Herbert Behrfried

Was ist ein Grenzgänger?

Als ich im Jahre 1999 meine erwachsenen Enkel fragte, was sie sich unter dem Begriff „Grenzgänger“ vorstellen können, da sahen sie mich erst einmal mit großen Augen an. Im Museum am „Checkpoint Charly“ wurde ihnen im Rahmen einer Klassenfahrt zwar ein ehemaliger „Fluchthelfer“ vorgestellt, der in der DDR inhaftiert war und demzufolge kein gutes Wort über diesen Oststaat sprechen wollte. Aber die Rolle der „Grenzgänger“ wurde den Gymnasiasten weder im Unterricht noch im Museum an der ehemaligen Berliner Grenze erklärt.

Und doch gab es sie, die Grenzgänger! Eine eigenartige Kategorie von Menschen. Im Berliner Kabarett „Die Distel“ hatte der hervorragende Schauspieler Gerd E. Schäfer sie unverwechselbar aufs Korn genommen: Am Tage schufteten sie im Westen und nachts schliefen sie in ihren Ostbetten. Ihre wertvolle Arbeitskraft verhökerten sie für D-Mark. Dann kauften sie die notwendigen Lebensmittel preiswert bei der staatlichen Handelsorganisation (HO) und dem genossenschaftlichen KONSUM im Osten - für „Ostmark“ natürlich! Fünf Pfennig für ein Brötchen, 20 Pfennig für eine Straßenbahnfahrt, etwa eine gute Mark der DDR für einen Kino-Besuch, 20 DDR-Pfennig für eine Briefmarke, etwa ein Zehntel des Westmietpreises. Das alles fanden sie gut für sich. Ob Friseur oder Zahnarzt, billige Eintrittskarten für Theater, Schwimmbad, Sporthalle, Fußballplatz, Tierpark, Museum; Fahrkarten für Straßenbahn und Eisenbahn - das nutzten sie ohne Skrupel. Dagegen hatten sie nichts einzuwenden. Vielleicht empfanden sie das als lustig.

Gar nicht lustig fanden das dagegen jene Menschen in der DDR, die ihr Land durch fleißige Arbeit voranbringen wollten. Die Betriebsleitungen der Ostbetriebe von Berlin und im Umland rauften sich die Haare, weil ihnen immer mehr dringend benötigte Fachkräfte abhanden kamen. So klagten die Betriebsleiter vom VEB Schwermaschinenbau „Heinrich Rau“ in Wildau, dem VEB Geräte- und Reglerwerke und dem VEB „Karl von Ossietzky“ in Teltow, dem VEB Lokomotivbau „Karl Marx“ in Potsdam-Babelsberg, dem VEB Stahlwerk „Wilhelm Florin“ und dem VEB Elektrotechnische Werke „Hans Beimler“ in Hennigsdorf und viele andere.

Ich erinnere mich an den Leiter der Druckerei der „Märkischen Volksstimme Potsdam“, der mich fragte, was er dagegen tun könnte, damit nicht weitere Drucker, Setzer und Chemiegrafen davonlaufen und zu „Grenzgängern“ werden. Meine Antwort lautete: „Mit den Betreffenden vernünftig reden!“. Und da einer dieser davongelaufenen Drucker in meiner unmittelbaren Nachbarschaft wohnte, versuchte ich es auch selbst. Ich redete mit „Engelszungen“ auf ihn und seine Ehefrau ein, um ihn davon zu überzeugen, daß wir - die DDR - ihn brauchten. Er möge uns nicht verlassen, sich nicht durch den Schwindelkurs der Westberliner Geldwechselstuben auf Kosten aller ehrlichen DDR-Bürger bereichern. Aber es gelang mir nur, seine Ehefrau zu überzeugen, die lieber in der ärmeren DDR arbeitete, als sich als Scheuerfrau im wohlhabenden Westberlin zu erniedrigen. Der Drucker blieb stur, schlug alle Angebote seines Betriebsleiters aus, hörte weder auf seine Ehefrau noch auf mich. Geld zählte für ihn mehr als Moral und sachliche Argumente.

Leider war dieser Mensch kein Einzelfall. Die Zahl der „Grenzgänger“ wuchs und stieg auf einige Hunderttausend. Und der Schaden für die DDR betrug viele Milliarden Mark. So kam es, wie es kommen mußte! Die DDR versuchte sich zu wehren, um nicht den drohenden Bankrott zu erleiden. In Moskau wurden die Weichen gestellt. Der 13. August 1961 war die logische Folge der Politik der NATO-Mächte, die mit der separaten Währungsreform 1948, der deutschen Teilung (1949), der Wiederaufrüstung der BRD und letzten Endes mit allen legalen und illegalen Mitteln auf die Liquidierung des angehenden sozialistischen deutschen Staates von Anfang an intensiv hingewirkt hatten. So bedauerlich und teilweise tragisch die Nebenwirkungen der „Berliner Mauer“ für viele unbescholtene Menschen waren, so segensreich wirkte sie sich aber doch erst einmal für die Wirtschaft und damit für die Mehrheit der DDR-Bevölkerung aus. Das ist für unvoreingenommene Menschen unbestritten.

Am 13. August 1961 traf ich mich in unmittelbarer Nähe der als Agenten-Austauschort berühmt-berüchtigten Glienicker Brücke zwischen Westberlin und Potsdam mit einem guten Freund. Er hatte als jüdischer Mensch die Hölle des deutschen Faschismus überlebt, war überzeugter Antifaschist und half als „Kundschafter“ den Grenzsicherheitsorganen der DDR.

Wir beide fragten uns an diesem Tage, von dem wir annahmen, daß er in die Geschichte eingehen könnte, wieviel Jahre diese Grenze wohl Bestand haben würde? Unsere Schätzwerte schwankten zwischen 10 und 20 Jahren. Tatsächlich wurden es 28 Jahre. Und diese Berliner Staatsgrenze hatte es in sich. Sie war wohl die brisanteste Grenze der Welt, weil sie die beiden mächtigsten Militärblöcke voneinander trennte. Und es gab viele Versuche, diese Grenze zu überwinden. Eine beträchtliche Anzahl von Büchern wurde schon vollgeschrieben mit „Geschichten“, die sich an dieser Grenze ereigneten - wahre und erfundene „Geschichten“. Die Insider des Ostens, die keine „Wendehälse“ geworden sind, müssen sich 10 Jahre nach dem „Fall der Mauer“ noch immer zurückhalten, weil sie sonst Gefahr laufen, der anhaltenden bundesrepublikanischen Hexenjagd gegen Hoheitsträger der DDR zum Opfer zu fallen. Aber die Geschichte verlangt die volle Wahrheit! Es sind nun eben doch hinreichend erwiesene Tatsachen, daß Westberlin nicht nur ein Eldorado westlicher Geheimdienste war, sondern auch ein Hort vielfältiger krimineller Schleuserbanden. Diese unternahmen viele Versuche zur Durchlöcherung der Grenze, zur Ein- und Ausschleusung von Menschen.

Und sie machten erhebliche Profite mit diesem „Geschäft“. 10.000 DM pro Person waren dabei nichts Besonderes.

Die „Geschichte“ vom Agenten-Tunnel, den CIA und US-Militärs von Rudow-Neukölln in Westberlin nach Altglienicke-Treptow in Ostberlin gebaut hatten, um die geheimen Nachrichtenverbindungen der Sowjets zwischen Karlshorst und Wünsdorf anzuzapfen, ist schon hinreichend „ausgeschlachtet“ worden. Weniger „breitgetreten“ wurden bisher diverse Tunnelbauversuche, die nach dem 13. August 1961 auf DDR-Gebiet vorgetrieben wurden.

In Kleinmachnow stehen die Einfamilienhäuschen einer Grenzstraße auf ziemlich lehmigem Boden. Und die Tunnelbauer um Herrn S. mußten Schwerstarbeit leisten, um unterhalb der Hausfundamente etwa 100 Meter auf DDR-Gebiet vorzudringen.

Ouelle: Privatarchiv Behrfried

... dabei kam eine sehr schwere Straßenwalze zum Einsatz

Ja, sie unterquerten sogar noch eine asphaltierte öffentliche Straße. Aber kurz vor ihrem Ziel hatten sie sich etwas verrechnet. So landeten sie mit ihrem Ausstiegsloch nicht auf der geplanten Rasenfläche eines Vorgartens, sondern unter dem Wurzelgeflecht eines mächtigen Fliederbusches. Aber nicht erst durch diese „Panne“ wurden die DDR-Grenzer auf Herrn S. und seine „Fluchthelfer“ aufmerksam. Somit konnte diese „Wühlmaus“, als sie dann doch noch einen Ausstieg im Vorgarten gefunden hatte, von den aufmerksamen Grenzern mit einer metallenen „Acht“ in Empfang genommen werden.

Ein wenig anders ging es in einer Grenzstraße in Großziethen zu. Das Gartenhäuschen auf der Westberliner Seite platzte fast aus seinen „Nähten“. So viel lehmigen Sand hatten die dort tätigen Wühlmäuse schon aus dem in Richtung DDR vorgetriebenen Tunnel herausgeholt. Nun fuhren sie den zusätzlich „geförderten“ Boden täglich säckeweise ins „Hinterland“. Und die Grenzer auf der DDR-Seite warteten geduldig auf die illegalen Besucher. Aber da geschah etwas Unvorhergesehenes! Die Westberliner Polizei- und Zollorgane wollten gegenüber den DDR-Grenzern nicht länger im Nachteil sein. Letztere hatten bereits einen sogenannten Kolonnenweg parallel zur Grenze angelegt, auf dem sie mit ihren grünen „Trabis“ schnell hin und her flitzen konnten. Also wurde nun auch auf Westberliner Seite parallel zur Grenze eine schmale Asphaltpiste gebaut. Und dabei kam eine sehr schwere Straßenwalze zum Einsatz. Das Weitere können sich die Leserinnen und Leser selbst ausmalen: Auf der Höhe des Tunnels brach die Walze ein und sackte in ein Loch. Damit flog dieses Tunnelunternehmen auf. Auch die DDR-Grenzer konnten ihren monatelangen Einsatz beenden. Ein Trost waren ihnen die langen Gesichter der enttarnten Wühlmäuse, die sie noch mittels Teleobjektiv auf der Westseite wahrnehmen konnten.

Aus Rücksicht auf die meiner Ansicht nach ehrenwerten, mutigen, disziplinierten und zuverlässigen DDR-Grenzer werde ich zu diesem Thema keine weiteren Einzelheiten mitteilen. Erwähnen will ich aber noch einmal zwei der obengenannten Personen, die ich nach 1989 wieder traf. Die Frau des Druckers, der 1961 in Westberlin verblieb und seine Frau verlassen hatte, begrüßte mich freundlich. Und mein jüdischer Freund nahm mich beiseite, als wir uns auf der Straße begegneten. Ich ahnte nicht, was er mir sagen wollte. Dann erklärte er mir, daß er über die Rückkehr der Macht der Banken und Monopole sehr besorgt sei. Er fühle sich durch die nicht zu übersehenden Rechtsradikalen der BRD bedroht und komme sich so vor, als sei er zurückversetzt in eine längst vergangene schlimme Zeit.

Diese Wahrheiten dürfen unserer Jugend nicht vorenthalten werden.

Herbert Behrfried

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