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Der
Lockruf des Westens
oder:
Wenn einer eine Reise tut, dann hat er was zu denken
Onkel Herbert hat es nicht mehr geschafft, noch einen Blick in das magische Jahr 2000 zu werfen. Im November 1999 haben wir ihn zu Grabe tragen müssen. In Berlin-Zehlendorf. Auf dem Waldfriedhof. Dort, wo schon seine Eltern beigesetzt worden waren. Onkel Herbert war der Mann von Tante Hilde. Und Tante Hilde ist die Schwester meines Vaters. Ihr hatte ich also Onkel Herbert zu verdanken und ihm noch viel mehr. Ihn „Vizevater“ zu nennen, wäre sicher keine Übertreibung. Allerdings kämen auch „guter Geist“, „Retter aus Ersatzteilnöten“ und „großer Gönner“ in Betracht. Denn er war mein „Westonkel“, mithin eine sichere Bank für einen, der sein Leben in der DDR lebte. Mit seinem Tod war nun auch meine Jugend endgültig vorbei, das gelebte DDR-Leben aber noch lange nicht.
Auf dem Weg nach Zehlendorf rumpelte die S-Bahn zuweilen über alte Gleisabschnitte. An diesen Stellen stuckerte sie meine Gedanken förmlich in die Vergangenheit zurück. Mit jedem Schienenstoß kam ein neuer Denkanstoß, jedem Ruck folgte ein Zuck: „Da war doch 'was? Was war da doch?“ - Richtig. Da war zunächst der D-Zug, der vor zwölf Jahren ebenso zuckelte und ruckelte, auf daß der Mitropa-Kaffee aus der Tasse hüpfte. Ächzend schob er sich über die Thüringer Berge. Saalfeld lag hinter, Probstzella vor ihm. Das Jahr 1987 stand in seiner Blüte, was man von dem gerade von Nord nach Süd durchquerten Land nicht unbedingt behaupten konnte. Dennoch war meine Hochstimmung ungetrübt, hatte ich doch einen schönen Fensterplatz in diesem Zug und einen nagelneuen blauen Reisepaß der DDR in meiner Brusttasche. Selbstverständlich mit Gebührenmarke und Ausreisevisum, so daß Probstzella diesmal für mich noch längst nicht das Ende bedeutete. Im Gegenteil. In diesem Jahr war es der Anfang einer heiß erwünschten Reise. Tante Hilde vollendete nämlich ihr 75. Lebensjahr. Das war zweifellos eine „dringende Familienangelegenheit“, die konsequenterweise auch von einem Neffen nicht ignoriert werden durfte. Überdies - und das vor allem - eröffnete dieses Jubiläum berechtigte und verlockende Reiseperspektiven. Früher hatte ich derartige Möglichkeiten nur erwogen, aber entsprechende Versuche wegen höchstwahrscheinlicher Erfolglosigkeit gar nicht erst unternommen. Aber nun war es soweit - und es war auch schön weit. Bis hinunter in den Schwarzwald, nach Wildberg, sollte die Reise gehen. Manchmal ist es schon zum Staunen, wie groß die Lebenskreise werden können, die Menschen ziehen.
Tante Hilde war mit meinem Vater im östlichen Gebiet der Lausitz aufgewachsen, das heute zu Polen gehört. Ihr Heimatort lag östlich der Nähe von Forst auf der anderen Seite der Neiße. Er hieß Gassen, aber auch der heutige Name Jasien ist nicht in jedem Auto-Atlas zu finden. Mein alter Herr hatte dort Klempner gelernt, doch nach der Lehre keine Anstellung gefunden. Arbeitslos wollte er aber auch nicht sein, so ergriff er die erstbeste Möglichkeit beim Schopfe, um diesem Los zu entrinnen. 1935 gab es meines Wissens allerdings dafür wohl kaum eine andere, wenn man jung und männlich war und schnell von der Straße weg wollte. Er meldete sich also beim Freiwilligenheer der gerade entstehenden Luftwaffe, kam so in den Raum Berlin, und meine Tante folgte ihm auf ähnliche Weise und aus verwandten Gründen. Während Vater aber im nördlichen Hauptstadtvorort Velten Wurzeln schlug, weil er eben meine Mutter hier kennen lernte, blieb die Tante in den Armen von Onkel Herbert direkt in Berlin hängen. Sie heirateten, überlebten den Krieg und bekamen danach einen Sohn. Er trat später in die Fußstapfen seines Erzeugers, der ein As im Maschinenbauhandel geworden war, ein international erfolgreicher Geschäftsmann, der auch an die Zukunft dachte und beizeiten an das Alter. Dafür hatten beide - die Tante wie der Onkel - beträchtlich vorsorgen können. Zum Beispiel mit einem Grundstück und einem Haus im Schwarzwald, dem idealen Altersruhesitz. Parallelen will ich gar nicht erst zu konstruieren versuchen. Sie bestanden ohnehin wohl vornehmlich darin, daß auch ich ein Nachkriegskind bin. Doch schon bei den „Fußstapfen“ hätte ich meine Schwierigkeiten. Wie gesagt, Vater war Klempner. Der knuffte in einer kleinen Privatfirma. Meistens auf dem Bau. Natürlich war es für mich ein Jux, als Kiebitz auf seinen Baustellen rumzukrauchen. Aber der Spaß daran und die Tricks, die ich mir dabei abgucken konnte, waren noch längst keine Gewähr für eine Nachfolge. Schon gar nicht, wenn man in seiner gesamten Schulzeit stets der Klassenbeste war - vom ersten Schuljahr in der Veltener Gustav-Gersinski-Schule bis zum letzten in der Hennigsdorfer Puschkin-Oberschule. Immerhin lebte man in der DDR. Dort kannten Eltern kaum ein anderes Lebensziel, als daß es ihre Kinder einmal besser als sie haben sollten. Und besser haben konnten sie es nur, so die allgemeine Grundüberzeugung, wenn sie studieren gingen und damit einen höheren und ersprießlicheren Bildungsweg einschlugen.
Die erste und für mich gleichsam prägende Station dieses Weges war die erweiterte Oberschule. Dort hatte ich sicherlich auch meine größten Erfolge. Feierte Triumphe, die sich so nicht wiederholen sollten. Doch nicht nur deshalb blieb sie mir in dauerhafter Erinnerung, die Penne. Wenn ich an die Leute in meiner Klasse denke, dann wundere ich mich immer noch, wie unbekümmert und tollkühn wir - durch die Bank einfache „Bäcker-„ oder eben „Klempnerburschen“ - die Gipfel der Wissenschaft erstürmen, zumindest aber auf den Thron des Abiturs klettern wollten. Und weil sich der harte Kern auch heute noch - 35 Jahre nach dem Abi - regelmäßig trifft, weiß ich, daß auch die anderen davon nicht unbeeindruckt geblieben sind. Höhenflüge lassen sich erst ermessen, wenn man die Tiefe, aus der man gekommen ist, nicht vergißt. Doch Tiefpunkte, oder ich sage mal besser, bedrückende Niederungen des Geistes taten sich mir allerdings in anderer Hinsicht immer wieder mal auf. Und das geschah dann und in Permanenz, wenn das Wort „Westverwandte“ fiel. Na klar, der eine hatte sie, der andere nicht. Die einen hätten gern und andere durften nicht. Da konnten ja Neid und Argwohn nicht ausbleiben und Protzgebärden ebensowenig. „Kiek ma’: Original West-Tapete!” Aber ich glaube, mich da ganz schön rausgehalten zu haben. Doch als in meinem Zweite-Klasse-Abteil vor zwölf Jahren das Geschirr im Takt der Räder klapperte und ratterte, daß man meinte, die Räder seien quadratisch, da dachte ich: So liefen die Ost-West-Räder auch, seit ich denken kann: eckig, wie die Flegel in einem Dreschkasten. Und bestimmt werden, als sie von meiner Reise hörten, nicht wenige der alten Mitschüler gedacht haben: Den Konni werden wir wohl kaum noch einmal wiedersehen.
Solche Gedanken waren in meinen Augen ganz normal. Sie waren geradezu typisch DDR. Nie hätte ich mich darüber geärgert. Alle Treueschwüre und Ergebenheitsadressen waren mir ohnehin schon immer ein Graus. Vor allem, wenn sie politische Bewußtseinstiefe signalisieren sollten. Zu oft standen die berühmten Pferde gerade auch vor meiner Apotheke, um es einmal bildlich auszudrücken. Meine Lebensvorstellungen konnte ich ganz einfach und klar umreißen, nämlich mit den drei Buchstaben W-D-A: „Wohnung - Datsche – Auto“, wobei das Auto, will man es in eine Rangfolge bringen, ganz vorn rangieren würde. Also „A-W-D“ und möglichst j. w. d., „janz weit draußen“. So simpel sich diese Ziele auch anhören mögen - und bestimmt wird der eine oder andere die Nase dabei rümpfen - leicht zu erreichen waren sie mitnichten. Doch zugegeben, mit Tante Hilde und Onkel Herbert im Rücken und ihren „geflammten Fliesen“ in der Hand, da kam ich schon ganz gut durch dieses kleine Land. Und auch recht bald zu dem von mir angestrebten Lebensstandard. Das erste Auto zum Beispiel schenkte mir mein Onkel als Anerkennung für den erfolgreichen Hochschul-Abschluß als Diplom-Ingenieur für Werkstoffkunde. Da war ich vierundzwanzig. Und beim Klassentreffen bekamen einige Augen, die nicht nur fröhlich funkelten, als sie den schmucken Lada sahen. Natürlich habe ich ihn auch ein bißchen aufgepeppt, äußerlich und so. Autos sind eben seit jeher mein Faible und genießen meine uneingeschränkte Wertschätzung und Pflege. Genauso wie die Wohnung und die etwas später mühsam erstandene Datsche. Hier konnte ich mich nach der langen Zeit auf harten Schul- und Hörsaalbänken auch endlich mal körperlich ausarbeiten. Und Haus-, Hof- und Gartenarbeiten waren ja für einen geschulten DDR-Bürger keine Hürde. Dieser damals weit verbreitete Haupt-Nebenjob war vielmehr die hohe Privat-Schule der Heimwerkerkunst, denn Handwerker gab es im gleichen Umfang wie Material, nämlich selten oder nie. Deshalb war ich auch ehrlich beglückt, unter diesen Umständen zu erfahren, welch handwerkliche Talente doch in mir schlummerten und wieviel Spaß es machen konnte, sie in vollen Zügen zu entfalten. Wäre da bloß nicht diese äußerst mickrige Materialdecke gewesen. Jedes Bau- oder Reparaturvorhaben - vom Keller bis zur Dachrinne - entwickelte sich unweigerlich zu einem Drahtseilakt ohne Netz und doppelten Boden, zu einer Nerven- und Geduldsprobe, zu einem Wettlauf mit heißen Tips und wilden Gerüchten. Dabei gab es in der DDR alles. Man mußte nur wissen, wo. Aber das focht mich nicht an. Dank der unverwüstlichen verwandtschaftlichen Beziehungen waren diese Probleme für mich persönlich ebensowenig ein Thema wie mein gesamtes Lebensniveau. Über all die Jahre hinweg konnte ich den von mir gewünschten Standard mühelos halten. Und wurde es wirklich einmal ein bißchen eng, was selten genug vorkam, dann stand mir Onkel Herbert bei. Und, so unwahrscheinlich das klingt: Er war mein Fundament, auf dem ich mich in der DDR ganz wohl fühlen konnte. Ehrlich, und wie ein Vater war er auch. Erstaunlich ist im Nachhinein geblieben, daß diese Bindungen nie getrübt waren. Äußere Anlässe hätte es genügend gegeben. Mauerbau, Kalter Krieg, die kleinlichen Besuchsregelungen, die peniblen, oft als Schikane empfundenen Grenzkontrollen, und da war auch noch des West-Onkels engagierte CDU-Mitgliedschaft. Trotzdem: Wir hielten immer zusammen. Und dafür sorgte vor allem das Motto aller Familienmitglieder, das allein von Gewicht war: Politik wird nicht reingelassen in den engen Kreis. Und mich hat sie auch nicht sonderlich interessiert. Ich konnte doch nicht klagen. Das Leben entsprach meinem Naturell. Ich wollte nicht leben, um voll Inbrunst zu arbeiten, sondern ich bin arbeiten gegangen, um mir ein sorgenfreies Leben in der privaten Dreifaltigkeit von Auto, Wohnung und Datsche leisten zu können. Da habe ich nichts anbrennen lassen. Keine auch noch so wohlmeinende Gemeinschaftsinitiative konnte mich locken, geschweige denn für sich einvernehmen. Und schon gar keine Partei. Mein Programm hieß „ICH“. Daß daran zuweilen Anstoß genommen wurde, mein Gott, das war zu ertragen. Daß ich ansonsten nichts auszustehen hatte, dieser Lohn war mir erheblich mehr wert. Und manchmal amüsierte es mich, wenn andere wunder was für einen Eindruck von mir hatten. Das war aber auch irgendwie komisch. Als einziger meines Jahrgangs in Hennigsdorf hatte ich das Abitur mit „Sehr gut“ abgelegt. Und jeder dachte wohl: Da wird er aber ganz schön gebüffelt haben. Fehlanzeige. Natürlich hatte ich auch einen Ehrgeiz. Ich wollte immer gut und besser sein, wenn möglich die erste Geige spielen. Nur weh tun sollte es nicht. Also kämpfen, um auf den ersten Platz zu kommen, hätte ich vermutlich gar nicht gewollt. Für mich waren meine durchweg positiven Schulnoten, die die Lehrer ebenso wie meine stolzen Eltern erfreuten, die Verkettung glücklicher Umstände. Eine Mischung aus schneller Auffassungsgabe und guter Merkfähigkeit. Vielleicht kam noch ein gewisser sportlicher Rivalitätsschub hinzu. Besonders wenn ich an die „Eins“ in Staatsbürgerkunde denke. Denn eine Überzeugung, die diese Note gerechtfertigt hätte, habe ich damals wie heute ebensowenig gehabt, wie ich sie verfochten hätte. Ich wollt’s nur mal so wissen, wie leicht man die „Jugendfreunde“ und „Genossen“ ein bißchen hinters Licht führen konnte. Allerdings bin ich mir nicht restlos sicher, ob mir das gelang. Und im engeren Klassenzirkel kannte man mich sowieso zu gut. Die Skepsis, mit der die alten Kumpel dann auch 1987 meine Westreise begleiteten, sollte das bestätigen. Eigentlich ist sie nur noch von dem unübersehbaren Mißtrauen übertroffen worden, mit dem die Grenzer und Zöllner in Probstzella meine Papiere unter die Lupe nahmen. Aber so sollen die jeden beäugt haben, der sich unterhalb des Freizügigkeit verheißenden Rentenalters angeschickt hatte, mit dem Zug nach Süden in den Westen zu gelangen.
Der Gedanke an diesen Grenzübertritt wird mich immer schütteln. Aber nicht wegen dieser oftmals aufgesetzt wirkenden Sentimentalitäten von der Grenze in Deutschland, die dazu noch dessen grünes Herz zerreißt. Es schüttelt mich wegen der vergebenen Chancen, diesem Schnittpunkt zweier Welten durch charmante Kontrolleure, ein augenzwinkerndes „Beehren Sie uns recht bald wieder!“ oder „Daß Sie mir mal nur nicht so lange wegbleiben!“ die Schärfe zu nehmen und Unvermeidliches mit Menschenfreundlichem zu entgelten. Und es schüttelt mich, wenn ich an den Schüttelrost denke, den die Deutsche Reichsbahn Gleisbett getauft hatte, und auf dem ich mit anderen Weggefährten in einem Waggon der Deutschen Bundesbahn sozusagen transportiert worden war. Damals spürte ich jedoch mehr ein unvermitteltes Zucken. Eine Art Schulterknick, der mit der Gänsehaut kommt, die sich über den Rücken kräuselt, auch wenn sich ihr Erreger schon längst verflüchtigt hat. In dieser Verfassung passierten wir Reisenden zwischen den Welten - von manchen „Interzonis“ genannt - also den Grenzübergang Probstzella ohne besondere Vorkommnisse, wie es so schön hieß. Und als auch noch die unangenehmen Eindrücke abgeschüttelt waren, griff eine zunächst ungläubig erfaßte atmosphärische Veränderung um sich, die plötzlich aus der Schüttelrost- eine Schüttelfrosteinlage machte. Der Zug holperte nicht mehr. Die Räder surrten und der Fahrtwind rauschte. Die Tassen und Teller schwiegen still. Der Kaffee rührte sich nicht mehr, sofern man nicht an ihm nippte. Obwohl der Zug derselbe geblieben war, unterschied sich sein Erscheinen davor und danach wie das eines Dampfhammers von dem eines Akkuschraubers. Es war also sehr ruhig im Abteil geworden. Und vor den Fenstern bot sich Staunenswertes. Als häatte man die Landschaft neu gepudert, die Häuser, Straßen und Felder frisch gebadet Ein Augenschmaus der Farben, alles, was recht ist. Und weil das Reisetempo merklich angezogen hatte, rauschten die bunten Bilder in Hülle und Fülle vorbei, daß einem beinahe der Mund offen stehenblieb. Man mußte ganz schön abgebrüht sein, um angesichts dessen nicht ins Grübeln zu geraten. Beispielsweise woher man kam und wohin man eigentlich wollte.
Als hoffnungsvoller Pennäler hatte ich ziemlich hochfliegende Träume. Ganz hoch hinaus sollte es gehen, Pilot wollte ich werden. Wie andere sich als spätere Lokomotivführer sahen und mit elektrischen Eisenbahnen spielten, bastelte ich mir Flugzeugmodelle. Erst die Papierfalter, dann die einigermaßen echt aussehenden Plastetypen mit Propeller- oder Düsentriebwerken. Doch es dauerte nicht lange, da mußte ich zur Kenntnis nehmen, daß meine körperliche Konstitution für diesen Beruf nicht ausreichte. Fortan hatte sich dieser Wunsch für mich erledigt, und ich war seitdem für jede sich mir bietende Möglichkeit offen. Allerdings nur unter der Bedingung, daß sie mit meiner AWD-Vision vereinbar war. Mit meiner Vorstellung von einem schönen und in gewissen Bahnen auch bequemen Leben. Die mit den sechziger Jahren immer öfter in Umlauf gebrachten Losungen schienen mir eine akzeptable berufliche Laufbahn zu eröffnen. Sie lauteten etwa: „Chemie bringt Wohlstand“, „Chemie ist Schönheit, Glück und Zukunft“, „Chemie sichert das Brot des Volkes“. Also machte ich mich auf nach Magdeburg, an der TH „Otto von Guericke“ Chemie zu studieren. Doch, oh Schreck, kaum daß ich angefangen, wäre es um ein Haar auch schon vorbei gewesen. Mit dem Studium, aber vor allem auch mit mir Es war ein Unfall. In dessen Folge aber beschlich mich eine handfeste Ahnung von dem, woran eine meiner ersten Chemielehrerinnen dereinst gedacht haben mußte, als sie sagte, Chemie sei immer dort am Werke, wo es stinkt und pufft „Nur weg!“, dachte ich, und stieg ganz schnell auf Werkstoffkunde um. Knapp fünf Jahre später war ich ohne große Plackerei Diplom-Ingenieur in dieser Disziplin. Ungeachtet dessen aber blieb ich seitdem für polymere Schönheit, leuchtende Farben und deren Wirkung auf das Wohlbefinden immer auf Empfang. Und ab Ludwigstadt, Steinbach am Wald und Stockheim - wie die ersten Orte im weithin gelobten Land hießen - hatte ich für den Rest der Fahrt zu Tante Hilde meine Antennen ganz weit draußen. Das hieß aber nicht, ich wäre in Euphorie vergangen. Völlig unvorbereitet traf mich dieser zuvörderst optische Weltenwechsel nicht Die Eltern hatten schon darüber erzählt, und die Verwandten lieferten bei ihren regelmäßigen Besuchen ein sichtbares Abbild dafür, in Person und auch Erscheinung. Allerdings machte Onkel Herbert eins nicht - obwohl er mit der CDU im Bunde war: Er versuchte nicht, mit bunten Bildern zu flunkern und mich irgendwie zu locken. Dafür war er dann doch zu wenig Parteimann und zu sehr Händler. Er hatte sogar mit dem DDR-Maschinenbauhandel gute Erfahrungen und Geschäfte gemacht. Sicherlich wäre es für mich ein leichtes gewesen, mit kaufmännischen Ergänzungslehrgängen als graduierter Techniker die Praktiker-Flanke seines Mitarbeiterstabes in der Firma zu verstärken. Und wenn er je daran gedacht haben sollte, dann hatte er es stets gut zu tarnen gewußt. Aber so eine kleine Führung durch einen mittelständischen Betrieb, die hat er sich nicht nehmen lassen. Bloß, das ist die halbe Wahrheit. Ich wollte den auch sehen. Ich war richtig neugierig darauf. Jedoch nicht aus Karriere-, sondern aus Vergleichsgründen.
Siebzehn Jahre hatte ich nach der Vorschulphase damit verbracht, mich hier und da mit Wissen vollzupfropfen. Mit Scheuermann und Orthopädenattest konnte das Wehrkreiskommando von dem Vorhaben abgebracht werden, zeitweise aus mir einen Soldaten zu machen Der Lohn war ein recht frühes Diplom. Und ein Arbeitsplatz. Dazu auch noch qualifikationsgerecht! Allerdings in Dessau, wo man u. a. Elektromotoren baute. Nun war ja die als Bauhaus- und Waggonbaustadt zu einigem Ansehen gelangte Kreismetropole auch 1970 schon auf dem Weg zu einer Großstadt. Aber für einen, der vom Rande der Hauptstadt kam, und sei es nur von der der DDR, blieb Dessau Kreisstadt, Kleinstadt, ja Provinz Die Stadt mit den meisten Radfahrern der DDR. Ich war heilfroh, als mich nach einem halben Jahr andere Verwandte mit einem vielversprechenden Tip aus dieser Ecke, wo sich die Mulde in die Elbe ergießt, nach Berlin an die Spree holten. Die Stelle hatte zwar nichts mehr mit dem zu tun, was ich gerade studiert hatte, aber sie lockte mit für damalige Verhältnisse nahezu phantastischen 1050 Mark Anfangsgehalt. Deshalb war es für mich gar keine Frage, ob ja oder nein, sondern vielmehr, möglichst schnell das Büro zu übernehmen. Es war das „Büro für Neuererwesen“ im VEB Lufttechnische Anlagen Berlin, das ich fortan leiten sollte. Und bei diesen günstigen Einkommensaussichten war es mir einigermaßen gleichgültig, daß in solch einer Abteilung gut und gerne einige potentielle Arbeitslose versteckt werden konnten, ansonsten aber die Arbeit auch ohne diese Abteilung und meine „Planungskünste“ gelaufen wäre. Außerdem gehörte es nun nicht unbedingt zu meinen Stärken, meinethalben „unsere jungen Meister von morgen“ für die segensreichen Wirkungen des Neuererwesens zu begeistern, damit sie ihre Messen - die MMM - nicht nur mit Luftnummern der Lufttechnik bestückten. Auch wenn es hieß, für die kontinuierliche Weiterentwicklung und die Festigung des alltäglichen Anwendungsprozesses der Nina-Nasarowa-Methode unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution in den volkseigenen Betrieben der DDR zu werben, dann erledigte ich die Aufgabe so, wie es von mir erwartet wurde. Aber der wahre Jacob war es auch nicht. Denn im Prinzip mußte man ja nun wirklich nicht so ein Gewese darum machen, daß man z. B. seinen Arbeitsplatz nach der Schicht sauber verläßt und die Maschinen bzw. Geräte pfleglich behandelt, und dann diese Selbstverständlichkeit zur „Methode“ erheben.
In der „Werkzeug-Schmiede“, die mir die Westverwandten 1987 in Wildberg zeigten, hätten sie längst aus dem letzten Loch gepfiffen, wäre da jemanden der Einfall gekommen, sich so eine verkappte Agitations- und Produktionspropaganda-Abteilung einzurichten. Trotzdem habe ich ein ganz schönes Auge gekriegt. In den Hallen und Freianlagen herrschte eine bestechende Sauberkeit, eine Ordnung und frappierende Übersichtlichkeit, als erwarte man gerade einen Fotografen und keinen neuen Produktionsausstoß. Schon der äußere Anblick ließ mich erst einmal kurz verharren. Er war einfach schön. Die ganze Fabrik strahlte allem durch ihren frischen und harmonisch abgestimmten Farbanstrich Glanz, Kraft und Prosperität aus. Selbstredend versuchte ich mich instinktiv schützend vor das mitunter doch recht traurige Erscheinungsbild der eigenen Firma zu stellen. Das seien doch nur Äußerlichkeiten, aber mich selbst kann ich mit diesem Argument kaum überlisten. Das ist doch, wenn ich so sagen darf, mein Reden seit dem „Manifest“ - Auch der Schein bestimmt das Bewußtsein. Mein fast gleichaltriger Cousin wurde sogar auf das „auch“ verzichten, allerdings glaube ich, daß er dabei „Anschein“ und „Geldschein“ zu gleichen Teilen im Auge hatte. Und er hatte auch Gründe dafür. Bei dem Betriebsrundgang machte er nämlich kaum ein Hehl aus bestimmten Krisenzeichen, die ihm Sorge bereiteten. Aus der Härte der Konkurrenz und der Schärfe des Windes, der über die Märkte fege. Er schlug Töne an, mit denen er in der „Schule der sozialistischen Arbeit“, den Parteilehrjahrs-Kursen der Betriebsgewerkschaftsgruppen, auch nicht schlecht ausgesehen hätte, zumal sich - im Gegensatz zu diesen - seine Prognosen später noch bestätigen sollten. Aber die mit ungünstigen Wirtschaftsaussichten unmittelbar verbundenen persönlichen Konsequenzen schienen ihn kaum zu berühren. Routiniert und seiner selbst gewiß, hatte er schon Bewältigungsstrategien entwickelt, bevor sie notwendig wurden. „Wenn du halt mit Maschinen nicht mehr handeln kannst, dann machst du es meinetwegen mit Fleisch. Essen müssen die Leute immer.“ Ich dachte so bei mir: „Hoffentlich wird mir dieser tägliche Existenzkampf erspart bleiben.“ Dabei hatte ich gar nichts gegen diese Wirtschafts- und die daraus resultierenden Lebensformen einzuwenden. Im Gegenteil. Ihre Resultate waren immer wieder erstaunlich. Aber ich glaubte einfach nicht, mich in diesem Kreislauf behaupten zu können. Denn war ich auch Egozentriker genug, so hieß das doch noch lange nicht, daß ich als Egoist mein Dasein behauptete und neben dem Wissen über die Funktionsweise von Ellenbogen auch über die Skrupellosigkeit verfugte, sie rigoros einzusetzen. Außerdem habe ich das in meinen Schulen gar nicht gelernt. Das hätte ich aber können müssen, allerdings gekonnt hätte ich das nicht. Sowohl der Onkel als auch der Cousin hatten das schon beizeiten bemerkt, was allerdings nicht so schwierig war. Allein wie sich mich ansahen, als ich das erste Mal in meinem Leben einen Baumarkt nach westlichem Zuschnitt betreten hatte, sprach Bände. Und ich werde es ihnen immer hoch anrechnen, daß sie sich nur wunderten, als ich nach drei Stunden Wanderung durch die Regalschluchten und Präsentations-Nischen, vorbei an Fliesenwänden, Bad- und Toilettenausstattungen, funkelnden Armaturen, Hölzern, Leisten und Beschlägen, immer noch nicht satt zu bekommen war, fast jedes einzelne Werkzeug und die so sehr begehrten Heimwerkermaschinen zu bestaunen und förmlich zu liebkosen. Auch im Auto-Teile-Laden hatten sie nicht auf die Uhr gesehen. Aber so recht verstehen konnten sie es wohl nicht, wie man sich in solch einem Geschäft so hingebungsvoll mit all den Auslagen beschäftigen kann, ohne von direkten Kaufabsichten getrieben zu werden. Nur von heimlichen und unheimlichen Wünschen, vom ungestillten Appetit. Herbert und Hans sahen die Unterschiede und akzeptierten sie. Sie agitierten nicht, sondern erklärten hier und berichteten dort. Sie brachten etwas zuwege, worum sie jeder „kollektive Agitator und Propagandist des sozialistischen Aufbaus in der DDR“ beneidet hätte. Meine Westverwandten vermittelten mir ein realistisches Abbild von der Lebenswirklichkeit in der alten Bundesrepublik, das ich ihnen auch abnahm. Ein Bild, das nicht nur pralle Schaufenster zeigte, sondern auch Ecken und Kanten, das die Möglichkeiten, das Leben zu genießen, in x Varianten anbot, das aber auch die täglichen Mühen um ein Einkommen für ein erträgliches Auskommen ahnen ließ, und das selbst Spuren von denen trug, die das alles schon gar nicht mehr auf sich nehmen wollten oder konnten. Ich jedenfalls glaubte, darin ein ziemlich dünnes menschliches Antlitz dieser Gesellschaft gesehen zu haben. Deshalb geriet ich wohl auch nicht in Gefahr, vom vordergründigen Glanz geblendet zu werden und in Illusionen zu verfallen. Dafür aber lernte ich ermessen, was ich so zu Hause und an der DDR überhaupt hatte. Übrigens desto mehr, um so länger und intensiver ich in diese vom Vater und seiner Schwester begründeten Ost-West-Beziehungen eingebunden war. Bloß, wenn ich damals meinen alten Hennigsdorfer Klassenkameraden erzählt hätte, daß die Pflege geistiger und regelmäßiger persönlicher Kontakte mit der Westverwandtschaft die Ausprägung, Festigung und Vertiefung meines Ostbewußtseins befördert hatte, würden die sich garantiert ausgeschüttet haben vor Lachen. Schlimmstenfalls hätte sich unser Doktor, also der Klassenlehrer, nach einem Spezialisten erkundigt. Denn er war ja „nur“ Doktor aber nicht Arzt.
Gelacht haben sie dann doch nicht. Gestaunt haben sie. Richtig Bauklötzer. Denn mittlerweile war es wieder Winter geworden und selbst an uns paar Hanseln, die noch zum vorweihnachtlichen Klassentreffen im Veltener Haus des Handwerks 1987 zusammengekommen waren, hatte der Wurm genagt, der unterdessen wohl schon überall drin war. Da handelte es sich wirklich nur noch um ungezügelte Neugier und keineswegs mißtrauische Belauerung, als dem erstaunten Ausruf: „Wat’', Konni, du warst im Westen?“, die gleichwohl ernstgemeinte Frage folgte: „Warum bist du da überhaupt zurückgekommen?“ Die Antwort bereitete mir keine Mühe. Inhaltlich gesehen. Aber bevor sie mir auf die Lippen kam, konnte ich mir den stummen spöttischen Gedanken nicht verkneifen: „Ihr kleinen Scheißerchen, was wißt ihr schon von mir? ‚Westhengst’ habt ihr bestimmt mal an dieser oder jener Stelle gedacht. Aber keine Ahnung hattet ihr, daß nicht viel fehlte, und ich wäre gar nicht in eure Klasse gekommen.“
Meine Verwandten entdeckten ihr Herz füreinander ja nicht erst, als es scheinbar kein Zueinander mehr gab. Bereits 1959 waren wir gemeinsam nach Österreich in Urlaub gefahren. Nach Kärnten, an den Wörthersee. Zwei Jahre später verbrachte ich mit Tante, Onkel und Cousin erneut die Sommerferien an diesem schönen Ort. Das war gar nicht so kompliziert. Wichtig war nur, daß man einen Schülerausweis der Bundesrepublik Deutschland besaß, dann lief das ohne Probleme. Ich hatte jedenfalls kein „Fracksausen“ vor irgendwelchen Kontrollen. Mit diesem Papier war ich gewissermaßen ein ganz normaler Transitreisender. Doch plötzlich war ich ausgesperrt. Denn unterdessen war es August geworden im Jahre 1961. Am malerischen Ufer des Wörthersees war allerdings der Dreizehnte dieses Monats genauso zauberhaft wie all die anderen Sommertage. Und daß da in Berlin eine Mauer hochgezogen werden sollte, mein Gott, so schlimm würde es wohl schon nicht werden. Als wir auf westdeutsches Staatsgebiet zurückkehrten, sah das schon ein bißchen anders aus. Onkel Herbert hatte noch einen Bruder in Düsseldorf, dessen Ehe kinderlos geblieben war. Ihn besuchten wir auf der Rückreise. Und bei ihm erfuhren wir auch die ersten Einzelheiten vom Geschehen in und um Berlin sowie diesem für die einen Furcht einflößenden und für die anderen Wut auslösenden Bauwerk, das die alte Reichshauptstadt wie ein Seziermesser in zwei Teile trennen sollte. Als die Rede auf mich und was denn nun zu machen sei, kam, war des Onkels Bruder auf der Stelle bereit, mich sofort zu adoptieren und gar nicht mehr dem Risiko eines möglicherweise gefahrvollen Grenzübertritts auszusetzen. Damit war ich allerdings nicht einverstanden, und als die Wellen der Erregung sich gelegt hatten, sahen das die Verwandten auch ein. Ich war das einzige Kind meiner Eltern, stand am Beginn einer vermeintlich aussichtsreichen Laufbahn über Oberschule und Universität. Meine Mutter wäre vergangen vor Schmerz. Und wer weiß, was von den Familienbanden in dem Falle noch übriggeblieben wäre, wenn sie unter Verzicht auf den einzigen Sohn hätten geknüpft werden müssen. Unter diesen Bedingungen zu bleiben, entsprach auch keinesfalls meinen eigenen Wünschen. Aber es gab nach meiner Meinung auch keinen Grund, in Hektik auszubrechen. Erstens hatte ich den Schülerausweis, zweitens keine Eile, denn drittens begann das neue Schuljahr in der DDR wie stets erst am 1. September. Bis dahin ließ sich bequem ein Hausarzt-Attest über eine zeitweilige, krankheitsbedingte Reiseunfähigkeit besorgen, sowie ein Flugticket nach Berlin-Tempelhof. So kam ich im Schatten des Mauerbaus sogar noch zu meiner ersten Flugreise von Düsseldorf nach Tempelhof und zu der völlig ungewohnten Passage über den noch provisorisch installierten Grenzbahnhof Berlin-Friedrichstraße, von dem aber keine S-Bahnzüge mehr - wie gewohnt - nach Velten, meiner Heimatstadt, abgingen. Nach Hause kam ich trotzdem. Und sechs Tage später etwa saß ich mit 20 weiteren Jungen, aber keinem Mädchen, als Schüler der Klasse 9 Bl in dem Hennigsdorfer Traditionsbau, der genau 35 Jahre zuvor als „Realgymnasium i. E.“ seiner Bestimmung übergeben worden war.
Ich weiß gar nicht mehr, ob ich je einem von ihnen dieses Abenteuer erzählt hatte. Wohl kaum, denn am Anfang schien mir das doch ein bißchen wackelig. Vor allem aber war es unkalkulierbar, wie die Schule darauf - wenn sich das rumsprach - reagiert hätte. Und auch am Ende des Jahres 1987, als alle Anwesenden beim Bier in unserer Kneipennische auf meine Antwort warteten, ließ ich diese Episode sicherlich nur anklingen. Vieles hatte sich auch „verwachsen“. Dennoch verfehlte sie ihre Wirkung nicht. Die Verblüffung und nun auch die spürbare Spannung meiner Zuhörer, glaube ich, haben mich angespornt. Denn wahrscheinlich war ich zu diesem Zeitpunkt der einzige von uns, der die alte Bundesrepublik mit eigenen Augen gesehen hatte. Und ich wollte nun keinen langen Reisebericht abgeben, von Baumärkten und Werkzeugschmieden, unheimlichen Wünschen und Auto-Ersatzteil-Lagern. Deshalb sagte ich nur recht drastisch: „Wenn du im Westen bist, hast du die Wahl: Willst du Karriere und Kohle machen, mußt du dableiben. Bedeutet dir aber die Möglichkeit mehr, zu deinem Chef auch mal ‚Du bist ein Arschloch!’ zu sagen, dann mußt du hierbleiben. Außerdem bin ich 41, da mußt’e drüben Millionär sein, wenn du was zählen willst.“ Ich glaube, meine Jungs hat das überzeugt, obwohl sie die Anspielung auf das Alter als mögliches Ende der beruflichen Fahnenstange eher skeptisch aufgenommen hatten. Dennoch waren sie und ich unterdessen erfahren genug, ein sozial abgesichertes, unaufgeregtes aber niveauvolles Leben, das auf einem guten und festen Arbeitsplatz beruht, nicht zu verachten. Und so, wie ich mir auf dieser Basis das meine eingerichtet hatte, war es für mich unverkäuflich und nicht zu tauschen.
Postscriptum:
Die Geschichte hat sich auch einen Treppenwitz für meine Geschichte ausgedacht: Am 9. November 1989 passierte ich abermals mit einem ordnungsgemäßen Ausreisevisum die Grenzkontrolle auf dem Bahnhof Friedrichstraße. Die Uhr zeigte kurz vor 19 Uhr, als sich der Zug mit mir wieder in Richtung Stuttgart in Bewegung setzte, von wo es am nächsten Morgen nach Wildberg im Schwarzwald weitergehen sollte. Später sah ich im Fernsehen, daß just in dem Moment, als auf meinem Bahnsteig die Kelle gehoben wurde, Reporter aus dem Saal des Internationalen Pressezentrums in Berlin-Ost wie wild an die Telefone stürzten. Schabowski hatte die bewußten Sätze fallenlassen, die die Berliner Mauer zum Einsturz brachten. Doch davon erfuhr ich erst aus den Zeitungen auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof. Aber ich wollte es ebensowenig wie die Schwaben um mich herum glauben. Denn nie wäre es mir in den Sinn gekommen, einmal meine Biographie mit den Worten schmücken zu können: Als die Mauer gebaut wurde, war ich im Westen, als sie eingerissen wurde, ebenfalls und dazwischen nur zweimal. Was danach kam, war für mich „Go West“ in Reinkultur: Arbeit weg, Betrieb dicht und Weiterbildung klangvoll, aber nur fürs Ego. Halt boten mir letztlich die zu DDR-Zeiten entwickelten handwerklichen Fähigkeiten, die Lust, auch körperlich als Bauhelfer zu arbeiten, und eine Umschulung vom unbrauchbaren Ingenieur und Management-Assistenten zum halbwegs brauchbaren Maurer. Der Gesellenbrief und die Anerkennung als einer der besten Lehrlinge des Ausbildungsjahres waren für mich ein nachträgliches Geschenk zu meinem 50. Geburtstag. Eine Anstellung habe ich nun auch erhalten und einen Chef. Aber das wäre schon wieder eine ganz andere Geschichte ...
Konrad Zeuner
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