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„Überholen ohne einzuholen?!"

Im Zusammenhang mit der historischen Bewertung der DDR wird oft die Propagandalosung „Überholen ohne einzuholen" angeführt. Im Nachfolgenden soll deshalb noch einmal kurz auf Entstehung und Absicht dieser Losung eingegangen werden.

Diese Formulierung entstand in der Zeit, als die DDR versuchte, durch Konzipierung einer neuen Forschungsstrategie das Neue Ökonomische System zu flankieren. Es war die Bildung mehrerer Großforschungszentren ins Auge gefaßt. Auch die Hochschulreform Anfang der siebziger Jahre diente diesem Ziel.

Entgegen der in der öffentlichen Meinung festgeklopften Ansicht, die Losung stamme von Walter Ulbricht, war die wahre Entstehungsgeschichte eine andere. Erstmals sprach vom „Überholen ohne Einzuholen" der Vorsitzende des damaligen Forschungsrates der DDR Prof. Peter-Adolph Thießen, ein anerkannter Experte auf dem Gebiet der Polymerforschung. Thießen meinte damit, daß es möglich sein müsse, Umwege zu vermeiden und auf direktem Wege schneller voranzukommen. Als bildhaften Vergleich wählte er ein Beispiel aus der ebenen Geometrie. Er zeichnete einen Kreis mit den Punkten A und B (siehe Abbildung) und konnte in einfacher Weise demonstrieren, daß der Betrag der Länge des Kreisbogens größer ist, als der Betrag der Länge der dazugehörenden Sekante. Wenn man für die Längenbeträge jeweils den gesamten Forschungsaufwand nimmt, so erhellt, daß diejenige Forschungseinrichtung, die sich vom Punkt A auf der Sekante zu Punkt B bewegt, weniger Aufwand benötigt, als eine andere, die sich entlang des Kreisbogens bewegt.

 

Das Ganze funktioniert jedoch nur, wenn die andere Einrichtung sich auf dem Kreisbogen bewegt und die eigene Einrichtung in der Lage ist, das zu erkennen. Weiterhin muß die eigene Einrichtung fähig sein, sich mit vorhandenem geistigen und materiellen Potential entlang der Sekante bewegen zu können

Dieser geschilderte Sachverhalt wurde dem Schreiber dieser Zeilen auf mehreren Veranstaltungen nahe gebracht: Parteilehrjahr, KdT - Bildungsarbeit, FDJ - Studienjahr und Schule der sozialistischen Arbeit (Gewerkschaft).

Es gereicht Walter Ulbricht zur Ehre, diesen Sachverhalt voll erkannt und in die Parteipropaganda übergeleitet zu haben. Daher ist zu fragen, warum diese Losung nur verkürzt und entstellt wahrgenommen wurde. Ohne eingehende systematische vorwiegend soziologische Untersuchung lassen sich nur Vermutungen anstellen.

Der Hauptgrund dürfte darin liegen, daß die Forschungsstrategie auf halbem Wege stecken blieb. Die Regierung Sindermann wollte oder konnte dieses Konzept nicht materiell absichern. Der Plan der Großforschungszentren wurde fallen gelassen. Die Frage, ob die meisten Bürger in gleicher Weise wie der Schreiber dieser Zeilen mit dem Gesamtkomplex durch geschulte Lehrkräfte vertraut gemacht wurde, müßte präzise untersucht werden. Der Verdacht liegt nahe, daß viele dieser „Propagandisten" selbst die Komplexität der Aufgabe nicht erkannt hatten. Sie beschränkten sich daher auf verkürzte phrasenhafte Darstellungen, die in ihrer plakativen Art weder Hirne noch Herzen ihrer Zuhörer erreichte. Es ist weiterhin eine allgemeine Tatsache, daß bei vielen solcher Veranstaltungen die Zuhörer zum großen Teil nur mit halbem Ohr hingehört haben. Gleichfalls ist belegt, wie bundesdeutsche Medien diese Formulierung mit Erfolg lächerlich gemacht haben. Dies ist um so befremdlicher, da bis auf den heutigen Tag die meisten Innovationen auf ähnliche Weise zustande kommen. Hier wird besonders der unaufrichtige Charakter bürgerlicher Medienpropaganda deutlich.

Für die Zukunft bleibt zu konstatieren: es bedarf großer Sach- und Fachkunde (auch und gerade in der Grundlagenforschung!), wenn man überholen will, gleichgültig, ob durch erhöhtes Entwicklungstempo oder durch Vermeidung von Nebenwegen - also überholen ohne einzuholen.

Ob unsere Spaßgesellschaft dazu künftig noch willens und fähig ist, wird die Zukunft zeigen.

Emil Jevermann