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Aufstand am „Monarchenhügel"

Der Aufbruch im Herbst 1989 im MfS - Ängste und Hoffnungen

Konnte es in einem Sicherheitsorgan, das straff nach den Regeln der Partei- und militärischen Disziplin geführt wurde, überhaupt Zweifel an der Politik der Partei, gar ernsthafte oppositionelle Regungen geben? Oh doch, es gab sie. Längere Zeit schon in den Diskussionen in den Parteigruppen, manchmal auch in den Abteilungs-Parteiorganisationen (APO). Da erschienen auch kritische Fragen und Wertungen zur Politik der SED in den Parteiinformationen. Aber spätestens auf der nächsten Ebene der Parteistrukturen wurden alle diese kritischen Anmerkungen weggeglättet oder ganz weggelassen.

Aber das war im Herbst 1989 schon ganz anders.

Das Unvorstellbare geschah - es gab spontane Meinungsäußerungen, Kritiken und Vorschläge - mit Namen und Unterschriften - an Wandzeitungen, an Pinwänden auf den Korridoren. Unsicherheit, Unzufriedenheit, ja Zorn über aktuelle Entwicklungen entluden sich in einer ungeheuren Diskussionswut. Sofort bildeten sich Trauben von Mitarbeitern und es kam zu heftigen Streitgesprächen, zu Solidarisierungen und Ablehnungen. Viele (darunter oft genug auch ich selbst) gingen auch mit einem Kopfschütteln weg, sie konnten diese „Glasnost" in einem militärischen Organ (noch) nicht verstehen. Einzelne Mitarbeiter oder ganze Parteigruppen meldeten sich zu Wort, formulierten Forderungen an die Leitung des MfS, an die Führung der SED. Welch ein Sakrileg! Im „Schild und Schwert der Partei" erhoben sich kräftige Stimmen zur Unterstützung der Erneuerung des Sozialismus in der DDR. Meist noch unvollkommen, wenig durchdacht, mehr aus dem „hohlen Bauch" heraus, aber sie artikulierten sich in der MfS-internen Öffentlichkeit.

Die Palette der aufgegriffenen Probleme war breit. Vorwiegend ging es um die „Sprachlosigkeit" der Führung, um den Ruf nach einer erkennbaren Strategie des Sicherheitsapparates bei seiner Umorganisierung und bei der Erneuerung der DDR, auch um die Forderung, die DDR weiter zu verteidigen.

Das Ganze war aber zugleich ein Aufstand der Jungen gegen die Alten, der Mitarbeiter gegen die dienstlichen Leiter. In der HVA wurde das sehr deutlich bei den Bemühungen um eine radikale Umwandlung der Parteiorganisation der SED. Engagierte jüngere Mitarbeiter nahmen das Heft in die Hand, schoben die alten Kader des Parteiapparates beiseite und bemühten sich sichtbar um ein neues Herangehen an die Parteiarbeit. Sie gehörten auch sehr engagiert zu den Organisatoren der ersten (und einzigen) Massendemonstration in der Geschichte des MfS.

Diese Protestdemonstration Ende November 1989 in den Abendstunden auf dem Hof des MfS, am Fuße des sogenannten „Monarchenhügels" (von anderen auch „Feldherrenhügel" genannt) war ein absoluter Höhepunkt. Das im Mitarbeiter-Sprachgebrauch so bezeichnete Konferenzgebäude auf einer kleinen Anhöhe im Hof des MfS beherbergte auch den Speiseraum für die „Leiter". Im Unterschied zu der Masse der Mitarbeiter, die in den Speisesälen des „Freßwürfels" (der Versorgungstrakt, der beim Sturm auf die MfS-Zentrale am 15 Januar 1990 verwüstet worden war) mit einem Tablett an Speiseausgabe und Kasse anstanden, saßen die Leiter an weißgedeckten Tischen und wurden von Servierkräften bedient (bezahlten aber auch ihre Speisen und Getränke). Für nicht wenige Mitarbeiter des MfS war es eine höchst erstrebenswerte Stufe, die Erlaubnis zum Betreten dieser Speiseraume zu erhalten. War das noch in früheren Jahren mit der Erlangung des Dienstgrades Major verbunden, mußte man später dann schon in die Kategorie der „Führungskader" eingereiht sein - das war verbunden mit einigen Privilegien, deren angenehmste für mich persönlich bestimmt diese kulturvollere Form des Mittagessens war. Wegen der Rolle des „Monarchenhügels" als Privileg der Leiter hatte dieser Ort der Demonstration auch eine besondere symbolische Bedeutung.

Die Entscheidung, an dieser Demonstration teilzunehmen, war für mich, der ich zum Kreis dieser „Führungskader" gehörte, ursprünglich durch die Motivation bestimmt, das Feld nicht den „Schreiern" zu überlassen

Aber da hatten sich auf einmal mehr als tausend Mitarbeiter des MfS versammelt, vorwiegend junge Menschen, die argumentations- und lautstark ihre Forderungen formulierten. Manches war zu diesem Zeitpunkt für mich nicht einsehbar, manches entsprach auch schon meinen Zweifeln und Vorstellungen.

Die Wut der Mitarbeiter hatte sich nicht zuletzt an dem kläglichen Auftritt des Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke, am 13. November in der Volkskammer entzündet. Es war zu erkennen, daß es in verschiedenen Diensteinheiten des MfS bereits eine organisierte „Bewegung von unten" gab, mit Sprecherräten oder anderen demokratischen Vertretungsformen der einfachen Mitarbeiter. In diesen Gremien formulierten die Vertreter der Mitarbeiter Forderungen, die Mehrheit der im doppelten Sinne alten Leiter abzulösen und Leiter einzusetzen, die in der Lage waren, eine radikale Erneuerung auch im Denken und Handeln des Sicherheitsapparates durchzusetzen und zugleich bereit und fähig waren, den politischen Dialog mit der breiten politischen Öffentlichkeit zu führen.

Es ging in den ohne Manuskript, ohne eine „Absegnung" der Beiträge von „oben", vorgetragenen leidenschaftlichen Reden gegen vielfältige Formen der Verkrustungen - ob in der Hierarchie der SED oder des MfS, Vorwürfe wegen ihrer Privilegien, auch des Amtsmißbrauchs wurden gegen leitende Mitarbeiter des MfS erhoben, Forderungen nach der Loslösung der Arbeit des Sicherheitsapparates von der „Führung der Partei" und nach Bildung einer eigenen Gewerkschaft wurden formuliert. Viele Teilnehmer wandten sich gegen ein Lavieren bei der Umstrukturierung des MfS in das „Amt für Nationale Sicherheit - AfNS", gegen Halbheiten - aber aus sehr unterschiedlichen Positionen. Die einen wollten radikalere Veränderungen, Abrechnung mit den bisher Verantwortlichen. Andere wiederum wollten, daß bei der neuen Regierung Druck gemacht und die Erfahrungen aus der geheimdienstlichen Arbeit eingesetzt wurden, um so viel wie möglich vom Sicherheitsapparat zu erhalten und zu retten.

Relativ spät - offenbar direkt von einer anderen Beratung außerhalb - erschien der neue Leiter des AfNS, General Wolfgang Schwanitz, am Mikrofon und stellte sich den Fragen der Mitarbeiter. Er wurde mit Pfiffen und Buh-Rufen empfangen Auf die Vorwürfe der Untätigkeit der Leitung des AfNS konnte er nur mit dem Verweis auf seinen 18stündigen Arbeitstag reagieren. Zu offensichtlich war, daß die Leitung des AfNS von den Ereignissen überrollt und getrieben wurde, keine Strategie hatte, sondern den Ereignissen hinterherhinkte.

Die heftigen Diskussionen setzten sich auch in den folgenden Tagen intern fort, u. a. zum Pluralismus in der Führung des AfNS bzw. des zu gründenden Aufklärungsdienstes der DDR. Die viele bewegende Frage war, warum kann man keine Vertreter anderer Parteien zur Führung eines Geheimdienstes zulassen? Manche sagten äugen zwinkernd - warum nicht, wir haben doch „gute Leute" in der Führung dieser Parteien Andere versicherten wütend „In meinen Panzerschrank lasse ich keinen NDPD-Fritzen reinschauen " Die Opportunisten erklärten „Natürlich können wir diese Leute an uns ranlassen, es gibt viele Posten im administrativen Bereich, da können sie keinen Schaden anrichten "

Wenn ich das aus heutiger Sicht resümiere, dann muß ich feststellen: Es ging aber immer um das Parteibuch, kaum einer sprach über die persönlichen Qualitäten, die erforderlich waren. Dabei haben wir doch zumindest im nachhinein erlebt, welche „Qualitäten" nicht wenige mit dem SED-Parteibuch hatten.

In dieser Aufbruchstimmung erfolgte die Vorbereitung des Sonderparteitages in der Parteiorganisation der HVA. Jetzt bekamen manche Leiter und besonders betonfeste SED-Funktionäre ihre Quittung von den Mitarbeitern und Parteimitgliedern. Während sonst die Dienststellung oder Parteifunktion fast automatisch zum Mandat für die Delegiertenkonferenz führte, sprachen jetzt die Wahlergebnisse eine deutliche Sprache. Noch nicht jeder hatte die Scheu abgelegt, offen seine wirkliche Meinung zu sagen, aber mit der Abstimmung konnte man schon einiges ausdrücken. So geschah es denn, daß mancher erfolggewohnte Leiter auf einmal nur noch als „Gast", also ohne Stimmrecht, an der Delegiertenkonferenz der Parteiorganisation der HVA teilnahm oder nur noch eine knappe Mehrheit der Stimmen erreichte.

Auf der Delegiertenkonferenz selbst erleben wir nochmals die kritische, wütende Stimmung gegen leitende Mitarbeiter Auf einmal kommen Anfragen und Wertungen von den Delegierten, die viel über oft in Jahren angestaute Emotionen offenbaren Ich erlebe auch einen höchst „rrrevolutionaren" Diskussionsbeitrag eines Angehörigen der HVA, der sich dann einige Wochen oder Monate später beim Verfassungsschutz andienen wird.

Anregungen zum Nachdenken nehme ich mit aus dem Beitrag von Markus Wolf, der nach seinem Ausscheiden als Leiter der HVA noch immer Mitglied der Parteiorganisation der HVA war und mit überwältigender Mehrheit als Delegierter zum Sonderparteitag bestätigt wurde. Das war nicht zuletzt die Reaktion auf seinen mutigen Auftritt bei der Demonstration vom 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz. Aber Wolf sprach über den Stalinismus. Er warnte (für mich erstmals öffentlich und in dieser Deutlichkeit) davor, den Stalinismus nur als eine Deformation des Sozialismus zu betrachten und forderte uns auf, tiefer und nachhaltiger über die Ursachen des Scheitern des Sozialismus in dieser historischen Etappe nachzudenken, ohne die sozialistische Idee selbst zu diffamieren.

Mein eigener Weg von einem überzeugten, ja gläubigen Verfechter der Politik der Partei zu einem kritisch denkenden Sozialisten ist mit vielen Ereignissen des Jahres 1989 verbunden. Die große Demonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November und das hautnahe Erleben der hier geschilderten Entwicklungen in den eigenen Reihen waren wesentliche Meilensteine auf diesem Weg.

Klaus Eichner 


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