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Erinnerungen eines MfS-Mitarbeiters

(Magdeburg, November 1989)

Noch am Morgen schien mir alles einfach, klar, normal und gescheit. Jetzt aber, an diesem verfluchten kalten Herbstabend stand ich hier allein auf dem riesigen Platz, verloren und verlassen mit meinem Auftrag.

Hinter mir der tausendjährige Dom, drohend mit seinen schwarzen Steinmassen, seinen ragenden Pfeilern und bunten Fenstern, den tropfenden Wasserspeiern mit den offenen Mäulern.

Wie Theaterkulissen standen die alten Barockhäuser im Halbdunkel des Platzes, alle Fenster waren ohne Licht und so auch nur zu erahnen. Nur zur Linken stand ein verlorenes, modernes, häßliches Appartementhaus, meist von alten Menschen bewohnt. Viele schauten von den Loggien verwundert auf den leeren Platz, in spannender Erwartung großer angekündigter Ereignisse, standen dort wie ein Premierenpublikum in den Logen eines großen Welttheaters. Alle Viertelstunde schlug die Domuhr. Nach welchem Glockenschlag würde sich der Vorhang öffnen, wird es ein Drama geben?

Heute morgen war alles anders. Ich stand inmitten meiner Einsatzgruppe und hörte, wie alle, die Einweisung des Generals: „Genossen, die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos!" Dieser Satz sollte wohl entspannend wirken, erreichte aber das Gegenteil. Uns beunruhigte vieles in diesen wirren Tagen in der Stadt und im Lande. Zum Scherzen war uns eigentlich nicht mehr zumute, auch nicht auf Weisung von „oben"; denn für den Abend war auf dem Domplatz eine Großveranstaltung beantragt und genehmigt worden. Der Domprediger beabsichtigte, nach dem Friedensgebet eine Demonstration der Opposition durch die Stadt und zurück zum Domplatz zu führen.

„Genossen, wir müssen alles im Griff haben," sagte der General und wir nickten - wie immer - Zustimmung, ohne zu wissen, wie wir diesen Auftrag erfüllen könnten.

Noch war die Arena menschenleer. Nur meine Gedanken, meine Sorgen, meine flackernde Vorstellungskraft füllten sie. Hatte ich Angst?

Und dann kam der Zug! Tausende Menschen zogen aus einer Nebenstraße mit leisen Schritten, ohne erkennbare Ordnung, ohne linken Marschtritt, ohne ein Lied, ohne Fahnen, nur mit einigen unleserlichen Transparenten, die sich im Winde bauschten; jeder war aber bedacht, seine brennende Kerze gegen den scharfen Wind zu schützen.

An der Spitze des Zuges der Domprediger, auch er stumm und gefaßt. Nach und nach füllte sich der freie Platz. So etwas hatte ich noch nicht erlebt, eine Demo ohne Befehl und ohne Nötigung.

Mein Herz schien stillzusteh'n. So verharrte ich wohl minutenlang ohne jede äußere Regung. Nur meine Augen versuchten sich ein Bild zu machen von dem, was geschah und geschehen mochte. Brauchten wir das alles noch für einen der  üblichen Berichte?

Erst jetzt bemerkte ich den alten Lkw-Anhänger, der als provisorische Rednertribüne herangerollt wurde. Um ihn herum ordneten sich die Menschen, ohne Befehle, ohne Rangordnung, einfach so - in erwartungsvoller Stille und Gespanntheit. Die Hände schützten noch immer die Kerzen und jetzt auch den Nebenmann vor möglichem Schaden. Ein mittelalterlicher Zug, so schien es mir, in Erwartung des Heils und der Erhellung durch das Wort. Die hohe Messe konnte zelebriert werden.

Der Domprediger, ein kräftiger junger Mann, fast eine Luther-Gestalt, begrüßte kurz die Anwesenden mit einer ruhigen und klaren Stimme, die auch im letzten Winkel des Platzes zu verstehen war. Im Augenblick hatte er alle Zuhörer in seinen Bann gezogen. „Wir wollen keine Gewalt gegen Menschen, aber Veränderungen, ja Verbesserungen des Daseins für alle Menschen hier, heute und morgen."

Langsam erwachte ich aus meiner Erstarrung. Ja, das Leben sollte besser werden -aber wie? Durch wen und für wen? Durch diese Menschen hier und jenem dort auf der Tribüne? Kann ein Einzelner Hoffnungsträger sein? Der Pfarrer präsentierte eine Rednerliste, ließ über Redner und Reihenfolge durch Handzeichen abstimmen. Die Redner postierten sich zwanglos auf dem Wagen. Die einen wurden mit Beifall begleitet, andere mit Pfiffen und Gejohle, je nachdem.

Ein junger Bürgerrechtler, der sich nur kurz vorstellte, protestierte gegen vierzig Jahre Arroganz der Macht, einer Macht gegen Andersdenkende, gegen Ignoranz, gegen Verletzung der Menschenrechte in diesem Land. Niemand wußte so recht etwas mit diesen großen Worten anzufangen, die mit Haß als Anklage vorgetragen wurden. Menschenrechte verletzt, was heißt das im Alltag? Da müßte er schon konkreter werden. Da, jetzt hat er es gespürt, kommt zur Sache: „Freiheit, Freiheit und nochmals Freiheit! Vierzig Jahre habe ich in Unfreiheit gelebt!" Dabei ist er doch mal gerade zwanzig Jahre alt. Also: Freiheit wozu, von wem, für wen? Die Staatsmacht trage Verantwortung und Schuld. Die Staatsmacht, klar. War ich mit in diese Macht eingebunden? Zum erstenmal sah ich mich selbst als Fremden, als Mann, der diese Macht sichern half, seit Jahren nun schon, weil sie mir immer als die meine und die stets bedrohte schien. Unter dem Arm trug ich meine Dienstpistole, ich hatte sie im Dienst noch nie benutzen müssen. Auch heute war ihr Einsatz weder befohlen, noch in Aussicht gestellt worden. Bisher hatte das kalte Metall mir immer ein Gefühl der Sicherheit gegeben, aber heute - irgendwo saß da die Angst in mir, eine Angst, die ich so noch nicht gekannt hatte. Sollte ich hier auf verlorenem Posten geopfert werden? Ich sah keinen Offizier als Einsatzleiter auf dem Platz. Gewalt gegen unsere Menschen richten? Unsere Menschen, mein Mensch — eine verräterische Sprache, wie mir gerade jetzt bewußt wurde. Diese Menschen sollten wir schützen, vor allem nach außen, aber auch nach innen. Auch gegen sich selbst? Fragen über Fragen, die sich in mir zusammenballten, die ich früher nie so gestellt hatte. Jetzt führten sie ins Bodenlose, zur Tatenlosigkeit. Deshalb weg damit, ich mußte mich auf den nächsten Redner konzentrieren. Die große Glocke hallte vom Dom über den Platz. Der Oberbürgermeister der Stadt ging an das Mikrofon. Seit Jahrzehnten repräsentierte er in der Stadt die Staatsmacht, war mit ihr alt und etwas dick geworden. Jetzt wurde er mit Pfiffen empfangen, die ihn hinderten, sofort das Wort zu ergreifen. Ein Transparent wurde ihm entgegengehalten: „OB ADE!" Solch eine Unbotmäßigkeit traf ihn unerwartet, war nicht in seinen Erinnerungen vorhanden. Die Erfahrung war neu und brachte ihn wohl aus der Fassung. Wo immer er vorher anwesend war, da war sie, die Macht - und die war zu respektieren!

Der Lärm legte sich. „Haben wir nicht alles für euch, die Burger unserer" (das Wort meiner ließ er wohlweislich fort) „Stadt getan? Arbeit für alle, bezahlbare Wohnungen für jeden Werktätigen, Bildung für alle Kinder. Was will man eigentlich mehr?"

Diese rhetorischen Fragen hatten nie ihre Wirkung verfehlt, er hoffte, auch heute mit seiner Bilanz-Propaganda das erwünschte Ergebnis zu erzielen. Doch stärkere Pfiffe begleiteten seine Rede.

Fragen, deren Beantwortung die Menschen auf dem Platz interessierten, Fragen nach der Macht, nach der Zukunft, wie geht es bei uns weiter, warum gehen immer noch so viele Menschen fort bei nun offenen Grenzen, vor allem junge Leute, Facharbeiter, Intellektuelle, gab es Privilegien für alle Machtausübenden in einem Staat der Gleichen, wurden Überwachungen von Andersdenkenden angeordnet und durchgeführt, berührte er nicht! Ich wußte doch, er hatte keine Antwort auf sie. Aber solche Fragen brandeten ihm nun von vielen Seiten entgegen. Erste Sprechchöre tönten: „Tritt ab, alter Genösse!" Der OB rang nach Fassung und Haltung, begann zu schwanken, blickte sich nach einer Hilfe um, doch die blieb aus, selbst vom Domprediger. Er winkte resignierend ab, verließ demontiert, aber auch in diesen Minuten der Bewährung unbelehrbar, die Tribüne. Er war eben die Staatsmacht, keiner Kritik zugänglich, von wem sie auch immer kam.

Ich wußte nicht, wie ich zu urteilen hatte. Ist die Sache, die solch ein Mann in einer so erbärmlichen Haltung vertritt, wirklich wert, verteidigt zu werden, sich dafür zu opfern, wie wir es geschworen hatten? War das der gerechte Lohn für vierzig Jahre Arroganz und Ignoranz? Oder sollten wir unsere Sache verteidigen, um vielleicht den Nachgeborenen eine Chance für eine humanitäre Zukunft zu lassen? Was und wer in der Geschichte erst einmal abtritt, ist nicht so leicht wieder zu beleben gegen die realen Gegenmachte und den gnadenlosen Zeitgeist. So gelernt im ersten Semester.

Ein neuer Redner wurde angesagt, ein Arbeiter aus dem SKET, dem größten Schwermaschinenbau-Kombinat der Stadt. Sein Name blieb unverständlich, so daß Unruhe entstand. Er war nicht zu sehen, hatte sich in der zweiten Reihe versteckt. Nun mußte er nach vorn ins Rampenlicht, für alle sichtbar, ohne ein schützendes Pult, zu dem Mikrofon hin. Er stolperte nach vorn, gut, daß es nur wenige Schritte waren, und umklammerte mit beiden Händen den Mikrofonstander.

„Ich komme aus dem SKET, Betrieb 36, Formerei." Es horte sich wie ein Rapport an, schien ihn aber sicherer zu machen. „Seit vierzig Jahren gehöre ich zur Frühschicht, bin immer der erste in der Halle, verteile Material und Werkzeuge und auch die Aufträge, was eigentlich Sache des Meisters oder unserer Ingenieure wäre. Aufträge gibt es genug, wir können uns vor Arbeit kaum retten, sind ein gutes Kollektiv, haben schon viele Auszeichnungen erhalten."

Er wollte sie, wie gewohnt, aufzählen, ließ es dann aber doch sein.

„Vor kurzem hatten wir hohen Besuch, ein Graf soll auch dabeigewesen sein, einer von Krupp, unserem alten Konzern. Die sahen uns Kumpel aber nicht, obwohl wir ja wohl die Eigentümer des Betriebes sind, wollten nur mal so gucken und unsere Kundenbücher seh'n, wie uns der Meister hinterher sagte. Vielleicht kriegen wir nun endlich besseres Material und neue Maschinen, wir arbeiten ja noch wie im Mittelalter mit Kleinwerkzeugen. Unsere Arbeit aber wollen und müssen wir behalten, auch wenn sie dreckig und hart ist. Was soll aus uns sonst werden? Zum Umschulen sind wir zu alt, manche sagen schon, wir sollen Maurer werden. Und an Arbeitslosigkeit mag keiner denken, das kennen wir noch von unseren Alten, unseren Vätern und Großvätern bei Krupp. Auch die Werkswohnungen gehören uns, es soll schon Spekulanten geben, die drehen an der Pacht und an den Mieten, hört man hintenrum. Ja, Westgeld ist eine schöne Sache, es soll ja nächstes Jahr kommen, na gut so. Vom Begrüßungsgeld, 100 Mark, habe ich schon in Helmstedt eingekauft, gut eingekauft, kann man nicht meckern. Meine Frau hatte am Abend nur noch Geld für einen halben Apfel, der Händler hat ihr die andere Hälfte geschenkt"

Diese letzte Äußerung erschien ihm zu naiv, vielleicht auch peinlich, also suchte er einen anderen Schluß, einen positiven.

„Aber das Wichtigste bleibt unsere Arbeit, denn was sind wir ohne unsere Arbeit, ohne unser Kollektiv, ohne unser Werk?"

Ich fragte mich nach dieser Rede, wie soll es in diesem Lande für die einfachen Leute weitergehen? Es tauchte schon ein neuer Begriff für Leute auf, die bereits eine neue Existenz vorbereiteten, „ Wendehälse", die werden schon sehen, wie sie zurechtkommen. Aber der Kumpel aus dem SKET und seinesgleichen? Irgendwer mußte doch sagen, wo es langgeht. Alle müssen doch ein Ziel haben, für den Alltag, für die Arbeit, für das Bauen neuer Wohnungen, für bezahlbare Mieten, für die Familien, eine gewisse Ordnung braucht doch jede Gesellschaft. Was nützt die Einheit des Landes, wie auch von mir heimlich nie aufgegeben und jetzt wieder möglich, wenn alles im Chaos versinkt? Klang da nicht der alte Rütlischwur nach: „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern ...?" (Friedrich Schiller: „Wilhelm Tell") Und Schwestern natürlich auch. Soll der Pfarrer auf dem hohen Wagen es richten mit dem Blick nach oben und ins Jenseits? Geht es zurück ins Mittelalter, in Anarchie und blindes Gottvertrauen?

Eine ältere Frau im grauen Mantel beklagte jetzt, daß ihre Kinder in den Westen gegangen seien. „Die Grenzen sind doch offen, und das ist gut so. Aber wie soll es bei uns weitergehen? Was in vierzig Jahren aufgebaut wurde, das kann doch nicht umsonst gewesen sein. Ich habe nach dem Krieg Steine geputzt, achthundert Stück am Tag, das war die Norm. Wir haben uns geschunden, immer ehrlich gearbeitet - und nun?"

Sie spürte nach einer Pause, sie habe auf ihre vielen Fragen, ihre Sorgen, keine Antwort zu erwarten. Da sie aber einen guten Abgang haben wollte, rief sie die Leipziger Parole, die täglich in den Medien präsent war, in das Mikrofon: „Wir sind das Volk!"

Gegen diese bangen Fragen ohne Antworten für die Menschen auf dem Platz sprach ein älterer Herr von strammer Gestalt, in einer Trachtenjacke, ausgerüstet mit einer tiefen, dröhnenden Stimme - man mußte ihm das Mikrofon vom Munde entfernter halten - und in einem eigenartigen Tonfall: „Schauen wir uns in der Welt um, wie es in einer modernen Gesellschaft werden kann. Und da brauchen wir nicht weit zu gucken. Wart ihr schon mal in Bayern?" Eine rhetorische Frage für die Zuschauer, die auch vereinzelt lachten. Na, was kommt jetzt? Meine antrainierte und auch ausgeübte Wachsamkeit regte sich.

„Ja, bei uns in Bayern, da gibt es all das, was euch hier fehlt: Reichtum in den Städten und den Dörfern. Sauberkeit überall, saubere Natur, saubere Menschen, alte Werte und keine solchen linken Spinner, Religiosität, die von Herzen kommt, bei allen – und keine Heiden, wie sie hier erzogen werden." Er blickte sich zum Domprediger um, hoffte auf eine Rückendeckung. Der aber tat nichts dergleichen. „Da gibt es auch keine unverdienten Privilegien für die Oberen, alle müssen arbeiten für ein reiches Deutschland in einer freien Welt, gleich ob Bayern, Sachsen oder Preißen." Er sagte tatsachlich „Preißen", so gab es ein einhelliges Gelächter. „Ihr müßt jetzt nur eure Revolution zu Ende führen, keine Halbheiten machen!"

Gespenstisch hing das große Wort „Revolution" über ihm, es wurde ihm für einen Moment unheimlich. Zu Hause hatte er, noch dazu öffentlich, dieses „Fahnenwort" nie gebraucht. Hier aber spürte er, das Teufelswort kam an, hing unwidersprochen über dem Platz. Es gab keinen Protest.

Woher kam dieser Mensch? Woher hatte er die Weisheiten? Seine Rede? Steht mit ihm hier nicht eine feindliche Welt, in der ich und viele andere keinen Platz mehr haben werden; eine Welt ohne die Ideale wie Gleichheit, Gerechtigkeit, Bescheidenheit? Bietet sich mit ihm die Welt von gestern und vorgestern wohlfeil an? Merkt das keiner?

Und ich? Mußte ich nicht aufwachen, alle aufrütteln, etwas tun? Sollte das Mittelalter aus dem Untergrund des Platzes, auf dem wir standen, aufbrechen und wieder ins Leben der Menschen treten? Starb hier, in diesem Moment, der große Traum von einer anderen, besseren Welt, einer Welt des Friedens im Inneren und auf der ganzen Erde, einer Welt, die in unserem Staat sicher nicht ideal realisiert war, einer Welt, die aber ein gutes Bild für die Zukunft abgab, gerade in diesem Herbst, der ein Herbst des Aufbruchs sein konnte? Konnte ein Typ wie dieser da oben das alles gefährden? Bei den Zuhörern sah ich einige betretene Gesichter, von anderen kam spärlicher Beifall. Von einem schwachen Chor tonte, erst leise, der Ruf: „Wir sind ein Volk!" Wurde aufgenommen, schwoll an über den ganzen Platz und gab dem Redner auf der Tribüne das Taktzeichen. „Ja, wir sind ein Volk und wollen es auch immer bleiben!" Damit trat er ab, nun von einhelligem Beifall getragen.

Mir wurde heiß und kalt, für einen Moment konnte ich nichts sehen. Blitzartig hatte mich ein Gedanke gefesselt - wozu habe ich eine Waffe bei mir, wann, wenn nicht jetzt, sollte ich sie einsetzen? Ein blöder Spruch kam mir in den Sinn: „Still, ihr Redner! Du hast das Wort, rede, Genösse Mauser!" (Wladimir Majakowski: „Linker Marsch" 1918.) Aber gegen wen sollte ich die Pistole richten, gegen diesen Bayern, gegen seine friedlichen Zuhörer, gegen den bestellten Sprechchor - oder gar gegen mich selbst? Rasend schnell flimmerten Fragen und Antworten über meinen inneren Bildschirm, mein Gehirn schien sich zu überhitzen bis zur Weißglut. Nur äußerlich stand ich am befohlenen Platz, stumm und bewegungslos. Wo war hier der Feind? Sollte ich mit mir beginnen und auf diesem Platz, mitten unter all den unterschiedlichen Menschen, enden als schrilles Signal, als ein Fanal für andere, lohnte sich das Opfer, wurde es etwas bewirken? Gab es nicht ein objektives Gesetz, nachdem die Geschichte als ein Werk von Millionen stets von Niederen zum Höheren verlief? Was kann da ein Einzelner tun und verändern? Wie viele Märtyrer gab es in der Geschichte, deren Opfermut vergebens war, gut höchstens für Schulbücher und Denkmäler. Aber wo liegt der Nutzen verfrühter Revolutionen für das Fortschreiten der Menschen zum besseren Morgen? Spartacus, Thomas Müntzer, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Tausende aufrechte Kampfer gegen Krieg und Faschismus, haben sie die Welt verändern können oder waren sie nur Ikonen auf dem Altar der wenigen Gläubigen? Wurden sie nicht immer allein gelassen im Leben und im Sterben? Gemordet von den Oberen, Mächtigen? Von den späteren Siegern belächelt und lächerlich gemacht, verflucht oder bemitleidet von deutschen und ausländischen Spießern? Dabei verspürte ich keinen Ehrgeiz, Märtyrer zu sein. Bewegte mich nicht die Sorge um meinen guten Posten, um meine kleinen Vergünstigungen für mich und die Familie viel mehr als das Nachdenken über die großen Weltprobleme? Dabei hatte ich doch einen guten Beruf vor meiner Verpflichtung vor dreißig Jahren. Ich war Maurer und zwar ein guter. Noch heute traute ich mir zu, hart arbeiten zu können, gelernt ist gelernt und gebaut wird immer, gut verdient auch, fragt sich nur, wer den Nutzen hat und den Gewinn macht.

Oder kann ich mich beruhigt auf mein Altenteil zurückziehen? Bald werde ich sechzig Jahre alt und manchmal spüre ich schon das Nachlassen der Kräfte. In Indien, so hörte ich, gehen alte, nichtsnutzige Männer in den Dschungel, ohne Abschied von ihren Familien, beten zu Gott, ehe sie im Nirvana vergehen, sie bitten um Vergebung für ihre Lebenslügen und Lebensschulden. Aber nicht mal ein Gott ist mir geblieben, zu dem ich nach den verlorenen Illusionen ehrlichen Herzens beten konnte. Ich werde wohl heute abend noch verrückt mit all meinen Gedanken. Aber die wilden und neuen Gedanken, auch die gefährlichen, hören auf, im Herzen zu sein. Die Hand hat nicht die Kraft, zur rechten Zeit etwas rechtes zu tun. Ein deutsches Schicksal? Warum bleibe ich stumm? Weshalb hat uns niemand zum Reden erzogen, wenn uns danach ist? War denn wirklich alles falsch, was wir all die Jahre gemacht haben? Schwere Jahre des Anfangs, des Zweifelns an der eigenen Kraft, an den eigenen Träumen. Glückliche Augenblicke in der Familie, mit Freunden, in Harmonie mit sich und der Welt.

Muß man, um dies zu retten, jetzt Gewalt anwenden? Gewalt gegen Menschen, die auch verführt werden können - Freiheit, halber Apfel, Begrüßungsgeld - Revolution. Sind sie nur verführt vom Augenblick? Ist da nicht auch die große Hoffnung nach einem besseren Leben und - nicht zu vergessen - sind wir nicht alle Deutsche? Vor diesen ungewohnten Gedanken erschrak ich. Gibt es denn wirklich eine deutsche Nation, auf die jeder stolz sein konnte? Oder sind dies nicht alles Selbsttäuschungen für einen zahnlosen Humanismus in der Stunde der offensichtlichen Niederlage? Haben die anderen recht, sind wir wieder wer in der Welt - mit allen Gefahren für die Welt? Und gerade jetzt kommen mir die klagenden Verse in den Sinn: „Ach wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein." (Bertolt Brecht: „An die Nachgeborenen") Läßt sich damit alles beruhigen, auch Gewalt gegen friedliche Menschen? Vielleicht hatte ich das alles in den Jahren laut denken sollen, in denen wir die Macht und die Chance hatten, die Gesellschaft neu zu gestalten.

Auf der Bühne hatte der Domprediger die Unruhe unter den Teilnehmern gespürt, es gab wohl keine Steigerung mehr an diesem Abend, keine einfachen Losungen für die vielen Fragen. Die Antworten mußten erst heranreifen. Also schloß er: „Bitte keine Gewalt gegen Menschen, wenn wir nun den Platz verlassen. Lassen wir uns nicht provozieren, nicht die Fäuste sprechen. Seine Stimme kann jetzt jeder erheben, jeder kann hören und sehen lernen." Er bedankte sich bei den Teilnehmern und lud zum nächsten Friedensgebet in den Dom ein. Ruhig, wie sie gekommen waren, verließen die Menschen den Platz. Die provisorische Tribüne stand verlassen da, ein alter Anhänger.

Ich blieb aus alter Gewohnheit, bis der Platz leer war, alle Teilnehmer mit ihren Kerzen abgezogen waren. Sind sie erleuchtet worden? In meinem Inneren war ich so leer, wie nun der Platz. Noch immer bohrten die Fragen unter der Schädeldecke. Wie sollte es weitergehen? Wer weiß den Weg?

Meine Gruppe traf sich an jenem Abend nicht mehr. Jeder blieb mit seiner Unruhe, seiner Angst um die Zukunft, nicht nur der eigenen, auch die der alten, neuen Welt, allein. War das alles der neue Weltzustand? Das Zurück in das Gestern?

Zurück blieb der leere Domplatz, mit dem schwarzen Dom, seinen hohen Türmen, Fenstern, Glocken, seinen Gespenstern und seiner Unnahbarkeit - und mit den Fragen und ungelösten Problemen der Menschen wie zu allen Zeiten.

Aufgezeichnet von Heinz Sonntag 


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