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Wie ich vom Niedersachsen zum DDR-Bürger wurde  

Wenn ich heute politische Erinnerungen an die Nachkriegsjahre schriftlich darlege, die im Frühling 1945 mit Friedenshoffnungen begannen und dann doch die Anfangsjahre des über vierzig Jahre währenden Kalten Krieges wurden, so deshalb, weil es immer weniger heute noch ausreichend rüstige Zeitzeugen gibt, die aus eigenem Erleben, Beobachten und auch Eingebundensein in die politischen Auseinandersetzungen jener Zeit berichten könnten.

Das waren jene Jahre, in denen der englische Premier Churchill im Beisein des amerikanischen Präsidenten in Fulton seine Haßrede gegen die Sowjetunion hielt, nach der Stalin ihn empört mit Hitler verglich. Diese Rede war die unheilvolle Weichenstellung für die spätere Teilung Deutschlands in zwei Staaten. Die da heute in den Medien die DDR in Bausch und Bogen verteufeln, waren damals noch Kinder und haben diese Zeit nicht erlebt. Selbst ein Pfarrer und integerer Demokrat wie Herr Schorlemmer war damals gerade erst fünf Jahre alt. Die in den herrschenden Medien und von bundesdeutsch bestellten Professoren verbreiteten „Geschichtswahrheiten“ sind nur die einseitigen Wahrnehmungen aus Sicht all jener, für die z. B. das Recht auf Arbeit kein Menschenrecht ist und auch nicht sein kann und darf, weil ein verfassungsmäßiges Recht auf Arbeit den in der bundesdeutschen Verfassung festgeschriebenen Rechten der Banken und Monopolkapitalisten profithemmend entgegensteht. Maximalprofit aus kapitalistischem Eigentum an Produktionsmitteln ist eben nur bei Existenz eines Arbeitslosenheeres möglich. (Mein Vater hat Arbeitslosigkeit in seinem Leben genug kennenlernen müssen.) Ich bleibe dabei: Das Recht auf Arbeit und die durch dieses Recht auch erst mögliche wirkliche soziale und rechtliche Gleichheit der Geschlechter sind für die Menschenwürde wesentlichere Menschenrechte als Reisefreiheit.

Meine für die ersten Nachkriegsjahre schon ungewöhnliche antifaschistische Grundhaltung danke ich meinem Vater, einem sehr belesenen kommunistischen Arbeiter. Ich hatte ihn 1942 an jenem Sommertag am Radio überrascht, als BBC London die ungeheuerliche Meldung durchgab, daß SS-Einheiten als Antwort auf das Attentat auf Heydrich, Reichsprotektor über Böhmen und Mähren, Vorgesetzter von Eichmann, alle Einwohner von Lidice als Geißeln in der Kirche des Ortes zusammengetrieben hatten, Frauen und Kinder aussonderten und in Konzentrationslager verschleppten, alle Männer ab 16 Jahren aber zusammenschossen und die Toten als auch noch lebende Verwundete in dieser Kirche verbrannt hatten. Das ist die Stunde gewesen, die Stunde, wo mein politisches Leben begann, seit der ich auch im Kriegsalltag den gewöhnlichen Faschismus als Verbrechen erlebte und erlitt. Seit diesem Tag lebte ich bis zum letzten Kriegstag in steter Angst, auch mein Vater könne von der Gestapo verhaftet werden und erlebte die Niederlage des 3. Reiches als Befreiung! Und so erlebte ich als Sechzehnjähriger auch alle politischen Ereignisse mit einer engagierten politischen Wachheit, die für meine durch die Hitlerjugend geprägten Alterskameraden, aber auch für die meisten anderen Dorfbewohner, absolut nicht typisch war.

In meinem Heimatdorf Völksen am Deister hatten Sozialdemokraten und Kommunisten befohlene Zusammenkünfte als Volkssturm genutzt, um sich über die notwendigen Schritte nach Einmarsch der amerikanischen Armee und der Entmachtung der Nazis zu verständigen. Solche schon in der Weimarer Republik politisch links engagierten, nicht mehr kriegstauglichen Männer waren bei uns fast überall die Aktivisten der ersten Stunde, die auch eine Vorstellung davon hatten, wie es weitergehen könnte und müßte. Diese Sozialdemokraten und Kommunisten hatten sich schon am 1. Mai 1945 in der Wohnung meiner Eltern geschworen, nie wieder getrennt zu marschieren, sondern eine Einheitspartei der Arbeiter zu gründen. So ähnlich war es auch in vielen anderen Orten im Westen. Bis 1947 veranstaltete z. B. die KPD Kreis Springe in den Dörfern bis hin nach Hameln gesellige Abende, bei denen auch ich auftrat, Gedichte von Kurt Tucholsky, Erich Weinert und Erich Kästner rezitierte, ein sozialdemokratisches Doppelquartett sang, und eine Kapelle zum Tanz aufspielte. Dann aber war Kurt Schumacher aus England gekommen, der voller Haß gegen das Aktionsbündnis der beiden Arbeiterparteien geiferte. Und auch unsere SPD-Genossen mußten sich fügen. Verbittert schilderte Vater danach immer wieder, wie die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten außer Karl Liebknecht entgegen allen Beschlüssen seinerzeit den Kriegskrediten zugestimmt hatten und den Ersten Weltkrieg damit finanzieren halfen. Oder wie der sozialdemokratische Innenminister Noske 1929 zum 1. Mai auf Arbeiter schießen ließ und, ungeachtet seiner Begründung „einer muß der Bluthund sein“, nicht aus der SPD ausgeschlossen wurde.

Die Masse der Menschen in den Dörfern aber, meist Frauen, deren Männer gefallen, verschollen oder in Kriegsgefangenschaft waren, Ausgebombte aus Hannover und dem Ruhrgebiet, Flüchtlinge aus Schlesien und Ausgesiedelte aus den Sudeten, sie alle waren zwar froh, daß der Krieg vorbei war. Sie schimpften auf Hitler und die Nazis, aber nicht als Kriegsverbrecher, sondern weil er den Krieg verloren hatte. Diese Haltung wurde um so massiver, je mehr Soldaten aus der Gefangenschaft zurückkamen, besonders aus englischer Gefangenschaft. Wenn man mit denen mal über die Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht sprach, die ja mit den Nürnberger Prozessen immer bekannter wurden, wurde man sofort als Nestbeschmutzer abgestempelt und konnte schnell Prügel beziehen. Kein Wunder, daß die Ausstellungen über die Verbrechen der Deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg von den direkten und geistigen Erben der Mittäter von damals noch heute wütend verfolgt werden.

Besonders bei uns in der britischen Zone bekam man sehr schnell mit, wie oberflächlich die sogenannte „Entnazifizierung“ betrieben wurde. Die Hauptaufgabe war spürbar, nicht etwa aktive Nazis zu entlarven, sondern sie und ihr Wissen und Können für die Vorbereitung bei der Bildung eines Separatstaates entgegen dem Potsdamer Abkommen wieder verwendungsfähig zu machen. Die Entnazifizierungsurkunden wurden von der Bevölkerung dementsprechend als „Persilscheine“ qualifiziert. Schlimmer noch aus antifaschistischer Sicht: Faschistische „Heldentaten“ waren geradezu karrierefördernd. Unser unmittelbarer Nachbar, einst gelernter Modelltischler und dann Gestapo-Angehöriger, war von einer zeitweilig inhaftierten Mitbewohnerin unseres Dorfes in einer Hafteinrichtung in Hannover-Ahlem beobachtet worden, als er eigenhändig vier Häftlinge am Galgen erhängte. Sie zeigte ihn 1945 unserem amerikanischen Kampfkommandanten unter Eid als Nazimörder an. Der Gestapomann wurde daraufhin auch festgenommen, aber von den kleinen Nazimitläufern abgesondert. Er kam erst zwei Jahre später aus England zurück. Dort hatten ihn die Briten „umgeschult“. Unmittelbar nach seiner Rückkehr wurde er als Kriminalinspektor in Hannover eingesetzt. Zu jener Zeit lief in der Ostzone der DEFA-Film von Wolfgang Staudte „Die Mörder sind unter uns“. Wir Antifaschisten aber erlebten nicht nur in Niedersachsen: Die Mörder waren wieder über uns! Das war fast zwei Jahre früher geschehen, als Globke, der juristische Vorbereiter millionenfachen Judenmordes, von Adenauer nach seiner Wahl zum Bundeskanzler sogar zum Staatssekretär berufen wurde.

Eigentlich hatte ich Förster werden wollen. Ich war herangewachsen am Rande der vorzüglich bewirtschafteten Waldungen des Freiherrn von Knigge im Deister, westlich von Hannover, einem Nachfahren des um gutes Benehmen bemühten Aufklärers. Dort hatte ich die Liebe zum Wald gewonnen. Dort hatte ich in den wenigen Jahren nach Kriegsschluß aber auch zur Genüge ostelbische Rittmeister, Barone und andere Gutsherren kennengelernt. Sie waren eine ganz besondere Sorte von Kriegsflüchtlingen. Freiherr von Knigge hatte diesen seinen - meist mit Monokel herumlaufenden - Standesgenossen aus dem Osten Unterschlupf als angebliche Forstangestellte gewährt. Sie machten in ihrer ostelbischen Arroganz nicht nur unserem einheimischen Förster Klaus das Leben mehr als schwer, sondern hatten auch mir den Wald verboten. Klaus nannte sie verächtlich: „Diese Krönleinträger“. Er, wie auch meine Eltern und viele andere auch, wir waren alle der Meinung, daß auch bei uns im Westen bald eine Bodenreform durchgeführt werden würde. Ich glaubte also, daß auch Arbeiterkinder künftig als Forstwirte gebraucht würden. Denn fast alle Parteien sprachen davon, daß sie Sozialismus wollten, sogar die CDU in ihrem Ahlener Programm. Und die SPD verkündete, in Hessen würde das Beispiel für ganz Deutschland gegeben.

Aber als ich mich an der Forstfachschule Hannover-Sarstedt bewarb, fragte mich der auch Monokel tragende Herr Direktor dieser Fachschule: „Was, junger Mann, ist Ihr Vater? Elektriker? Ja, um Himmels Willen, warum wollen Sie dann gerade Förster werden? Werden Sie Elektriker. Das Land braucht Elektriker! Nein, unsere Studienplätze benötigen wir für unsere jungen Herren Offiziere, die für Deutschland gekämpft haben. Wir brauchen sie auch für die Söhne der Gutsbesitzer, die im Osten heimatlos gemacht wurden und jetzt eine neue Perspektive benötigen. Nein, junger Mann, wie sagt das Sprichwort? Schuster, bleib bei deinem Leisten!“ Nach diesem Schlüsselerlebnis unterrichtete mich die KPD, daß in Ostberlin an der Humboldt-Universität eine Vorstudienanstalt1 eingerichtet sei als Vorbereitung für ein Universitätsstudium, extra für Kinder aus Arbeiter- und Kleinbauernfamilien.

Die FDJ West organisierte in dieser Zeit nach dem Vorbild der FDJ in der Ostzone den Kampf um die Grundrechte der jungen Generation. Wenn junge Männer schon mit 18 Jahren und noch jünger auf den Schlachtfeldern als Soldaten ihr Leben für Volk und Vaterland einsetzen durften, dann sollten sie auch wählen und gewählt werden dürfen, dann sollten sie auch das Recht auf kostenlose Ausbildung haben, dann sollte der Lehrling bei gleicher Arbeitsleistung auch gleichen Lohn erhalten. Um für solche Forderungen sattelfester im politischen Dialog zu werden, ging ich mit anderen Jugendfreunden bei Stapelburg illegal über die Zonengrenze und nahm im Frühsommer 1948 in Drei Annen-Hohne an einem 14tägigen FDJ-Lehrgang teil. Anschließend trennte ich mich von den Jugendfreunden, um mich in Berlin an der Vorstudienanstalt zu bewerben. Ich erhielt auf der schriftlichen Bestätigung gleich noch die Information für alle ostzonalen Behörden, daß ich dann als ein Schwerarbeiter die Lebensmittelkarte B erhalten würde.

So setzte ich mich unbekümmert in den Zug bis Marienborn, um nach dem üblichen Fußmarsch bis zum Grenzkontrollpunkt wieder mit meinem westdeutschen Paß über die Grenze zurückzugehen. Nach einem Marsch von fast fünf Kilometern entlang der Autobahn kam ich an eine über hundert Meter lange Schlange von Leuten, die wie ich durch die nun vor uns liegende Kontrollbaracke nach Westen wollen. Und was sah ich mit Erschrecken? Alle, die da über die Grenze wollten, hatten einen Interzonenpaß in der Hand und den ostzonalen Personalausweis. Ich besaß beides nicht. Ratsuchend wandte ich mich an einen Volkspolizisten, der durch sein Abzeichen als FDJ-Mitglied zu erkennen war, zeigte ihm meine Bescheinigung von der Vorstudienanstalt sowie meinen von der britischen Militärregierung ausgestellten Personalausweis und bat um Hilfe. Er kratzte sich verlegen: So etwas sei ihm noch nicht vorgekommen. Nur eins sei klar: Der russische Natschalnik würde mich, mit welcher Begründung auch immer, nie und nimmer durchlassen. Aber als sich der mächtige Kontrolloffizier gleich darauf laut schimpfend mit einer für diese Hungerjahre wirklich sehr korpulenten Frau im Pelzmantel befaßte, winkte mich mein unbekannter Freund so geschickt durch den Kontrollraum, daß der Offizier es überhaupt nicht mitbekam. Mit „Freundschaft“ entließ er mich auf das mindestens 150 Meter breite Niemandsland zwischen den Grenzbaracken Ost und West, welches alle Interzonen-Paßinhaber überqueren mußten.

Auf der englischen Seite wurde ich von einem deutschen Oberfeldwebel angeschnauzt: Ob ich ihn verarschen wolle. Zwei Jahre sei er nun schon am Kontrollpunkt, und noch nie sei hier jemand vom Russen ohne Interzonen-Paß durchgelassen worden. Bloß auf Personalausweis, das gäbe es doch gar nicht. Die Volkspolizisten würden sich schön hüten, irgend jemand zu helfen, da würden die sich schnell in Sibirien wiederfinden. Meinen Schein von der Vorstudienanstalt aber zeigte ich ihm vorsorglich nicht. In einem Wachraum mußte ich drei Stunden lang immer wieder meine Unterschrift malen. Schließlich wurde festgestellt, daß ich doch ich sei. Und da das nicht strafbar ist, ließ man mich kopfschüttelnd laufen. Heute überlege ich, es könnte also sein, daß ich tatsächlich der einzige Deutsche bin, der jemals ohne Interzonenpaß, nur auf Personalausweis, diesen Übergang Marienborn-Helmstedt zwischen den feindlichen Blöcken überquert hat.

Drei Monate später führte mein Weg erneut in einer Nacht nach Osten über die Grenze. Diesmal mit dem festen Ziel, nach Abschluß meines Studiums wieder nach Niedersachsen zurückzugehen. Die politische Großwetterlage in und um Berlin hatte sich seit dem Sommer im Zusammenhang mit ununterbrochenen Verletzungen des Potsdamer Abkommens durch die Vorbereitung eines westdeutschen Separatstaates enorm zugespitzt. Die drei Westzonen waren inzwischen zu einer Trizone mit einem parlamentarischen Rat unter Adenauer zusammengefaßt. „Trizonesien“, sagten die Spötter, um die Hauptverantwortung, aber auch die Abhängigkeit von den Westmächten zu verulken. Es gab nun zwischen den Westzonen und der Ostzone keine Bahnverbindung mehr nach Berlin. Die war von sowjetischer Seite kurz nach meiner Rückkehr aus Ostberlin unterbrochen worden. Brücken müßten repariert werden, hieß es von sowjetischer Seite. Das erwies sich bald als eine politisch katastrophal falsche Antwort auf die ununterbrochene Verletzung des Potsdamer Abkommens. Wer in politischen Diskussionen die Sowjetunion dafür verteidigte, stand ebenso auf verlorenem Posten wie bei den Diskussionen um Vergewaltigungen.

Die Westalliierten starteten daraufhin ihre historische Luftbrücke. Am 9. September 1948 hatte dann in Westberlin eine antisowjetische Kundgebung mit über hunderttausend Menschen am Brandenburger Tor stattgefunden, die sich auch gegen Maßnahmen des Ostberliner Magistrates richtete. Die sowjetische Flagge war dabei vom Brandenburger Tor gerissen worden. Das Wachkommando für das sowjetische Ehrenmal im Tiergarten mußte sich gewaltsam den Zugang zum Wachwechsel verschaffen, die jugendlichen Täter waren wegen Flaggenschändung festgenommen worden. Mein Ziel stand aber fest: Ich gehe nach Berlin.

Mit dem Zug ging es erst bis Helmstedt. Dahinter lag die Zonengrenze, irgendwo im Wald östlich der Stadt. Mit einer Gruppe einander völlig unbekannter Männer und zwei Frauen stolperte ich in der hereinbrechenden Nacht hinter einem Einheimischen her, der uns über die Grüne Grenze geleitete. Er sei ortskundig genug, hatte er versichert, so daß wir weder den Militärposten der Tommies oder - was mehr gefürchtet war - dem „Iwan“ in die Hände fallen würden. „Iwans“, das waren die sowjetischen Posten, die irgendwo in diesen Wäldern die Ostzone abriegelten. Der Betrag, den unser Lotse wegen der Gefahren auch von mir vorsorglich vorher abkassierte, betrug fast die Hälfte meiner kümmerlichen Barschaft. So machte ich mir wegen meines ziemlich leer gewordenen Portemonnaies mehr Sorgen, ob ich mir noch eine Bahnkarte nach Berlin leisten konnte, als darüber, ob uns irgendwer in der Dunkelheit schnappen würde. Oder ob man uns sogar überfiel und ausraubte. Davon hörte man damals oft schauerliche Geschichten. Für die meisten stand seinerzeit fest, das waren dann immer die „Russen“. In Wirklichkeit waren es aber meist als Schlepper getarnte deutsche Banden, die Grenzgänger in organisierte Hinterhalte lockten.

Ungeachtet der politischen Großwetterlage Ende September 1948 ging ich auch mit dem Wissen, dort im Osten war die Bodenreform zugunsten von Kleinbauern und Flüchtlingen wirklich vollzogen, waren nach Volksentscheiden Rüstungsgewinnler und Bankiers enteignet worden, bekamen Kriegsverbrecher keine „Persilscheine“ wie bei uns in den Westzonen. Aber mein Weg von West nach Ost war damals und blieb auch später für die Mehrzahl der Deutschen ungewöhnlich. Vielmehr gingen Hunderttausende den entgegengesetzten Weg von Ost nach West. Die meisten zwar auch nur mit dem, was sie tragen konnten, ebenfalls wagemutig. Aber sie gingen nicht mit meiner Lebensvorstellung - nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus und alles für die soziale Sicherheit auch der kleinen Leute - und meiner Bereitschaft, auch dafür zu lernen. Wer war denn schon wie ich durch ein antifaschistisches Elternhaus geprägt. Die ungeheure Masse der Deutschen, die Hitler gefolgt waren, solange noch an allen Fronten gesiegt wurde, hatte nach dem Zusammenbruch nur eins vor Augen: Überleben! Die meisten verließen die Ostzone doch, um nach der Währungsreform irgendwie am westdeutschen Wirtschaftswunder teilzuhaben. Das, was sich in den Westzonen mit Hilfe der vom Krieg völlig unversehrten USA und dem von ihnen ausgearbeiteten und finanzierten Marshall-Plan auf den Kriegsruinen als Wirtschaftswunder entwickelte, daran wollte man teilhaben. Jedem Denkenden war klar, daß die bis an die Wolga von den deutschen Heerscharen zerstörte Sowjetunion die ihr unterstellte sowjetische Besatzungszone nicht annähernd in gleicher Weise aufpäppeln konnte, sondern im Gegenteil, durch berechtigte Reparationen, wenigstens einen minimalen Bruchteil Ersatz für ihre ungeheuren Kriegsschäden erwartete.

Eine bittere Wahrheit aber ist auch: Sehr viele jener Männer, die ab 1949 klammheimlich - oft damit sogar ihre Familien im Stich lassend, so daß sich dann die DDR um die Versorgung ihrer Kinder und alten Eltern kümmern mußte - von Ost nach West gingen, taten dies vor allem aus Angst vor der nachträglichen Entdeckung ihres wirklichen persönlichen Anteils als Hitlers Erfüllungsgehilfen an den Verwüstungen und Kriegsverbrechen. Es waren schließlich die ostdeutschen Medien, die immer wieder darauf aufmerksam machten, daß vor westalliierten und westdeutschen Gerichten Kriegsverbrechen, die im Osten begangen wurden - also an Menschen, die jetzt hinter dem „Eisernen Vorhang“ begraben lagen - als nicht überprüfbar „mangels Beweisen“ kaum angeklagt wurden. Und wenn doch ausnahmsweise mal, daß dann die Begründung „Befehlsnotstand“ oder bescheinigte „Haftunfähigkeit“ nahezu alle Verbrechen an Polen, Russen und Tschechen ungesühnt ließ.

An der Vorstudienanstalt war ich der Jüngste in der Klasse. Es machte mir eigentlich wenig aus, daß die Räume wegen des allgemeinen Mangels an Kohle kaum geheizt waren. Es kam ja keine Steinkohle mehr aus dem Ruhrgebiet, und zwar nicht nur wegen der Berlin-Blockade! Auch die Braunkohlenversorgung aus der Lausitz war wegen der veralteten oder zerstörten Fördertechnik viel zu gering. Außerdem gab es zu wenig Transportraum. Wir machten sogar Unterricht an einem Wintertag, wo die Tinte in den Tintenfässern eingefroren war. Mehr quälte mich der Hunger. Da half auch die Lebensmittelkarte B nicht darüber hinweg. Am schlimmsten war die Dekade im Monat, in der statt Fleisch bzw. Wurst nur Fisch aufgerufen wurde. Was macht ein alleinstehender junger Mann schon mit ca. 500 Gramm Karpfen, wenn er sich über 10 Tage hauptsächlich davon ernähren soll? Irgendwann bekam ich Wasser in die Beine und trage davon noch heute Narben. Während wir unter diesen Bedingungen studierten, haben viele junge Leute sich - in für jene Zeit verständlicher Weise - auf dem Schwarzen Markt versorgt. Dazu brauchte es aber Geschick und Geld. Besonders letzteres hatte ich nicht! 120 Mark Stipendium im Monat nach Abzug der Miete reichten nicht, um sich zusätzlich auch noch am Potsdamer Platz ein Brot für 15 Mark „schwarz“ kaufen zu können.

Unsere Dozenten waren allesamt hervorragende Fachleute, antifaschistische, von den Nazis gemaßregelte Lehrer und Wissenschaftler, auch Juden, die - wer weiß wie - die Nazizeit überlebt hatten. Aber außer dem Direktor und einem Professoren-Ehepaar gab es meines Wissens unter ihnen keine Mitglieder der SED. Besonders gern erinnere ich mich unserer Russisch-Dozentin, einer mit ihrem Mann in der Zeit des Bürgerkriegs aus der Gegend von Petersburg geflohenen russischen Adligen, die mit mir anfangs sehr viel Mühe hatte. So leicht mir das Erlernen der englischen Sprache gefallen war - ich hatte 1945 mehrere Monate als knapp Sechzehnjähriger wiederholt Englisch gedolmetscht - Russisch zu erlernen, gelang mir nie auch nur annähernd so gut. Englisch aber wurde an der Vorstudienanstalt nicht gelehrt, das war die „Sprache des Klassenfeindes“. Wenn ich mit meinen Englischkenntnissen etwas protzen wollte, guckten mich einige besonders „revolutionäre“ Sachsen aus unserer Gruppe so an, als sei ich selber ein Gegner aus den Westzonen. Diese jungen Leute hatten auch kein Verständnis dafür, daß mein Vater als Kommunist bei den Nazis nicht eingesperrt worden war. Für sie waren Kommunisten, die von den Nazis nie eingesperrt waren, keine Kommunisten. Es war da ganz gut, daß ein Viertel unserer Klasse wie ich aus den westlichen Besatzungszonen kam, vor allem aus der Pfalz und dem Ruhrgebiet. Das war ein ganz gutes Gegengewicht gegen diese „junge rote Garde“, die ja auch mal in der Hitlerjugend marschiert war. Die meisten meiner männlichen Mitstudenten aber waren junge Soldaten aus der Ostzone, aus sowjetischer Gefangenschaft zurückgekehrt. Ich war der einzige Niedersachse und bot mit meinem über den „spitzen Stein“ stolpernden „ST“ im sonst einwandfreien Hochdeutsch des Hannoveraners immer wieder Anlaß zum Spott, den ein richtiger Niedersachse wie ich nun wieder gar nicht gern erträgt.

Als KPD-Mitglied (ich bin schon mit 16 Jahren in die KPD aufgenommen worden) wurde ich automatisch Mitglied der SED. Mit dem Vereinigungsparteitag 1946 gab es ja keine KPD mehr in Berlin oder der Ostzone. In dem politisch gespaltenen Berlin erlebte ich nun neben der SED, der LDPD und der CDU-Ost auch eine CDU-West, vor allem aber eine Kurt-Schumacher-getreue SPD, die in ihrem Haß auf die führenden Kräfte in Ostberlin die CDU-West noch übertraf, und deren Oberbürgermeister Ernst Reuter Berlin als „billigste Atombombe“ anpries. Das kreide ich ihm noch heute an! Wir forderten daraufhin damals einen jungen SPD-Genossen meiner Klasse auf, aus der Westberliner SPD auszutreten und sich zur SED zu bekennen. Als er sowohl seinen Übertritt als auch einen Austritt aus der SPD ablehnte, stimmte auch ich für seinen Ausschluß aus der Vorstudienanstalt. Schließlich waren diese Bildungseinrichtungen das Ergebnis des politischen Zusammengehens von Kommunisten und Sozialdemokraten. Wir Studenten waren der Meinung, wer sich einer Partei zugehörig fühlte, welche ihre Hauptgegner in jenen sah, die mit Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl die politische Einheit der Arbeiterklasse realisierten, der sollte auch nicht Nutznießer der bildungspolitischen Erfolge dieser Einheit sein. Mir wurde leider erst Jahrzehnte später bewußt, daß diese Haltung gegen den jungen SPD-Genossen von der gleichen Intoleranz geprägt war, wie sie bei Kurt Schumacher und auch bei allen anderen rechtsgerichteten Politikern gegenüber den linken Kräften gang und gäbe war.

Eines der interessanten Erlebnisse dieser Zeit war der erste freiwillige Aufbaueinsatz in Berlin, an dem auch wir Studenten teilnahmen. Er fand bei herrlichem Oktoberwetter auf dem Gelände der von Luftminen zerstörten Werkhallen von Bergmann-Borsig statt. Es wurde viel geschafft. Am nächsten Tag aber kam unser Direktor mit einem Mann vom „Augenzeugen“ der DEFA. Sie hatten das Ereignis nicht gefilmt, und wir sollten es nun mit ihnen nachholen. Aber als wir am Dienstag wieder draußen auf dem Gelände waren, konnten sie wieder nicht filmen, weil das Oktoberwetter an diesem Tag absolut zu trübe war. Sie brauchten stundenlang, um ihre altersschwachen Scheinwerfer zu installieren, die dann auch kaum reichten. Wir aber hatten die uns zugewiesene Halle inzwischen längst vom Schutt befreit und die darin stehenden Lokomotiven gesäubert. Nun mußten wir die Lokomotiven wieder mit Trümmern eindecken und wurden danach beim erneuten Räumen gefilmt. Noch 1988 wurde dieser Streifen, auf dem auch ich eifrig beim Trümmerräumen zu bewundern bin, als Dokument aus den Anfängen der DDR im Fernsehen gezeigt. Niemand von heute erkennt mich da aber, weil ich so jungenhaft schlank war. Seit dem Kriege bekomme ich es gewöhnlich mit, wenn dem Zuschauer gestellte Aufnahmen als authentische untergejubelt werden. Aber ich bin noch heute stolz, nicht nur am ersten freiwilligen Aufbaueinsatz in Berlin fleißig mitgewirkt zu haben, sondern in Hunderten von weiteren Aufbaustunden die schrecklichen Kriegstrümmer aus dem Zentrum von Berlin gemeinsam mit den fleißigen Berliner Trümmerfrauen und anderen freiwilligen Helfern beseitigt zu haben - in einer Zeit, wo kaum schwere Technik zur Verfügung stand.

Zu Beginn 1949 erhielt ich mit 21 anderen Mitstudenten im ersten Studentenheim der Humboldt-Universität in Hohen Neuendorf Unterkunft. Das hatte mehr Vorteile als Nachteile. Es war billiger als die Miete eines möblierten Zimmers. Der wichtigste aber war für mich: Dort gab es Internatsverpflegung ohne „Karpfen“-Dekade. Der Nachteil: In der kleinen hellhörigen Villa gaben vor allem die „Philosophen“, die Juristen und Germanisten den Ton an, und das sehr lautstark. Bis tief in die Nacht hinein wurde heiß debattiert: Über die Berlin-Blockade, über die Luftbrücke, über die Gründung der gegen die Sowjetunion gerichteten NATO, über den Ungarn Lukács, über das Grundgesetz, das der westdeutsche parlamentarische Rat unter Adenauers Vorsitz beschlossen hatte und über den Verfassungsentwurf, den der ostdeutsche Volksrat des Demokratischen Blocks zur Diskussion gestellt hatte, sowie über die Folgen, sollte es tatsächlich zur separaten Gründung einer Bundesrepublik kommen. Wir alle in unserem Heim und an der Vorstudienanstalt, wir alle wollten auf der Grundlage des Potsdamer Abkommen die politische und wirtschaftliche Einheit ganz Deutschlands. Wir sahen in den Bestrebungen zur Gründung eines westdeutschen Separatstaates den sicheren Verlust der deutschen Einheit. Wir hätten uns auch nicht vorstellen können, daß später mit der 2. Parteikonferenz auch seitens der DDR der gerade in der Verfassung festgeschriebene Kampf um die Einheit des deutschen Volkes wieder aufgegeben wurde. Aber ehrlich, trotz aller meiner politischen Vorbildung, bei den juristischen Diskussionen der älteren Kommilitonen war ich als der Jüngste in unserem Sechsmann-Zimmer meist überfordert. Und weil diese bis zu zehn Jahre älteren Kommilitonen gewöhnlich wesentlich später zu ihren Vorlesungen ausrücken mußten als ich, war ich im Unterricht oft genug müde. Die Fakultäten hatten sehr unterschiedliche Vorlesungszeiten. Manchmal aber hatte auch mein Liebesleben Schuld an der Müdigkeit.

Im August 1949 fanden die Wahlen zum ersten Deutschen Bundestag in den Westzonen statt - ohne Rücksicht auf die Bevölkerung in der Ostzone und im Affront gegen die Sowjetunion. Als Gegenreaktion zu den politischen Vorgängen in den Westzonen waren in einer Volksabstimmung die Delegierten zum Volkskongreß für Einheit und gerechten Frieden gewählt worden. (Da war ich einer der Beisitzer in einem der Hohen Neuendorfer Wahllokale.) Aber als dann die Bundesrepublik Deutschland tatsächlich ausgerufen und danach die Ostzone von den Delegierten des Volkskongresses zur Deutschen Demokratischen Republik, zu einem eigenständigen Staat erklärt wurde - mit Wilhelm Pieck als Präsidenten -, war ich als Hannoveraner durchaus nicht glücklich. Da war nun die Zonengrenze, die Grüne Grenze, zur Staatsgrenze zweier deutscher Staaten geworden, deren Grenzpfahle beide Seiten immer tiefer in den Boden trieben. Mich störte nicht, daß beide Staaten damals nach wie vor auch unter Besatzungsrecht standen, also gar nicht so selbständig waren. Mich bedrückte, daß meine Hoffnung auf ein einheitliches, sozialistisch orientiertes Deutschland den restaurativen Kräften um Adenauer zum Opfer gefallen war. Für mich ist dieser Politiker auch heute noch der historisch Hauptverantwortliche für die jahrzehntelange Spaltung der deutschen Nation mit seinem Credo: „Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland halb.“

Es gab aber auch Dinge, die mich hätten mehr zum Nachdenken zwingen müssen. Von dem SPD-Genossen, den wir ausgeschlossen hatten, wurde ja schon berichtet. Da gab es ferner heftige Auseinandersetzungen mit den Veterinärmedizinern, die im Studentenrat der Humboldt-Universität niemand von der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät haben wollten. Wie massiv wir uns an deren Fakultät dann aber zur Unterstützung der wenigen FDJ-Studenten dieser Fakultät einmischten, hatte nachher genausowenig mit Demokratie zu tun. Damals dachte ich aber, das sei gut für die wahre Demokratie.

In unangenehmer Erinnerung habe ich auch noch Veranstaltungen im Hause der Kultur der Sowjetunion, wo Professor Steinitz sich als marxistischer Gesellschaftswissenschaftler mißbrauchen ließ, im Namen der Partei die Theorien des sowjetischen Biologie-Scharlatans Lyssenko zu Fragen der Vererbung zu verteidigen. Weil alle Naturwissenschaftler der Universität die Veranstaltungsreihe boykottierten, wurden wir Studenten der inzwischen zur Arbeiter-und-Bauern-Fakultät erhobenen Vorstudienanstalt gebeten, den Saal zu füllen. Das war schon peinlich.

Irgendwann wurde unseren in Westberlin wohnenden Dozenten nahegelegt, nach Ostberlin umzuziehen. Anders sei ihre Beschäftigung nicht mehr möglich. Manche wollten oder konnten nicht, und so blieb eines Tages auch unser Deutschlehrer, Herr Zänker, weg. Das verstand man ja noch. Aber da war einer von uns, ebenfalls Genosse, ein mit seinen Eltern rechtzeitig vor dem Krieg nach England emigrierter Jude, also ein junger Deutscher, der in der englischen Luftwaffe Kriegseinsatze gegen Hitlerdeutschland geflogen war. Er war in seiner Lernhaltung ein mich stark beeindruckender Mann. Eines Tages verabschiedete er sich von uns. Er ginge für immer fort aus Deutschland. Westdeutschland mit seinen wieder in Amt und Würden installierten Nazis sei niemals seine Heimat. Doch wegen seiner Emigration in England habe er aus „Sicherheitsgründen für die DDR“ auch in Ostdeutschland keine Chancen. So habe man es ihm zu verstehen gegeben. Er ginge nach Israel. Aber er bliebe Sozialist. Niemand von uns hat dazu eine Diskussion angefangen, wenigstens eine Frage gestellt! Ich schäme mich noch heute dafür. Grundlage war wohl der sogenannte Befehl 2, der Polizei und Ämter von möglichen Agenten aus dem Westen säubern sollte. Aber wenn so bewährte Antifaschisten, die an der Spitze unseres Staates standen, es für notwendig hielten, was sollte man dann als junger Mensch mit seinen wenigen Erfahrungen dazu sagen?

Nur wer selber miterlebt hat, wie dann mit der Einführung der D-Mark auch in Westberlin durch die Westalliierten - hinter der die ungeheure Wirtschaftsmacht der USA und des britischen Empire standen - ein ökonomischer Druck auf Ostberlin und die DDR ausgeübt wurde, der zur Abwerbung und Abwanderung der Arbeitskräfte in Größenordnungen führte, der alle unsere Aufbaubemuhungen unendlich schwieriger machte, kann verstehen, daß alle jene, die in der DDR die antifaschistische und soziale Alternative sahen, mit Erbitterung reagierten - aber dadurch hin und wieder eben auch überzogen reagierten. Dazu gehörte der vergebliche Versuch, die einseitige Währungsreform für die Westsektoren der Stadt nicht anerkennen zu wollen, weil sie auch Berlin endgültig ökonomisch teilte. Und der daraus resultierende Streik der Westberliner S-Bahnfahrer, der stellenweise zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führte, weil von westlicher Seite sofort versucht wurde, auch die S-Bahn aus ostdeutscher Verwaltung zu nehmen.

Ein besonderes schönes Erlebnis internationaler Solidarität dagegen war, als spanische Emigranten zu uns kamen und uns baten, am 1. Mai ihren Marschblock zu verstärken, um sie in ihrem Protest gegen den immer noch herrschenden faschistischen Diktator Franco zu unterstützen. Sie übten mit uns ihre Kampflieder ein, die wir dann mit ihnen im Demonstrationszug auf Spanisch anstimmten. Dafür sangen sie mit uns das Lied des Thälmannbataillons der Internationalen Brigaden während des spanischen Bürgerkriegs zweisprachig.

Nach dem Abitur verbrachte ich meine Ferien wieder daheim in Völksen, diesmal wohlausgerüstet mit einem Interzonenpaß. Die Züge fuhren wieder von Berlin bis Hannover durch. Aber es war um jene Zeit, als die Sowjetunion das Atomwaffenmonopol der USA gebrochen hatte. Angesicht der Gefahren eines möglichen Atomkrieges hatte der Weltfriedensrat von Stockholm aus weltweit zu Unterschriftensammlungen für die Ächtung der Atomwaffen seitens der UNO aufgerufen. Wir wissen ja, daß die USA noch jetzt - im Jahr 2000 - in ihrer Militärdoktrin den Ersteinsatz von Atombomben aufrechterhalten. Damals - nur vier Jahre nach dem atomaren Inferno-Holocaust der Amerikaner über Hiroshima und Nagasaki - erschien die Gefahr, daß der Kalte Krieg über kurz oder lang in eine atomare Auseinandersetzung der beiden Großmächte überging, sehr groß! Dieses Problem hat ja schließlich auch das Wettrüsten bis 1989 bestimmt.

Während meiner Ferien schrieb ich zur Unterstützung der Unterschriftensammlung für den Stockholmer Appell in einer Augustnacht gemeinsam mit anderen FDJ-Mitgliedern auch an meine ehemalige Mittelschule in Springe die Losung: „Eltern, ächtet die Atombombe, schützt das Leben Eurer Kinder.“ Dabei wurde ich von einer Polizeistreife auf Fahrrädern festgenommen: Die Männer waren heimtückischerweise auf unbeleuchteten Fahrrädern gefahren und hatten das Klappern meines Kalkeimers gehört. (Die lautlosen Sprühflaschen, wie sie die heutigen Graffitisprayer für ihre meist unverständlichen „Kunstwerke“ benutzen, waren damals ja noch nicht erfunden.) Der Einsatz der Polizisten galt eigentlich gar nicht unserer Aktion. Vielmehr sollten sie Klebekolonnen der FDJ aufspüren, die zur Teilnahme am „Treffen der Hunderttausend“ an Rhein und Ruhr für die Durchsetzung der Grundrechte der jungen Generation aufriefen. Auf der Polizeiwache ließ man mich zwar nach Aufnahme der Personalien, etlichen Unmutsäußerungen (daß jemand aus Völksen unverständlicherweise in Berlin studiert, auch noch einen „ostzonalen“ Paß hat) und zwei Stunden weiteren Verhörs dann wieder laufen. Aber schon am nächsten Vormittag, ich war beim Heumachen, erhielt meine Mutter den Besuch eines Beauftragten der britischen Militärregierung in Hannover. Der hinterließ eine Vorladung für den nächsten Tag nach Hannover. Noch am gleichen Abend kam unser Ortspolizist hoch zu uns an den Wald mit der Mitteilung, er habe mich wegen meiner „Dummheiten“ noch am späten Abend zu einem Verhör mitzunehmen. Und: man glaube wohl auch, ich sei ein Ostagent. Immerhin verschob er das angebliche „Verhör“ nach einem Glas Buttermilch mit der Bemerkung: „Na, dann habe ich Sie heute eben nicht angetroffen“, auf den nächsten Tag. So konnte ich noch in der gleichen Nacht mit älteren Genossen beraten, wie ich mich denn nun verhalten sollte. Sie verlangten, ich müsse sofort, noch in der Nacht, mit dem Fahrrad wieder in die DDR zurückfahren. Meine Aufgabe sei das ‚Studieren’ und nicht, mich der Justiz auszuliefern. „Da sitzen doch die gleichen Richter, die auch schon unter Hitler da gesessen haben und so urteilen wie damals.“

So strampelt ich auf meinem Fahrrad im strömenden Regen ab Mitternacht bis in den Harz und schwitzte mich am nächsten Mittag hinter Torfhaus bei strahlender Augustsonne den Goetheweg hoch in die DDR. Die jungen Grenzpolizisten dort oben freuten sich, zur Abwechslung mal einen FDJler am Fuße des Brocken in Empfang nehmen zu können, statt irgendeines Kerls, der in Bremen Nordhäuser Korn gegen Heringe geschmuggelt hatte. Das war auf dieser Route damals gang und gäbe. Auf ihrer Wache in Schierke fütterten mich die Freunde dann mit vom Mittag übriggebliebenen Königsberger Klopsen. Danach ließen sie mich erst mal schlafen. Mir war es egal, daß ich dafür nur eine Pritsche in einer Zelle bekam. Die war ja nicht abgeschlossen. Gegen Abend fuhren dann ein junger Volkspolizist und ich, jeder auf seinem Fahrrad, nach Benneckenstein „weil mich der Oberkommissar auch kennenlernen wollte“. Da war in einer kleinen Villa die Kommandantur der Grenzpolizei untergebracht. Der Kommandeur, ein Oberkommissar, entschuldigte sich, daß man mich leider auch hier nur gemeinsam mit anderen Grenzgängern bis zum nächsten Morgen unterbringen könne.

An diesem nächsten Morgen aber interessierte sich dann urplötzlich ein junger Mitarbeiter der gerade gegründeten DDR-Staatssicherheit für mich. Man hätte noch niemanden gesehen, der wie ich einen Interzonenpaß, einen FDJ-Ausweis, ein Parteibuch der SED, einen DDR-Personalausweis, den Studentenausweis und einen westdeutschen Ausweis der Naturfreunde bei sich trüge. Meine Geschichte sei ja interessant, unglaublich interessant. Aber ich solle verstehen, das müsse er natürlich alles erst mal überprüfen. Und während alle im Keller einsitzenden Schnaps- und Heringsschieber oder Schmuggler höchstens 24 Stunden auf dieser Wache festgehalten wurden, ließ er mich schließlich fünf Tage schmoren. Am Anfang war er honigsüß, so auf Du und Du, von Genosse zu Genosse. Danach kam er täglich stundenweise von Nordhausen nach Benneckenstein in die Kommandantur, nur, um mich wieder und wieder zu vernehmen. Und ich mußte mehr und mehr erkennen, daß der Mann nicht einmal in Hohen Neuendorf, in meinem Studentenheim, nachgefragt hatte, ob meine Angaben stimmten. Zum Schluß, einem sonnigen Sonntag, aber lag sogar die Pistole auf dem Tisch. Und eiskalt drohte er mir, wenn ich jetzt nicht endlich gestehe, welche Agentenorganisation mich über den Harz geschickt habe mit so viel Ausweisen, sei ich noch heute Abend in Nordhausen. Von da ginge es ab nach Sibirien! Darauf brüllte ich ins Haus nach dem Oberkommissar und verlangte, wenn ich nicht binnen zwei Stunden in Nordhausen sei, würde ich die ganze Dienststelle wegen Unfähigkeit hochgehen lassen. Vor diesem Kerl würde ich kein Wort mehr sagen. Aber er ließ mich wieder in meine Zelle abführen. Allerdings mischte sich nun endlich der leitende Offizier dieser Grenzpolizeistation energisch ein und machte dem Treiben des Übereifrigen ein Ende. Die Grenzer hatten in dem hellhörigen Haus nämlich schnell festgestellt, wes Geistes Kind ich war, weil ich mit den Grenzgängern im Keller fast ununterbrochen politisch diskutierte. Der Kommandeur hatte mich als Studenten auch darum gebeten, vor der FDJ-Gruppe der Grenzer eine Buchlesung über Gorki zu halten. Jedenfalls: Nur dreißig Minuten später wurde ich wieder hochgeholt, man habe Nachricht, alle meine Angaben seien überprüft, und ich müsse schon entschuldigen: Bei den vielen Agentenbüros westlicher Geheimdienste sei eben alles sehr schwierig. Der Kommandeur erklärte, daß er und seine Dienststelle für das Vorkommnis nicht verantwortlich seien, aber eben eine Weisung zu befolgen hatten. Der Bürgermeister von Nordhausen habe mir ein Zimmer (in dem wohl einzigen Hotel, das die Bombardierung der Stadt überlebt hatte) reserviert und mitteilen lassen, daß für mich dort auf Kosten der Stadt auch das Abendessen bereitstünde. Der Bürgermeister empfing mich am nächsten Morgen freundlich und stattete mich dann mit ausreichend Bargeld für die erlittene Unbill aus - einschließlich einer Fahrkarte 1. Klasse nach Berlin mit Fahrradkarte.

Nun, ich hatte damals ein gewisses Verständnis für dies alles - bei so viel Ausweisen, die ich bei mir hatte, und bei so viel westlichen Geheimdiensten in Westberlin. Aber, daß es bei uns eigentlich eine Gesetzlichkeit gab, in der geregelt war, wie lange Polizisten jemanden ohne richterliche Verfügung festhalten durften, das weiß man heute. Davon hatte ich damals allerdings - mit nur neunzehn Jahren Lebenserfahrung unter Nazirecht und Besatzungsrecht - noch nie etwas gehört.

Als ich vor den nächsten Semesterferien wieder eine Reise nach Haus ankündigte, teilte mir Mutter brieflich mit, daß unser heimischer Ortspolizist - eben jener Herr Gadde, der mich hatte laufen lassen - ihr gesagt habe, ich solle man da bleiben, wo ich sei. Da wäre ich besser aufgehoben. Er muß wohl ein Faible für unsere Familie gehabt haben. Und das war dann weitere zehn Jahre so, daß er dabei auch sagte: „Der Junge steht wegen der Sache von damals noch immer in meinem Buch“. Aber da hatte ich schon eine eigene Familie in Berlin gegründet. So wurde schließlich aus einem Weg aus dem Hannoverschen nach Berlin zum Studium ein Weg in einen anderen Staat mit einer anderen Gesellschaftsordnung, eine neue Heimat - die Deutsche Demokratische Republik.

An der Agrarökonomischen Fakultät der 1950 gegründeten Hochschule für Planökonomie, der späteren Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst, studierte ich vier Jahre. Keine Studiengebühren, aber ein Stipendium von 200 Mark und dazu 40 Mark Leistungszuschlag für gute Studienleistungen und außerdem ein Kindergeldzuschlag, weil wir ja schon ein Baby hatten. Die Hochschule besaß 1955 sogar schon eine eigene Kinderkrippe für die Babys der Studentenmütter, in der tagsüber auch unser Töchterchen betreut wurde.

Anschließend arbeitete ich im Institut für Betriebswirtschaft dieser Fakultät drei Jahre als Assistent und Oberassistent mit Lehrauftrag. Aber mein damals eigentliches Ziel, erfolgreich eine Doktorarbeit zu Wege zu bringen, schaffte ich nicht. Für mein Thema „Kooperation und Spezialisierung volkseigener Güter“ war die Zeit nicht reif und meine Veranlagung zu analytischer Arbeit nicht schöpferisch genug.

Dafür schrieb ich im Auftrage des Instituts federführend mit zwei anderen Assistenten ein informatives und schwungvoll zu lesendes Buch über die erste Nationalpreisträger-LPG in der DDR, die LPG Schönermark im Kreis Kyritz. Das sollte im Auftrage des Ministeriums für Land- und Forstwirtschaft ein Beitrag zum 6. Bauernkongreß der DDR sein, um allen Genossenschaften zu helfen, baldmöglichst rentabel zu arbeiten. Das Büchlein war so wahrhaftig geschrieben, daß die Bauern aus Schönermark sagen konnten: „Ja, so war’s und so sind wir!“ und theoretisch war das, was wir über die pfiffigen Schönermarker geschrieben hatten, voll auf der Linie der sozialistischen Agrarpolitik, so daß das Ministerium als oberster Redakteur das Buch abgesegnet hatte. Und es war so frisch und fröhlich und verständlich genug geschrieben, daß es selbst ein Genossenschaftsbauer - müde von der Arbeit - neugierig geworden, auch gelesen hätte.

So lag es am Vorabend der Eröffnung der Agra in der großen Halle für Betriebswirtschaft - und wurde eine Stunde vor Eröffnung von Mitarbeitern der Abteilung Landwirtschaft des ZK der SED eingezogen und die ganze Auflage später eingestampft. Warum? So, wie 1945 die Bauern auch in Schönermark den Einmarsch der Roten Armee tatsächlich erlebt hatten, hatte ich im ersten Satz geschrieben: „... und dann rollten russische Panzer auch durch Schönermark“. Nach der offiziellen Lesart hätte es aber heißen sollen: „Und dann rollten sowjetische Panzer auch durch Schönermark“. Nur: So redete damals, 1957, wirklich kein Bauer. Aber so redete man im Apparat des ZK. Da wurde von den beflissensten Mitarbeitern seinerzeit ja sogar der eigentümlich unangenehme Dialekt von Walter Ulbricht nachgeahmt und als politische Bereicherung der deutschen Sprache empfunden.

Ich nahm diese Niederlage gelassen und betrachtete das Ganze als Ausdruck menschlicher Schwächen. Der Sozialismus mußte eben mit den Menschen aufgebaut werden, die man hatte. Da waren Fehler und solche unverständlichen Entscheidungen wohl nicht auszuschließen. Und schließlich hatte ich mein Honorar vertragsgemäß erhalten. Meine Freunde und Genossen an der Hochschule verübelten mir „die russischen Panzer“ auch nicht. Der Chefredakteur der Landwirtschaftsredaktion des Fernsehens der DDR, der eines der wenigen übriggebliebenen Exemplare für sich retten konnte, bot mir sogar den Eintritt in seine Redaktion an. Aber weil dort ja die gleichen Mitarbeiter des ZK auch genügend ihre Nase in die tägliche Redaktionsarbeit steckten, verzichtete ich auf das lukrative Angebot und wechselte in die VVB Saat- und Pflanzgut über.

Das war eine außerordentlich kreative und erfolgreiche Wirtschaftsvereinigung unter der Leitung ihres Generaldirektors Dr. Köhler. Mit ihr ging ich 1963 - einer Weisung des ZK der SED folgend - von Berlin nach Quedlinburg, wo ich noch heute lebe.

Leicht fiel der Umzug damals niemandem aus der Familie. Berlin war unsere Heimat geworden. Wir hatten in der Freizeit geholfen, die Trümmer wegzuräumen, viele der Gehege im Berliner Tierpark waren von uns mit Hacke und Schaufel mitgestaltet worden. Nun, als die Stadt (Berlin-Ost) schön zu werden begann, ging es Richtung Harz, und alles ohne „Buschzulage“. Aber ein Genosse geht eben dahin, wo ihn die Partei einsetzt!!! Heute griene ich mich manchmal beim Rasieren im Spiegel an: „Na, alter Junge, warst genau so einfältig, gläubig und diszipliniert wie ein katholischer Pfarrer - bloß eben nicht so katholisch“.

Hatten wir es in Berlin unentwegt mit Diskussionen über Grenzgänger, Republikfluchten, die Mauer, die unterschiedlichen Versorgung zwischen der Stadt Berlin und der DDR zu tun gehabt, lagen hier überall auf den Feldern die Flugblätter des Ostbüros der SPD, vom Westwind mit Ballons über den Harz getrieben. Diese Flugblätter gaben genaue Anweisungen, wie man Krankheiten so simulieren kann, daß ein Arzt irregeführt wird, um sich auf diese Weise erfolgreich mehrwöchig krankschreiben zu lassen, vor der Arbeit zu drücken, Krankengeld zu beziehen und wissentlich der DDR-Volkswirtschaft zu schaden.

Wie viele andere Genossen, Parteilose und auch Freunde aus anderen Parteien, haben meine Frau und ich neben unserer Berufsarbeit in ungezählten Stunden gesellschaftlicher Arbeit - in der Nationalen Front, im Elternbeirat und wer weiß, wo noch - versucht, unseren Staat zu festigen. Dabei gab es Freude und gab es auch genügend Ärger, so daß ich heute sagen kann: „Mein Helm, den ich in diesem Leben trug, hat viele Beulen und Schrammen; mindestens eine davon ist auch vom Klassenfeind“. Und trotzdem meine ich: Unser historischer Versuch, eine neue Gesellschaftsordnung aufzubauen, hat sich gelohnt. Er war der erste, eine bessere soziale Welt zu schaffen. Er kann und wird nicht der letzte sein. Aus unseren Erfolgen und Fehlern wird man lernen.

Winfried Düsterdiek


1 Aus den Vorstudienanstalten gingen 1949 die Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten hervor.


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