oben" getan worden war. Unterschwellig habe doch jeder gewusst, was für ein fataler Unsinn es sei, Wahlergebnisse von 99 Prozent erreichen zu wollen und der Welt glauben zu machen. Es habe doch förmlich auf der Straße gelegen, dass solche Zustimmungsquoten in keiner Weise den Realitäten entsprachen. Und sie fragen sich: Warum musste eigentlich jeder agitiert werden, wenn er nur vage zu erkennen gab, dass er nicht zur Wahl gehen werde? „Hatten wir das nötig?", heißt es. Zumeist seien die „Wahlgespräche" sowieso nur vom „Wahlverweigerer" mit dem Ziel angestrebt worden, staatliche Zusagen zu erpressen, die vor Ort ohnehin niemand geben konnte. Im Vordergrund hätten dabei neue und bessere Wohnungen sowie Reisen ins westliche Ausland gestanden. „Gibst du mir - gebe ich dir", lautete die Devise für dieses fatale Geschäft. Dabei wäre an seinen realen Wahlergebnissen der Sozialismus gewiss nicht gescheitert, so die Überzeugung vieler damaliger Akteure. Und sie haben auch gleich die aktuellen Vergleiche in Form von Wahlresultaten im heutigen Deutschland bei der Hand. Ob auf Bundes- oder Landesebene können sich die Regierungen eigentlich nur auf 30 bis 40 Prozent aller Wahlberechtigten stützen, wenn in der Regel lediglich 70 und weniger Prozent ihr Recht auch wahrnehmen und die Opposition auch Stimmen abfängt. Umso deutlicher wird vor diesem Hintergrund die Hirnrissigkeit des von den DDR-Führungszirkeln bei jeder Wahl forcierten Kampfes um die 99 und mehr Prozentpunkte für die „Kandidaten des Volkes". Es war nur folgerichtig, dass dieses Volk solche Wahlen schließlich für „verrückt" erklärte. Und das war auch einer der Gründe dafür, dass der Staat DDR schließlich mangels Demokratie unterging. Daher glauben am Stechlinsee (und nicht nur dort) auch immer mehr Leute, Neuglobsow hätte für die ganze DDR Beispielwirkung haben müssen. Doch dafür hatte allerdings das Dorf viel zu spät aufgetrumpft. Wenn sie alle ihre Sinne geschärft hätten, wäre ihnen vielleicht der rote Hahn über dem Stechlinsee erschienen und sie hätten den roten Gockel nicht solange walten lassen.

Manfred Halling


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