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Heimkehr in ein fremdes Land

Vor meiner ersten Ausreise in die ehemalige Sowjetunion hatten mich meine Kollegen und Freunde mit Verwunderung gefragt, warum ich mich wohl entschlossen habe, für Jahre zur Erdgastrasse zu gehen; denn nie hatten sie bei mir dieses Ziel vermutet.

Das Feuer in mir wurde geschürt durch Erzählungen über die Trasse. Ich entschloß mich zu diesem Schritt, weil es mich packte wie im Fieber. Sicher - wenn ich ehrlich bin - habe ich auch an das Geld gedacht, das ich für meine Arbeit da draußen bekommen würde. Doch es reizte mich mehr, Land und Leute kennenzulernen, mich den Herausforderung zu stellen, den gewaltigen Bau der Verdichterstationen hautnah zu erleben. Ich kann es nicht leugnen, daß ich mir in reifen Jahren ein großes Abenteuer versprach ...

Mit Erwartung, hin- und hergerissen zwischen leiser Furcht vor dem Unbekannten und enormer Neugier sah ich am 7. Juli 1985 meiner ersten Ausreise entgegen.

Nicht jeder durfte zu dieser Zeit an einem Auslandseinsatz teilnehmen. Diejenigen, die dort arbeiten und leben durften, wurden sorgfältig ausgewählt. Es sollte eine Ehre sein für die, die sich nichts zu Schulden haben kommen lassen. Sie mußten zu den gegebenen Zeiten voll zur DDR stehen und das SED-Regime befürworten. Auch durfte keiner von diesen auserwählten Leuten Kontakt zu Menschen kapitalistischer Länder haben - das wurde von der Staatssicherheit überprüft.

Vieles Neue stürmte auf mich ein, das mich verwirrte - und, ich weiß heute mit Sicherheit: Ich habe etwas Außergewöhnliches, Gigantisches erlebt! Der Bau der Erdgastrasse, die Verdichterstationen, war ein bahnbrechendes Objekt!

Oft war es nicht leicht unter den harten Bedingungen dort im Ural. Es gab viele harte Arbeit am Zwölf-Stunden-Tag, die extremen Witterungsbedingungen und auch das Zusammenleben im Wohnlager mit kaum möglicher Privatsphäre.

Wir sahen uns konfrontiert mit der extremen Hitze im Sommer, verbunden mit Bergen von Schlamm und Mückenschwärmen, dem Winter mit extremen Minusgraden, gewaltigen Schneestürmen und den riesigen Schneemassen.

Schon vor meiner ersten Ausreise wurde ich über das Leben auf der Baustelle unterrichtet - ich war auf alles gefaßt: Die harte Arbeit, die Länge eines Arbeitstages, über das Zusammenleben im Wohnlager, über Heimweh, das schmerzlich sein kann, über Entbehrungen, Freuden, Kameradschaft.

Auf alles - bis auf eins:

Von Einheimischen, die ich näher kennenlernte und mit denen mich bis zur heutigen Zeit Freundschaft verbindet, erfuhr ich von ihrer Not und bitteren Armut. Kaum gab es dort im Gebiet Lebensmittel zu kaufen, und wenn - dann nur mit Talonkarten. Z. B. bekam eine vierköpfige Familie siebenhundert Gramm Wurst oder Fleisch im Monat. Die Hauptnahrung der Leute bestand aus Brot, Nudeln, Kartoffeln, Weißkohl und Buchweizengrütze.

Viele Leute gab es im Ort, die nichts zu essen hatten. Ernährungsprobleme gab es überall im Ural. Ich sehe noch die Kinder vor mir, die bettelnd an unserem Lagertor standen.

In einer Nacht, die sich besonders markant hervorhob und mein Inneres beben ließ, sind Halbwüchsige durch eine defekte Stelle der Umzäunung unseres Wohnlagers eingedrungen und zu den Abfalltonnen geschlichen, um diese nach etwas Eßbaren zu durchwühlen. Sie suchten aus unseren Küchenabfällen Brot und Wurst und aßen es mit Heißhunger.

Es war verboten, Lebensmittel aus unserem Wohnlager zu schaffen - ich hielt mich nicht daran! Meine befreundete Familie hungerte - und im Wohnlager hatten wir mehr als genug zu essen; also sorgte ich für meine Familie.

Zwar war die Arbeit hart dort draußen an der Erdgastrasse; doch wir lebten in einer freundlichen, bewährten Gemeinschaft. Einer war für den anderen da. Wir gaben uns gegenseitig Kraft. Der Zusammenhalt untereinander war oberstes Gebot. Das Wort Kameradschaft hatte Gewicht.

Wenn man bedenkt, daß wir Trassenerbauer in einem Fünf-Jahr-Plan 350 Verdichterstationen und 80.000 Kilometer Rohrleitungen verlegt haben, so war das damals eine enorme Leistung! Wir waren die „Kortschagins" jener Tage!

Urengoi war die wichtigste Erdgaslagerstätte in Sibirien. Von dort wurden 1985 über 280 Milliarden Kubikmeter Erdgas - fast die Hälfte der gesamten UdSSR-Jahresleistung - für den Eigenbedarf sowie für den Export in zahlreiche Staaten Europas gefördert. Dafür entstanden 230 Verdichterstationen.

Oder betrachten wir die Jamburger Erdgasleitung: Von dort strömte das Erdgas ab Januar 1989 über die Westgrenze in sechs Bruderstaaten und bringt auch heute noch einen wirtschaftlichen Vorteil für Deutschland.

Wie dem auch sei: Es war nicht nur harte Arbeit, die uns Trassenbauern oft nicht leicht fiel. Es gab auch Zeiten voller Überraschungen. Begegnungen, die wir nicht erwarteten. Denke ich nur an eine ganz besondere Begebenheit, bin ich noch heute überwältigt.

Eines Morgens im Wohnlager Gornosawodsk: Ich hatte den Paß-Bus versäumt, der uns zur Baustelle - ca. zwei Kilometer entfernt - hinausfuhr. Also blieb mir keine andere Wahl, als zu laufen.

Der Morgen war trübe, regnerisch. Mit raschen Schritten lief ich die Plattenstraße hinan. Kurz vor dem linearen Teil - die Rohrleitung Erdgastrasse Jamburg/Jeletz, die schon in der Erde war - spürte ich, daß ich nicht mehr allein war. Etwas befand sich in meiner Nähe, ungewöhnlich, artfremd, erregend.

 

Ein Hund vom Wohnlager?

Nein, es war ein Wolf.

Er stand da, groß, grau, zottig.

Er folgte mir.

Ich blieb stehen, von großer Furcht erfüllt.

Er nahm Platz, neigte seinen Kopf weit nach hinten und zog sein Wolfsgeheul aus der Tiefe seiner Kehle. Es schoß mir bis ins Mark. Ich erblickte mit Erschauern seine fletschenden Zähne, und mir wurde die Gefährlichkeit des wilden Tieres bewußt.

Dort, mitten auf der Plattenstraße, umgeben vom dichten Wald, war kein Mensch in meiner Nähe. Die Baustelle lag noch etwa einen Kilometer entfernt! Nur ein Gedanke beherrschte mich, ob das Tier zum Sprung ansetzte. Ich geriet in panische Furcht.

Nur wenige Augenblicke währte die Szene - Minuten voller Angst und tiefen Beeindrucktseins zugleich! Ich bekam das Gefühl, etwas seltsames, Abenteuerliches und auch etwas mit Schrecken erlebt zu haben.

Diese Begebenheit ist eine von vielen, die ich nie mehr vergessen werde ...

In den fünf Jahren meiner Auslandstätigkeit bewegten mich so viele Dinge, sammelte ich ganz neue Erfahrungen - und, ich muß eingestehen, daß die Zeit dort an der Erdgastrasse im Gebiet Perm einen tiefen Einschnitt in mein Leben bedeutete. Auch diese Zeit ist ein Teil meines Lebens. Vieles hat mich sehr bewegt, gar erschüttert; so daß ich alle meine Erlebnisse und Erfahrungen in meinem Buch „Das blaue Licht" niederschreiben mußte, das vom Dr. Ziethen-Verlag veröffentlicht wurde.

Als ich in meine Heimat zurückkehrte, hatte sich nach dem Wegfall der Mauer so vieles verändert! Die Männer und Frauen mußten ihre jahrelange Tätigkeit in der ehemaligen Sowjetunion aufgeben. Sie kamen zurück in ein völlig neu organisiertes und verändertes Deutschland und sie fühlten sich allein gelassen.

Wie sehr hatte sich das Blatt gewendet, als wir wieder in der Heimat waren. Alles, was einst Bedeutung hatte, war belanglos geworden und besaß vielfach keinen Wert mehr - nicht einmal mehr unsere Währung.

Viele Montagearbeiter standen vor dem Nichts - die Betriebe gab es nicht mehr. Viele Arbeitsplätze waren nicht mehr vorhanden.

Wir Trassenbauer waren gezwungen, uns bedingungslos anzupassen und neue Existenzen zu schaffen. Nachdem wir jahrelang als die Besten gegolten hatten, war es ungewohnt, plötzlich arbeitslos zu sein.

Für viele Leute, die lange Jahre an der Erdgastrasse weilten, war es die Heimkehr in ein fremdes Land ...

Montagearbeiter, die noch vor dem Fall der Mauer in die Heimat zurückgingen, fanden vielleicht noch Gelegenheit, sich in das neue politische System allmählich einzugliedern, was sicher nicht leicht war. Doch Trassenbauer, die nach der Wiedervereinigung heimkehrten, wurden regelrecht „hineingestoßen".

Wir waren gezwungen, uns oft recht hart auseinanderzusetzen in einer Heimat, die wir nicht mehr wieder erkannten - denn die DDR gab es nicht mehr.

Der neue Anfang war schwer in dem wiedervereinigten Deutschland - und doch erfüllt es mich mit Stolz, beim Bau der Erdgastrasse dabei gewesen zu sein!

Monika Kersten


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