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Kaleidoskop: Vorzeichen für ein Scheitern der DDR
München, 4. Mai 1971: In meinem Hotelzimmer hatte ich das Weckradio eingestellt. Punkt 7 Uhr wurde ich durch die Nachrichtensendung geweckt - und elektrisiert. Die Spitzenmeldung lautete, Walter Ulbricht sei aus Gesundheitsgründen von seiner Funktion als Erster Sekretär des ZK der SED zurückgetreten. Er bleibe weiter Staatsoberhaupt der DDR. Erich Honecker sei Nachfolger. Im Frühstücksraum des Hotels fand ich die großen Zeitungen des Bundesrepublik. Alle machten mit dem Wechsel in der SED-Spitze auf.
Der Führungswechsel erfüllte mich mit tiefer Befriedigung. Aber nicht wegen meiner äußerst ambivalenten inneren Einstellung zu Ulbricht. Gewiß, sein ausgeprägt autoritärer Stil gefiel mir überhaupt nicht. Auch, wenngleich weniger wichtig, störte mich, daß seiner Persönlichkeit keine charismatische Ausstrahlung eigen war - nicht ganz unwichtig in einer Medienwelt, wo Sympathie oder Antipathie für eine Person vielen Menschen ausreicht, Politik und gar ein System zu beurteilen. Andererseits aber war Walter Ulbricht in meinen Augen ein wirklich strategischer Kopf. Seine nicht selten apodiktischen Aussagen zu politischen Fragen waren für das Bedürfnis nach dialektischer Betrachtung zwar oft grob auf den (seinen) einfachsten Nenner reduziert. Aber zugleich waren die „Vereinfachungen" ein Ausdruck seiner Fähigkeit, die Dinge auf einen Kernpunkt zu bringen (Irrtümer eingeschlossen). Darin glich er sehr seinem westdeutschen Widerpart Konrad Adenauer.
Walter Ulbricht war ins Alter gekommen, höchste Zeit, einem Jüngeren Platz zu machen. Erfreulich deshalb der Schritt zum Generationswechsel. So sah es aus - von fern aus München. Für mich war befriedigend: unsere Partei hatte unter den führenden Parteien der sozialistischen Länder zum ersten Male einen Führungswechsel vorgenommen, der nicht durch den Tod oder durch fragwürdige Auseinandersetzungen und politische Rivalitäten bestimmt war. Der Abgelöste konnte in Ehren aufs Altenteil. Der Weg für eine jüngere und kreative Generation war geöffnet. So schien es.
Und der Nachfolger? Charisma hatte Honecker zwar auch nicht. Aber einen Habitus, der volksverbundener, demokratischer zu sein schien. Seine tatsächliche Eignung als Führungsmann war für mich noch schwer zu beurteilen. Mit Erich Honecker hatte ich zweimal eine persönliche Berührung. Das erste Mal - 1953 - unterstützte er, damals Vorsitzender der FDJ, mich in einer Notsituation: 200 zum Studium anreisende koreanische Studenten mußten vorläufig untergebracht werden. Denn ihr Zielort Leipzig war wegen einer Seuche plötzlich unter Quarantäne gestellt. Ganz unkonventiell und ohne jegliche bürokratischen Mechanismen, sozusagen auf Zuruf, stellte Erich die Jugendhochschule der FDJ in Bogensee als Zwischenquartier zur Verfügung. Das zweite Mal unterstützte er die spontane Idee, nach Ausbruch des Suezkrieges Frankreichs, Englands und Israels gegen Ägypten (1956) einige hundert in Frankreich studierende Ägypter zur Fortsetzung ihres Studiums in der DDR einzuladen.
Meine Enttäuschung ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Denn so normal, wie ich annahm, war der Führungswechsel keineswegs. Zwar wurde damals noch nicht bekannt, was heute dokumentarisch belegt ist. Ulbricht hatte nämlich mit einem Rücktritt den Generationswechsel nicht einfach selbst geöffnet. Er war auch nicht etwa in einer offenen Diskussion in der Parteiführung dazu bewegt worden. Vielmehr wurde er nach einer Intrige der Mehrheit des Politbüros bei Breschnew von diesem zum Rücktritt gezwungen. Die Art und Weise, mit welcher Ulbricht beim alsbald folgenden VIII. Parteitag der SED und auch sonst öffentlich abfällig und abwertend behandelt wurde, signalisierte allerdings: Der Wechsel war keineswegs normal. Er war kein demokratischer Vernunft folgender Generationswechsel. Im politischen Kern war es eine Abkehr von Ulbrichts Versuchen, eine moderne Sozialismuskonzeption durchzusetzen. Deren Stichworte: Neues ökonomisches System, Verwissenschaftlichung, Kybernetik, III. Hochschulreform, Rechtspflegerlaß des Staatsrates, Volksdiskussionen über Gesetze (z. B. Arbeitsgesetzbuch, Familiengesetzbuch, neue DDR-Verfassung).
Honeckers Kurs mochte - so auch mir - noch eine Zeitlang als mehr „dem Volke zugewandt" erscheinen. Dafür sprachen: Die bedürfnisorientierte „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik", das Wohnungsbauprogramm, später eine liberalere Genehmigung von Westreisen (bei engeren Verwandtschaftsbeziehungen), in Grenzen auch eine etwas liberalere Kulturpolitik. Hatte er nicht, wenn auch relativierend, gesagt, „meines Erachtens (!) gibt es keine Tabus, wenn von sozialistischen Grundpositionen ausgegangen wird"? Real aber begann unter Honeckers und Günter Mittags Ägide die rapide Außenverschuldung der DDR. In der Arbeitsproduktivität und Wirtschaftseffizienz öffnete sich die Schere zwischen DDR und Bundesrepublik bedrohlich weit. Die Akkumulationsrate sank unter das Niveau, welches die erweiterte Reproduktion der Wirtschaft sicherte. Die DDR begann auf Kosten ihrer ökonomischen Zukunft zu leben. Die offizielle Schönfärberei und der Selbstbetrug der Führung nahmen bald abenteuerliche Ausmaße an. Die Kulturpolitik erhielt wieder stärkere restriktive Züge. Die ideologische Intoleranz nahm zu, wirklicher Meinungsstreit wurde vollends verpönt. Während es unter Ulbricht in den Tagungen des ZK noch Problemdiskussionen gegeben hatte, erschöpften sie sich jetzt in diskussionslosen Erfolgsberichten.
Breschnew unternahm einen Staatsbesuch in der BRD. Mir war äußert peinlich, wie im Fernsehen seine Hinfälligkeit weltöffentlich wurde. Offenkundig war der Mann an der Spitze der Weltmacht Sowjetunion nicht mehr imstande, die Herausforderungen der Zeit zu erkennen und sie zu meistern. Kreativität war vom ersten Mann in Moskau nicht mehr zu erwarten. Dies angesichts der durch die „wissenschaftlich-technische Revolution" eher komplizierter werdenden Herausforderungen an die sowjetischen Wirtschaft. Das Wettrüsten begann nun auf High-tech-Basis.
Breschnews Umgebung ließ es zu, daß er nicht nur sich, sondern auch die Weltmacht Sowjetunion lächerlich machte. Ein Potentat an der Spitze des Sozialismus? Wer sollte nach Breschnews Tod die Führung in der Sowjetunion übernehmen? Andropow war eine Hoffnung, aber sie sollte nur kurze Zeit währen. Krankheit hatte ihn aufgezehrt. Sein Nachfolger Tschernenko erschien nur als Steigerung der Senilität. Weiter Stagnation, weiter keine Kreativität.
In jenen Tagen diskutierte ich mit einem Partner in Bonn die sich so darstellende Lage in der Sowjetunion. Mein operativer Partner arbeitete im Bereich der bundesdeutschen Außenpolitik. Er war welterfahren und von ökonomischem Sachverstand. Er ahnte nicht, daß ich zum Auslandsnachrichtendienst der DDR (HV A) gehörte. Vielmehr glaubte er, ich gehöre zum Topmanagement eines der großen bundesdeutschen Unternehmerverbände. Vor einer Sowjetunion, wie sie von Breschnew und seinem Team verkörpert werde, brauche, nach seiner Ansicht, der kapitalistische Westen keine Ängste empfinden. Außer vielleicht vor der Irrationalität des militär-industriellen Komplexes - da gäbe es wenig Unterschiede zwischen Ost und West. Militärs hätten allenfalls für die Effizienz der Rüstungsproduktion gesorgt, aber nie für eine wirklich volkswirtschaftliche. Eine Sowjetunion und ein Ostblock mit volkswirtschaftlicher Effizienz - das könnte für den Kapitalismus bedrohlich werden. Er wies mich auf die DDR und die CSSR hin, in denen die Versuche erstickt worden seien, die Ökonomie in Richtung auf Effizienz zu reformieren. Dabei dachte er an Ota Šik in der Tschechoslowakei und an das in der DDR beendete „Neue ökonomische System der Leitung und Planung der Volkswirtschaft".
Berlin, Sommer 1981: Ein
Wohnungsumzug steht bevor, deshalb möchte ich den Umfang meiner alten
Aufzeichnungen reduzieren. Bevor ich sie wegwerfe, sehe ich in alte Notizen für
Vorträge, die ich 1961 - also 20 Jahre zuvor - gehalten hatte. Sie befaßten
sich mit der DDR-Außenpolitik und der Systemauseinandersetzung zwischen Ost und
West. Anhand von durchaus eindrucksvollen Produktions- und Zuwachsziffern, z. B.
für Stahl, Steinkohle, Erdöl, Zement usw. hatte ich mich über das ökonomische
Kräfteverhältnis geäußert. Diese Daten hatte ich mit Lenins Gedanken verknüpft,
wonach letztlich das Niveau der Arbeitsproduktivität über den Sieg des
Sozialismus entscheiden werde. Damals, 1961, hatte mir die angestrebte
Arbeitsteilung im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) noch Gewißheit
gegeben, das Kräfteverhältnis werde sich stetig zu unseren Gunsten verändern.
Jetzt, nach zwei Jahrzehnten, fragte ich mich, ob diese Erwartung erfüllt sei.
Ich verglich die alten mit den letzten öffentlich gemachten Zahlen der Staaten
des RGW bzw. des Warschauer Paktes. Hatten sich die Proportionen zugunsten
der sozialistischen Ländern signifikant verbessert? Nein! Hatte die
Arbeitsteilung in der industriellen Produktion eine neue Dimension erreicht?
Nein. Die Stagnation war um so schwerwiegender, als inzwischen das Wettrüsten
auf High-tech-Basis schon im Gange war. Die Bewahrung des militärischen Kräftegleichgewichtes
erforderte, besonders seitens der Sowjetunion, einen vielfach höheren Anteil am
Nationaleinkommen, als er von den USA und den NATO-Staaten zur Sicherung
aufgebracht werden mußte.
Und wie war es um unsere Fähigkeit bestellt, den Ländern der Dritten Welt mit Entwicklungshilfe kräftig zu helfen, ökonomische Selbständigkeit zu erreichen? Bei einem Treff in Bonn erfuhr ich vom schon erwähnten Partner über konkrete volkswirtschaftliche Nöte afrikanischer Entwicklungsländer. Z. B. war Mosambiks Hafenkapazität weitaus zu gering, um rasch und ohne Verluste wichtige Güter entladen zu können. Nur einige Dutzend Millionen Mark hätten als Investitionshilfe einen strategischen Engpaß für Mosambiks Wirtschaft beseitigen können. Westliche Hilfe gab es dafür nicht - aus durchsichtigen Gründen. Wäre dies nicht eine Aufgabe sozialistischer Entwicklungshilfe gewesen? Mosambik war eines jener Länder Afrikas, von denen wir sagten, sie verfolgten nach ihrer Befreiung aus der Kolonialherrschaft eine sozialistische Orientierung. Den strategischen Engpaß des befreundeten afrikanischen Landes zu überwinden, war weder das ökonomische Potential der DDR noch anderer sozialistischer Ländern imstande. Stagnation.
Mit einem meiner Vorgesetzten aus der HVA besprach ich meine Gedanken über diese Stagnation. Bei einer nüchternen realistischen Betrachtung, so gaben wir uns zu, konnten wir uns eines „gesetzmäßigen Sieges" im Systemwettbewerb (der über weite Strecken ja harte Konfrontation war) längst nicht sicher sein. Noch gar nichts war wirklich entschieden. Aber im Vordergrund wurde die Schönfärberei immer penetranter.
Endlich Gorbatschow, 1985: gebildet, jung, agil, für bisherige Gebräuche ganz unkonventionell. Glasnost, Offenheit also, wurde versprochen, die Ablösung der scheinheiligen und Sterilität schaffenden Schönfärberei. Daß eine „Perestroika" nötig war, der von Bürokratie und Schlendrian gezeichneten Wirtschaft zu Effizienz aufzuhelfen, konnte jeder sehen. Mehr oder weniger war uns bewußt, daß auch in der DDR ein neuer Aufbruch nötig wurde. Nur er würde die sich weiter öffnende Schere zwischen Ost und West - vor allem in der Arbeitsproduktivität und in der modernen Technologie - schließen können. Mit Worten und geschönten Statistiken - zum Beispiel über die Bedeutung der Industrieroboter und der Elektronischen Datenverarbeitung (EDV) - war sie nicht zu schließen. Konnte jetzt - anders als bei Ulbrichts Versuch mit dem NÖS - von der Sowjetunion ein Schub ausgehen? Das war die Zuversicht. Die für das eigene Land gehegten Hoffnungen wurden nun auf den Hoffnungsträger Gorbatschow projiziert. Der „junge Mann im Kreml" war das Gegenbild zu den altersstarren bisherigen Führern der SU - und den eigenen in der SED. Die Sympathie für „Gorbi" beruhte nicht zuletzt auf seiner Abrüstungspolitik und darauf, daß er vor der Weltöffentlichkeit den auf seine Wettrüstungs- oder Totrüstungskonzeption fixierten amerikanischen Präsidenten Reagan in eine politische Defensive brachte.
Bonn, Sommer 1987. Wie fast bei jedem Treff hatte ich einen intensiven Meinungsaustausch mit meinem „operativen Partner". Ich wußte um seine Befürchtungen, das Wettrüsten könnte außer Kontrolle geraten. Seine Ängste wurden durch den heiligen und irrationalen Eifer des US-Präsidenten Reagan genährt. Er meinte, dessen Sternenkriegsprojekt werde gewaltige Ressourcen verschlingen, aber die eigentlichen Weltprobleme nicht lösen können, auch nicht den Frieden wirklich sichern. Vor allem werde der sich weiter verschärfende „Nord-Süd-Konflikt" weiter schwelen. Ich war nicht erstaunt, als er Gorbatschows Abrüstungspolitik und die Vorleistungen der Sowjetunion (z. B. Teststops) sowie „vertrauensbildende Maßnahmen" („offener Himmel") begrüßte. Mit den Vorleistungen sei der Westen unter Zwang geraten. Insoweit beschrieb mein Partner ein allgemeines interessantes Phänomen: Während einige Jahre zuvor die DDR für ihre Politik gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen bei vielen Linken und in der Friedensbewegung in der alten BRD noch in gutem Ansehen stand, wurde nach den Gipfeltreffen Gorbatschows mit Reagan in Genf und in Reykjavik die Sowjetunion zum Sympathieträger - diesmal bis ins bürgerliche Lager hinein.
Mein Partner gab seiner Sympathie für Gorbatschows Außenpolitik eine interessante Verknüpfung. Er erläuterte mir: Wenn nämlich dessen Absicht, mit der Perestoika die sowjetische Wirtschaft effizient zu machen, erfolgreich sein werde, dann würden die Sowjetunion und das kommunistische System erstmals zu einer wirklichen Gefahr für den Kapitalismus des Westens. Keine militärische, aber eine strategisch viel wichtigere ökonomische Herausforderung. Mein Partner wollte von mir wissen, wie ich - der ich doch in seinen Augen aus dem Topmanagement der westdeutschen Wirtschaft kam - diese Perspektive betrachte. Ich zog mich aus der Affäre, indem ich von einem noch flüssigen Meinungsspektrum sprach, eine Kristallisation habe noch nicht eingesetzt. Und dann argumentierte ich - in mein „Rollenspiel" übersetzt - so ähnlich, wie die Glasnost- und Perestroikagegner in der SED-Führung: Gorbatschow habe keine rechte Konzeption, eher zeige sich in der DDR-Wirtschaft ein moderneres Konzept. Mein Partner meinte zum Zustand der DDR-Wirtschaft sarkastisch, ich sei wohl vom Selbstbetrug Ostberlins beeindruckt. Zur unzureichenden Perestroika-Konzeption aber gab er zu bedenken, wie schwer es nach den vielen Jahren der Stagnation sei, ein in sich hinreichend zuverlässiges Konzept zu finden und dafür die für den Erfolg nötige Zustimmung derer zu finden, die in konservativer Bequemlichkeit verharrten. Ich muß zugeben, daß er da viel historischer und dialektischer dachte, als jene Kritiker Gorbatschows in der Führung und im Apparat der SED, welche geflissentlich übersahen, daß die Stagnation dort und auch in der DDR eine Folge von Konzeptionslosigkeit war.
Berlin,
1988. An einem Sonntagmorgen rief mich mein Referatsleiter Gerd M. aus der HVA
zu Hause an. Er wolle mir ein Gedicht des in London lebenden Dichters Erich
Fried vorlesen. Ich stutzte. Aus seinem Munde ein Gedicht, und gar von Erich
Fried? Er war mir zwar als ein diskussionsfreudiger Genosse bekannt, aber nicht
gerade als ein musischer Mensch. „Brief nach Moskau" heiße das Gedicht:
Nach
sechzig Jahren Zuversicht, Zweifel, Enttäuschung,
in
denen die Ohren sich nicht vor der Lüge im Namen der Wahrheit
verschließen
konnten, die Augen nicht vor dem Unrecht,
kann
ich jetzt doch noch zwischen mein Alter und meinen Tod
diesen
neuen Lichtblick stellen, der alles verändert,
diese
von Nachricht zu Nachricht deutlicher werdende Hoffnung,
daß
unsere Kinder glücklicher leben könnten, weil endlich
Wahrheit
aufsteht aus verkümmerten Halbwahrheiten
und
dasteht in Menschengestalt, und will Menschliches bringen und wagt es,
zum Sollen das Dürfen zu fügen, zur Frage die offene Auskunft,
und rückt der Freiheit wieder den Stuhl an den
Tisch.
Dies besingen? - Von tiefen Narben gezeichnet,
kann die alte Lust an Liedern für große
Genossen
noch keine Worte finden, die unbeschädigt
genug
und gut genug wären für das Aufatmen und die Freude.1
Weil Gerd das Gedicht Erich Frieds so sehr gefiel, brachte er es gleich unter die Leute. Am nächsten Tage bekam ich eine Fotokopie aus der in Düsseldorf erscheinenden linken „Deutschen Volkszeitung". Obwohl inzwischen in der DDR bereits Gedichte Erich Frieds erschienen waren, hätte eine DDR-Zeitung diese Verse nie bringen können.
Berlin 1989, Sommer. Oberst Rudi H. und ich besprechen meine fast fertige Dissertation zu Problemen der Arbeit im „Operationsgebiet". Wir konstatieren: Gegenüber den sechziger und siebziger Jahren wird es immer schwerer, in der BRD Mitstreiter zu finden, die bereit sind, auf einer politischen oder auf einer weitergreifenden ideologischen Überzeugungsbasis für den Auslandsnachrichtendienst der DDR zu arbeiten. Deshalb verschob sich das Verhältnis der Gewinnung von IM auf unserer eigenen Überzeugungsbasis zugunsten der Werbungen „unter fremder Flagge". (Das sind Werbungen unter der Vorspiegelung, der Werber gehöre z. B. zur CIA oder zu einem westlichen Unternehmerverband etc.) Dieser negative Befund war zweifellos ein Indikator dafür, daß die Überzeugungs- und Anziehungskraft der DDR als Staat sowie der realen gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR nachgelassen hatten.
Wir konstatieren zugleich den Beginn einer vordem ganz unbekannten Entwicklung. In den vorangehenden Jahrzehnten, als die westdeutsche 68er Bewegung und ihre Ausläufer, sowie die Friedensbewegung doch erheblichen Einfluß auf die innenpolitischen Prozesse in der BRD hatten, war von der Sowjetunion kaum eine werbewirksame Anziehungskraft ausgegangen. Faszinationen lösten damals Kuba, Vietnam, China, später auch das Chile Allendes aus. Persönlichkeiten dieser Länder (Che Guevarra, Castro, Ho Chi Minh, Mao) wurden zu gefeierten Symbolfiguren der jungen Linken. Auch die DDR wurde - trotz aller Kritik - aufgeschlossener angesehen und oftmals sogar viel objektiver beurteilt als die Sowjetunion. Das war jetzt ganz anders geworden. Das Bild von der Sowjetunion begann, sich erheblich zu wandeln. Sicherlich, weil auch im Westen der „junge" Gorbatschow als Ausdruck einer Aufbruchstimmung wahrgenommen wurde. Vor allem aber wegen der von ihm betriebenen offensiven Abrüstungspolitik. Diese Wahrnehmung begünstigte zusammen mit dem neuen „Tauwetter" auch eine aufgeschlossenere Wahrnehmung des Sozialismus.
Ausgehend von diesem Befund erkundigt sich Rudi, ob ich in meiner Dissertation nicht zusätzlich das Problem erörtern sollte, wie wir mit Überzeugungswerbungen für die DDR wieder erfolgreicher werden könnten. Ich sage, mehr Erfolg würde am wenigsten von den subjektiven Fähigkeiten unserer Werber abhängen. Eigentlich laufe seine Frage doch darauf hinaus, ein Reformprogramm für die DDR zu entwerfen. Das wurde wohl den Rahmen meiner Dissertation sprengen. Wir vergessen die Dissertation und spuren der Frage nach, wie eine solche Reform beschaffen sein sollte. Ich meine, es wurde gewiß vergeblich sein, die Bundesrepublik in der Attraktivität des Alltagslebens zu überholen. Dafür fehle der DDR die ökonomische Kraft. „Überholen ohne einzuholen" sei langst gescheitert und auch Honeckers Versuch, dies mit Schönfärberei zu suggerieren. Anders als im Falle der Sowjetunion wurden DDR-Bürger und BRD-Bürger die alltägliche Lebensqualität stets durch Augenschein vergleichen und nicht abstrakt. Überhaupt müsse die DDR erst wieder schaffen, von der einfachen Reproduktion zu einer angemessenen Akkumulationsrate zu kommen. Das sei Voraussetzung, die wirtschaftliche Stagnation und deren Wirkung auf den Alltag zu überwinden. Vielleicht wurde dafür sogar nötig, die Bevölkerung - wie 1961 beim „Produktionsaufgebot" - mit einer offenen Begründung zu gewinnen, den Gürtel zeitweise etwas enger zu schnallen. Die Klimaänderung, so sind wir uns schnell einig, könne nur politisch bewirkt werden.
Aber wie? Ich meine, Gorbatschow sei gelungen, mit zwei neuen Ideen weltweit Sympathien zu erwerben, mit seinem Abrüstungskonzept und mit Glasnost. Unsere Idee konnte oder sollte sein, die behauptete sozialistische Demokratie aus einer Deklamation zum alltäglichen, von den Massen durch eigene Beteiligung erlebbaren Prozedere werden zu lassen. So wichtig auch Wahlen und in der DDR eine neue Wahlordnung seien, so wurde doch viel wichtiger sein, die Bevölkerung als Subjekt an der Entwicklung von Problembewußtsein, an der Suche nach Lösungskonzepten und an konkreten Entscheidungen zu beteiligen. Ich berufe mich auf Rosa Luxemburgs Demokratie-Konzeption und auf einen Song des von mir sonst keineswegs geliebten Wolf Biermann: „So soll es sein!". Wenn wir den Mut dazu aufbrachten, wurde die DDR einen Auftrieb und dann auch für ihre Innenpolitik neues Ansehen erhalten. Rudi und ich stimmen überein, daß es nur diesen politischen Ausweg aus der Krise gebe. (Wie man an der zwiespältigen Wortwahl „beteiligen" sieht, war meine Überlegung noch nicht frei vom Avantgardismusdenken.)
Berlin 1989, Spätsommer. Das Politbüro der SED beschloß eine Kampagne: Mit jedem Mitglied der Partei soll ein „Persönliches Gespräch" geführt und protokolliert werden. Jeder Genosse soll sich zur Politik der Partei äußern und eine „Selbstverpflichtung" eingehen. Die Kampagne ist nichts anderes, als eine verdeckte Parteiüberprüfung mit dem Ziel, sich von den „Nörglern und Briefeschreibern" (so Politbüromitglied Dohlus im NEUEN DEUTSCHLAND über kritische Genossen) zu befreien. Offenkundig sollte die Partei gereinigt zu dem für 1990 vorgesehenen Parteitag gehen. Diese Kampagne zeigt die Führung schon hilflos gegenüber der Unruhe in der Parteibasis. Sie versinkt immer mehr in Sprachlosigkeit. Zum „Persönlichen Gespräch" mit mir suchen mich mein Abteilungsleiter, mein Referatsleiter und der Parteigruppenorganisator in der Wohnung auf. (Aus Gründen meiner Konspiration als operativer „Einzelkämpfer" durfte ich MfS-Objekte nicht betreten.) Wir alle sind befreundet und reden seit je ganz offen. Der Parteigruppenorganisator beginnt mit der Mitteilung, die überwiegende Mehrheit der HVA-Offiziere habe in den bisherigen Gesprächen zu Protokoll gegeben, daß sie die Politik der Parteiführung nicht mehr unterstützen könnten. Wie hatte die Parteiführung wohl reagiert, wenn sie noch Zeit und Kraft besessen hatte?
Wenigstens deutet sich an, daß der reformorientierte Teil der SED-Basis sich zu organisieren beginnt. Ende August/Anfang September 1989 ruft mich Oberst Bernd F. an und verabredet mit mir einen kurzen Treff. Er hat nichts Dienstliches zu besprechen. Er gibt mir ein umfangreiches Papier, verfaßt von einer Gruppe von Genossen der Humboldt-Universität. Zum Forschungsprojekt Moderner Sozialismus gehören Michael Brie, Dieter Klein, Rainer Land, Dieter Segert, Rosemarie Will. Ihre Analyse und Vorschlage haben den Titel: „Zur gegenwärtigen Lage der DDR und Konsequenzen für die Gestaltung der Politik der SED." Oberst F. bittet mich um meine Ansicht zu diesem als „parteiintern" bezeichneten Konzept. Ich dürfe es auch unter die Leute bringen. Der Text hat für mich etwas Befreiendes. Hier geht es nicht nur um einzelne Problemaspekte, sondern um eine kritische Gesamtdeutung der DDR-Gesellschaft. Meine eigenen Vorstellungen sehe ich auf den Punkt gebracht, ich fühle neue Hoffnung, die DDR und unser Sozialismusversuch seien zu retten. Doch jeden Abend kommen mir Heinrich Heines Verse in den Kopf: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht."
Berlin, 18. Oktober 1989. Seit jenem Tag, als in ich München von der Wahl Erich Honeckers zum Parteichef erfuhr, sind 18 Jahre vergangen. Ich weiß, das ZK tagt, die Absetzung Honeckers und einiger anderer Politbüromitglieder wird erhofft und hoffentlich auch vorgenommen. Gegen 11 Uhr ruft mich mein Referatsleiter aus dem MfS, Dr. Jörg V, an und sagt mir, gerade eben sei Honecker abgesetzt worden. Zwar gäbe es ein striktes Alkoholverbot, aber nun werde eine Flasche Rotkäppchen geöffnet. Weiteres wußte er noch nicht.
Am 2. Dezember 1989 kehrte, ja eilte ich von einer Kur aus Bad Elster nach Berlin zurück. Es war ein Samstag. Kaum in der Wohnung angekommen, rief ich rief ich Jörg V., meinen seinerzeit unmittelbaren Chef, an und meldete mich zurück. Wir verabredeten, uns sofort zu treffen und gemeinsam zu einer Demonstration zu gehen. Für den Nachmittag hatte die Berliner Parteibasis aufgerufen, sich vor dem ZK-Gebäude zu versammeln. Wir trafen uns vor dem Haus des DDR-Außenministeriums am Marx-Engels-Platz. Der erste Satz nach der Begrüßung lautete: „Krenz muß weg." Aber wer? Jörg meinte, wir brauchten an der Spitze der Partei einen „Thälmann-Typ", einen Genossen mit echter Massenverbundenheit, mit dem sich die Menschen identifizieren konnten. Das war wohl, von heute her gesehen, keine so gute Idee: Unser Thälmann-Bild war noch ziemlich romantisch verklärt. Skeptisch fragte ich Jörg, ob er einen Vorschlag habe und einen halbwegs bekannten Genossen nennen konnte, der wenigstens potentiell Thälmanns Charisma entfalten wurde. „Nein" lautete seine traurige Antwort, „wir haben keinen". Die Partei brauche, so meinte ich, einen gänzlich anderen Typ von Führungspersönlichkeit. Einen Genossen mit souveräner Geisteskraft, konzeptionellem Denken, Überzeugungsvermögen und mit politischem Charme. „Wir brauchen einen Genossen des Typs Paul Levi" war mein Gegenvorschlag. Paul Levi war der Anwalt Rosa Luxemburgs und Mitbegründer der KPD. Nach der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs wurde er Vorsitzender der KPD. „Ja hast du denn einen?" - kehrte Jörg meine Frage um. Ich antwortete, da sei Gregor Gysi zu nennen: Ein konzeptioneller Kopf, aus der kommunistischen und antifaschistischen Tradition kommend, unbefangen und unbelastet von dogmatischer Enge, jung - und mit Charisma. In seinen souveränen Auftritten auf der sozialistischen Protestkundgebung am 4. November auf dem Alexanderplatz, auch in den Fernsehdebatten zur Kritik des vorgelegten unbeholfenen Reisegesetz-Entwurfes habe Gysi sich als Persönlichkeit gezeigt, die meiner Vorstellung entspräche. Ich kannte seine Eltern und wußte, daß die Partei aus diesem Hause einen hochgebildeten Führer bekäme - und einen „Schnelldenker". Jörg fand den Gedanken zwar sehr kühn und gut, aber - jedenfalls angesichts der traditionellen Kaderpolitik der SED - kaum aussichtsreich. Am nächsten Tage wurde er Wirklichkeit.
Wie sich sogleich vor dem ZK-Hause zeigen sollte, war unser beider kritische Stimmung keine Einzelerscheinung. Viele tausend Genossen waren gekommen und zeigten, daß die Parteibasis das Lavieren nicht mehr hinnehmen werde. Die Stimmung war kämpferisch. Weil das Politbüro weiter taktierte und hinhaltend gegen die Forderung nach einem Außerordentlichen Parteitag war, auch weil das ZK-Plenum die Zusammensetzung des neuen Politbüros nur geringfügig geändert hatte, waren wohl die meisten Demo-Teilnehmer mit der Absicht zum Molkenmarkt gekommen, kategorisch die unverzügliche Einberufung des Parteitages - und nicht nur einer Parteikonferenz - zu fordern und nötigenfalls die „neue" alte Führung abzusetzen.
Die Stimmung der Demonstration war erhitzt, aber optimistisch. Eine solche SED-Veranstaltung hatte es noch nicht gegeben. Das war eine Kundgebung völlig neuen Stils. Keinerlei protokollarisches Gehabe. Keine zuvor abgestimmten, gar abgesegneten Reden. Wer reden wollte, ging auf die provisorische Bühne. Im buchstäblichen Sinne des Wort: ergriffen viele Rednerinnen und Redner das Wort: Lehrerinnen, Arbeiter aus Betrieben, Wissenschaftler der Akademie der Wissenschaften. Niemand las vom Blatt, aber keiner nahm ein Blatt vor den Mund. Viel Spontaneität, die sich zu einer Linie und zu einem befreienden Gefühl der Verbundenheit fügte: Wenn sich die Partei entschlossen und mit selbstkritischer Aufrichtigkeit an die Spitze einer wirklichen Wende setze, wenn sie es wäre, die den Mut haben würde zu sagen: „Genossen, wir sind verloren, wenn nicht..." (wie Brecht es Lenin in den Mund legte), dann, aber nur dann könnte vielleicht die Abwendung der Bürger von der DDR aufgehalten und wieder umgekehrt werden. Hier, vor dem ZK-Gebäude, herrschten Witz, polemische Schärfe ohne verletzende Diskriminierung und ein alles durchdringendes Verlangen nach rückhaltloser Aufrichtigkeit. Neben Jörg und mir standen als Zuhörer der damalige Pressesprecher der Ständigen Vertretung der BRD, Bechtle, und der SFB-Journalist Löwe. Sie wunderten sich über das sich hier zeigende andere Gesicht der SED. Schließlich, nachdem Egon Krenz bei seinem kurzen Auftritt Mißfallen ausgelöst hatte, trat Gregor Gysi an das Mikrofon. Seine ersten Worte waren: „Jetzt reicht's!" Sie gingen im Beifall unter: Es war zwar kein formeller Wahlvorgang, was gerade auf diesem Platz stattfand, aber es war die eigentliche Wahl Gysis an die Spitze einer Partei, die nur den einen Weg hatte: Entweder sich aufrichtig und gründlich zu erneuern oder in Schmach unterzugehen. Es war die Absage an eine Rochade und an das Lavieren, es war ein Aufbruch, endlich.
Spät,
sicherlich. Zu spät?
Am nächsten Tage an gleicher Stelle eine erneute Demonstration. ZK und Politbüro traten zurück. Es bildete sich ein Arbeitsausschuß zur Vorbereitung des geforderten Außerordentlichen Parteitages. Gregor Gysi - der Levi-Typ - war sein treibender Kopf.
Wolfgang Hartmann
1 in: Erich Fried: Am Rand unserer Lebenszeit; Berlin(West) 1987, S. 36
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