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Jahrgang 1943
Wer wagt, diesem Leben den Wert abzusprechen?
1953
Zunächst einmal, machte ich mir gar keine Gedanken. Ich war zehn. Da war ein Haus. Klein. Dürftig. Bescheiden. Zusammengetragen aus dem, was der Krieg übriggelassen hatte. So manches aus Resten noch zahlreich vorhandener Ruinen, die da allenthalben waren in Berlin. Als das Haus, seinerseits auf den Resten einer Ruine, entstand in der Wendenschloßstraße von Köpenick. Die Dachrinne, von Hertie. Nicht gekauft. Abgetrennt von dort, wo sie in Fetzen hing. Bei Hertie. Am Halleschen Tor. Die Wohnung der Eltern, in der Nähe von Hertie, hatte keine Dachrinne mehr aufzuweisen. Kein Stein war auf dem anderen geblieben. Kein Schrank mehr in seiner Form. Kein Wäschestück, das nicht zu Asche ward, und kein Teller, der nicht in Scherben lag. Es gab keine Wohnung mehr. Es gab ein Nichts.
Ob sie denn, wirklich, in den Osten ziehen wollten, wurden die Eltern mehr als einmal von der Verwandtschaft gefragt. Osten. Russen. Armut. Sibirien. Was auch immer damit einherging in den Köpfen. Fest stand, als das Kriegsjahrzehnt sich neigte, daß man irgendwie herausmußte aus der Enge der gemeinschaftlichen Wohnung bei der Tante. Dort war man untergekommen, in der Zeit der ganz großen Not. Gleich nach mir war die Kusine geboren worden. Vier Jahre später die zweite. Die eine Großmutter lebte mit in der Familie, und die andere auch. Es wird dort, im Osten, sicher doch auch aufwärts gehen. So dachten die Eltern.
Statt daß ich also eine Kreuzberger Göre wurde, so mitten im Herzen Berlins, wurde ich ein Vorortkind. Das aufwuchs im Grün. Kein Westkind, sondern ein Ostkind. Ich spielte auf der Straße mit den Nachbarkindern, ‚Stadt, Land, Fluß’. Sehr oft, Hopse, die mit Kreidestrichen aufs Pflaster gemalt wurde. Ballwerfen, an der stehengebliebenen Wand der Eckruine. Manchmal, doch dann gab’s Ärger, krochen wir in dem Ruinengehäuse herum. Doch wie sollte man sonst ‚Verstecken’ spielen?
So rasant ging es nicht voran, in meiner Familie. Ich aber bekam das nicht mit. Ich ging zur Schule. Gern oder auch nicht, je nachdem. Ich wurde, wohl nach einigem Sträuben, wenn ich mich recht erinnere, Pionier. Es traf nicht so recht den Geschmack der Eltern, was sich da schon wieder, ganz vage, anzudeuten schien. Sie hatten die Nase voll, von vorbestimmten Entwicklungen des persönlichen Lebens. Die man widerspruchslos anzunehmen hatte. So uniform gekleidet, das war doch gerade erst gewesen. Die Hand, erhoben zu Gruß und Meldung, so war doch gerade eben ein ganzes Volk kommandiert worden. Und verführt. Doch ich wurde Pionier. Und ich band das blaue Tuch. Und ich freute mich, und allmählich immer mehr, wenn ich es bügelte, es bei der nächsten Feierstunde wieder umzubinden. Ich wäre weit und breit die einzige gewesen ohne dieses blaue Tuch.
Das Ereignis des Jahrzehnts, das in die Geschichte eingehen sollte, vom Frühsommer 1953, bemerkte ich so gut wie nicht. Der Vater war eher nach Hause gekommen, von seiner Arbeit. Das fiel auf. So, am Rande der Großstadt, wie wir wohnten, war das Geschehen wohl nicht wirklich wahrzunehmen. Irgend etwas war geschehen. Zu spüren war das schon. Gesprochen aber wurde kaum. Die Eltern waren, nach dem Fiasko in der Lebensmitte, sehr zurückhaltend, was Bewertung von Politik anbelangte, Vertrauen in Politik. Die allgegenwärtige Berichterstattung späterer Zeiten hatte uns noch nicht erreicht. Die Erwachsenen hatten ein Thema. Das entging mir nicht. Unsicherheit schwang, und leise wurde geredet. Außerhalb der eigenen vier Wände aber blieb es still.
Und während die Eltern einen jeden Pfennig wohl überlegten, während die Schritte in den Stuben hallten im kleinen Häuschen von Köpenick, denn kein Teppich war da, das Geräusch der Schuhe zu schlucken, während Spielzeug vom Vater selbst gebautes Gerät war, der Roller, der eines Tages an der Tür lehnte, an der es wie von wundersamer Hand gerade geklingelt hatte, der Puppenwagen, in dem selbstgenähte Püppchen und Teddys sich doch sehr wohlfühlten in all ihren Puppenjahren, während Naschwerk selten war und Reisen ein Thema, so gut wie unbekannt, war der Rest der Verwandtschaft, allesamt auf der anderen Seite Berlins, beizeiten, wenn auch mit sichtlich konsequenter Sparsamkeit, größere Schritte vorangekommen, schneller, sichtbarer, in der Überwindung der Kriegswunden. Sie, immerhin, saßen in ihren Vorkriegssesseln. Aßen von ihren Vorkriegslöffeln. Kleideten sich weitgehend in ihre Vorkriegskleidung. Sie hatten das gleiche Dach über dem Kopf wie eh und je. Was sie erwirtschafteten, das konnte in die Zukunft gehen.
Es langte, zum Leben. Bei uns, in Köpenick. Und ich vermißte, eigentlich, nichts. Das Rückbesinnen, das Denken über die Kindheit, ging nie einher mit dem Gefühl, da wären unerfüllte Träume gewesen. Sehnsüchte, die es zu verdrängen galt. Nein, meine Kindheit war schön und unbeschwert.
Und ich verbrachte sie im engen Kontakt mit der Familie in Westberlin. Hanne und Gisela, die beiden Kusinen, waren mir wie Schwestern. Sie kamen, mit der Tante, einmal wöchentlich. Zur gemeinsamen Großmutter, die bis zu ihrem Tod bei uns im Köpenicker Häuschen wohnte. Die Familientreffen zu den Geburtstagen waren eine Selbstverständlichkeit. Hanne und ich, die wir gern sangen, trugen meist ein paar Lieder vor. Die Auswahl allerdings fiel uns zunehmend schwerer. Das Repertoire an Melodien und besonders an Texten unterschied sich von Jahr zu Jahr mehr.
In den Ferien dann, verbrachte ich volle zwei Monate gemeinsam mit den Kusinen. Bescheidene Boote und Zelte waren der erste Luxus von Onkel und Tante. Meine Sommer verlebte ich, all meine Kindheitsjahre hindurch, auf Havel und Wannsee. Im Grunewald. Trotz sparsamen Wirtschaftens - die Tante war damals schon arbeitslos -war da manch fetter Happen, den ich nicht kannte, im Köpenicker Alltag. Ein Stückchen Schokolade. Kondensmilch, in Büchsen. Die Tante ließ, wie zufällig, einen besonders reichlichen Rest zurück, wenn die Reihe an mir war, die Büchse zu leeren.
Irgendwann aber kam die Sprache aufs Auto. Dem Onkel war die Bewegungsfreiheit auf dem Wasser zu eng geworden. An den Berliner Stadtgrenzen hatte die seit geraumer Zeit schon aufgehört. Für mich war klar, die Gemeinsamkeit mit den Kusinen ging ihrem Ende zu.
1963
Das Ereignis dieses Jahrzehnts hingegen beeinflußte mein Leben sehr nachhaltig. Und ohne Denken ging das nicht mehr ab. Ich hatte mich nicht erst zu grämen brauchen, daß die Fernziele meiner Westberliner Verwandten nun über meine Bewegungsfreiheit hinausgehen würden. Ich würde nicht mehr dazugehören. Bei dem, was Hanne und Gisela vorhätten mit ihren Eltern. Man hatte eine Mauer gebaut. Das Familienleben war damit staatlich geregelt, und ob nun Wannsee oder Griechenland, beides war mir gleichermaßen unerreichbar.
Das Abitur war geschafft. Ohne große Mühen. Die Begabung in Richtung Sprachen so klar, das Interesse an ihnen, daß die Richtung ins Arbeitsleben hinein vorgezeichnet schien. Im Sommer dann, die Nachricht, im Radio. Ich war einfach sprachlos. Es kam keine Träne. Man schaute, fassungslos, dem Geschehen zu. Dem Bauwerk, das da entstand in der Mitte Berlins. Gewiß, der Zustand war so normal nicht, daß man nicht gefühlt hätte, so konnte er wahrlich nicht bleiben. Doch der Zustand der Stadt, der Zustand des Landes, das werte Befinden der Politiker, die sich Entscheidungen anmaßten über das Leben von Menschen - und all das hatte schließlich weit vorher begonnen, als Deutschland sich angemaßt hatte, Krieg über Nationen zu verhängen, Millionen von Menschen umzubringen, wieder anderen das Dach zu nehmen, die Lebenswerte -, all das stand auf dem einen Blatt. Daß meine Familie zerhackt wurde, in zwei Teile, die nie wieder zusammenfinden würden, zerhackt von heut’ auf morgen, das war das andere Blatt. Als 18jährige, als junges Ding, und trotz der tiefen Verletzung, die mich da traf mit dem Verlust der Familie, konnte ich das besser noch nehmen als die Mutter. Die wurde zuckerkrank. Im Oktober des gleichen Jahres. Und ihr weiteres Leben lebte sie zwangsläufig sehr eingeschränkt. Ohne das Essen und Trinken, das ihr schmeckte. Ohne die geliebte jüngere Schwester, die meine Tante war. Und schließlich, ohne Bein und ohne Augenlicht.
Meine Fassungslosigkeit, vergleichbar einer Schreckstarre, ließ mir dennoch, zu reagieren. Mich einzustellen auf die unwirkliche Situation. Hanne. Nicht mehr da, im täglichen Leben. Im emsigen Briefkontakt, der doch nur spärlicher Ersatz war, und wir vermißten uns schmerzlich, hatten wir, als die Mauer ein halbes Jahr stand, ein Winktreffen über die Grenzbauten hinweg verabredet. An geeigneter Stelle. Der Potsdamer Platz bot sich an. Er lag nicht weit vom Planufer, wo Hanne wohnte. Da standen wir dann, Dutzende Meter und die stabile Mauer zwischen uns, und winkten. Und riefen, das ein oder andere, vielleicht. Für Unterhaltung war die Entfernung zu groß. Aber immerhin, wir sahen uns. Die Posten unterbrachen unsere eigenwillige familiäre Kommunikation schon bald. Hanne ging dann nach Hause. Zusammen mit Gisela, der Schwester, und den Eltern. Ich, allerdings, kehrte ein Dreivierteljahr danach erst wieder heim nach Köpenick. Daß ich, ein bißchen aufmüpfig und, in der emotionalen Ausnahmesituation nicht sonderlich klug handelnd, die sächsische Mundart des jungen Mannes mit dem Gewehr über der Schulter nicht gleich hatte verstehen wollen, das war mir nicht so ganz gut bekommen. Staatshetze war der Begriff für diese Art Widersetzlichkeit und ein ganzes Gewirr von Verfehlungen rankte alsbald drumherum. Ein Urteil im Namen des Volkes erging. Von heut' auf morgen, also, war ich nicht mehr die von gestern. Nicht mehr Student der Humboldt-Universität. Und als ich wieder außerhalb der Gitter war, da war ich vorbestraft. Ein sich normal entwickelnder Lebensweg schied damit aus.
Schlimm war nicht die Gefängniszeit. Schlimm war die Zeit, die hinterher kam. Sicher, ich war über Monate in Einzelhaft gehalten worden. Sicher, mein eingesperrtes Leben bewegte sich in Gefängniszellen, die mich heute noch den Kopf schütteln lassen, wenn ich die Fernsehbilder sehe. Wie da einer sitzt. In Tegel. Oder in sonst einem Strafvollzug. In dem beinah gemütlichen Stübchen. Mit Regalen und Tischdecken, mit Büchern und Zeitschriften, mit Kerze und Radio, Obstsaft, Naschwerk und vielerlei mehr, sich den vergitterten Tag zu verschönen. Also, schön war DDR-Gefängnisleben nun wahrlich nicht. Viel mehr, aber, hatte ich - außer, daß ich überhaupt dort war - nicht zu beklagen. Gewiß vermißte ich Freundlichkeit. An Korrektheit jedoch mangelte es nicht. Die Angst, die mich in den ersten unsicheren Wochen ergriffen hatte, auf meiner Odyssee durch die Haftanstalten, Barnimstraße, Normannenstraße, Karl-Marx-Stadt, Himmelmühle im Erzgebirge, als ich anfangs nur die Namen hörte, ‚Frauengefängnis Barnimstraße’, die konnte ich sehr bald abstreifen. Daß ich gefehlt hatte, ein guter DDR-Mensch zu sein, das, natürlich, bekam ich zu spüren tagaus, tagein. Auch wenn niemand vom Gefängnispersonal wußte, worin wohl meine Verfehlung bestand. Das Klima war eisig.
So saß ich meine Zeit ab. Bis zum letzten Tag. Der Staatsanwalt, der in der Gerichtsverhandlung die Anklage gegen mich erhoben hatte, holte mich mehrfach zum Gespräch. Vielleicht sah er doch nicht den ganz verruchten Verbrecher in dem jungen Mädchen, das er da für neun Monate hinter Gitter gesperrt hatte. Mit dem vollen Absitzen der Strafe, so erklärte er, wollte er mir eine Bewährungszeit ersparen. Die, wieder in Freiheit, mir noch stärkere Fesseln angelegt hätte, als ich sie ohnehin zu spüren bekam.
Dann also, war ich frei. Doch nun war ich ein Nichts.
Und erst in der zweiten Hälfte des gleichen Jahrzehnts hatte ich mich von der ersten erholt.
Ich war in einem Emaillierwerk gelandet. Und hatte mir nicht vorstellen können, mein Leben damit zu verbringen, in Nachtschichten am Fließband Seitenteile von Haushaltsherden zu bearbeiten und von Kühlschränken, wie ich es zunächst tat. Mit dem Pinsel, durch Drehbewegung, die gestanzten Löcher für spätere Schrauben von noch weicher Emaille befreien. Damit diese in hartem Zustand dann und beim Zusammenschrauben der Teile nicht zerplatze. Zwei, drei Stunden lang, machte die Tätigkeit am Anfang sogar Spaß. Und der Winter war eisig, und der Emailleofen so herrlich warm. Wenn er die Luken öffnete und die Bleche da herauskamen, aus ihrem Emaillebad. Eins ums andere. Nach Wochen aber, glaubte ich, das nicht länger ertragen zu können. Nicht ohne Mitleid mit denen, deren Leben das war und bleiben würde. Der glühend heiße Ofen. Die Bleche. Das Fließband, die Löcher, der Pinsel.
Beizeiten hatte ich begonnen, wenn auch fern universitärer Gefilde - dort hatte ich mich gar nicht erst sehen lassen -, der Bildung wieder näherzukommen. In einer Schule für Büroarbeit machte ich guten Eindruck und wurde für das kommende Lehrjahr vorgesehen. Vor der Unterschrift, die die Aufnahme besiegeln sollte, kam noch, wie beiläufig, die Frage, ob da wohl jemand sei, in Familie oder nahem Bekanntenkreis, der möglicherweise politisch unliebsam aufgefallen wäre. ‚'Republikflucht, staatsfeindliches Auftreten, oder etwas in der Art, na, Sie wissen schon’. „Ja. Ich. Ich war neun Monate inhaftiert.“
Das Gespräch mit dem netten älteren Herrn, der der Direktor der Schule war, ging damit zu Ende. Nicht weniger freundlich, als es zuvor verlaufen war. Es seien ja noch ein paar Wochen hin. Bis das Schuljahr begänne. Ich würde dann hören. Auf Wiedersehen. Ich hörte nicht. Und auf meine Anfragen hin bekam ich ausweichende Erklärungen.
Ich suchte, bis ich ihn fand, den Staatsanwalt, der unlängst für mein Schicksal zuständig war. Wieder hatte ich den Eindruck, daß er, auch wenn wir einst so ungleich aufeinandergetroffen waren, im Gegensatz zur Gesellschaft rings um mich herum, Familie und Freunde einmal ausgenommen, Wert legte auf Gerechtigkeit. Neun Monate meines Lebens hatte ich verloren, den Studienplatz dazu. Weitere Steine im Wege wären nun weder gerecht noch moralisch vertretbar und also nicht nötig. Soweit wohl seine Sicht der Dinge. Er erbat ein paar Tage Zeit. Als ich, nach dieser Frist, erneut in der Schule anrief, stand ich bereits in den Listen des Ausbildungsjahres. Und war schließlich ein Berufsschüler, dessen die Schule sich nicht zu schämen brauchte.
Mit dem Abschluß, allerdings, und den Fähigkeiten, die ich nun besaß, war nicht gleich ein Arbeitsplatz für die Zukunft verbunden. Es wollte mich, bei einem Facharbeiterbrief mit keiner Zensur schlechter als Eins, niemand. Irgendwie kam ich dann unter im Gesundheitswesen. Tuberkulose- und krebskranke Patienten begleiteten meine Arbeitsstunden bei Tag und meine Alpträume bei Nacht.
Ich war nicht der Mensch, mir die Röntgenbilder dort anzuschauen, die ich nach wenigen Wochen so gut verstand wie der Arzt, und dem Mann und der Frau vor mir fröhlich in die Augen zu schau’n und zu tun, als sei die Welt in Ordnung. Daß die Arbeit eintönig war, die zu tippenden Krankengeschichten sich meist wörtlich glichen, daß die Ärzte unausstehlich waren, der ganz alten Schule noch, herrisch, göttergleich, so daß ich ebenso ein Nichts war wie vordem hinter den Gittern, das war noch immer nicht so schlimm für mich wie das Mitleiden mit den Patienten. Wieder wollte ich weg. Weg, um jeden Preis.
Ich liebte die Sprachen, die ich hatte studieren wollen. Und ich war ihnen nahe geblieben. Auch in der trostlosen Zeit. Die nun schon nach Jahren zählte. In diese Richtung, irgendwie, würde ich mich entwickeln müssen. Wenn ich ein halbwegs zufriedenes Leben leben wollte. Ich begann, Brief um Brief, Bewerbungen zu schreiben. Mit offenen Karten. Zunächst. Packenweise kamen die Absagen. Mit verdeckten Karten. Alsbald. Die Absagen dauerten dann etwas länger, kamen aber ebenso zuverlässig. Und ich kämpfte. Und schluckte. Enttäuschung. Ohnmacht. Verbitterung über Unrecht. Ich war kein schlechter Mensch. Ich hatte niemandem je das geringste Leid angetan. Ich hatte ertragen, was man mir angetan. Man hatte m i r die Hälfte meiner Familie genommen. Ich war bereit, da es anders schon nicht ginge, damit irgendwie klarzukommen. Da steckten aber Fähigkeiten in mir, die sollten sich entwickeln dürfen. Ich, also, schluckte. Und kämpfte.
Eines Tages hatte ich Bärchen auf meiner Seite. Die Stimme der Berliner Zeitung, die auch das ein oder andere Kritische ansprach. Hin und wieder. Und es gab, nach wie vor, den Staatsanwalt. Mittlerweile hatte der ein hohes Amt im Berliner Gerichtswesen inne. Er verfolgte meinen Weg. Mein Schlucken. Mein Kämpfen. Und offensichtlich empfand er Achtung vor der Willensstarke, die ich an den Tag legte. Seine Sicht auf die Dinge schien nunmehr der meinen zu gleichen. Als Mensch mit moralischen Grundsätzen, der er wohl war, blieb er sich treu. Er verschanzte sich nicht hinter Schreibtisch und Amt.
Er, und Bärchen, erklärten einem großen Berliner Verlagshaus, daß man, trotz der nicht sehr schlohweißen Akte, es ruhig mit mir versuchen könne. Der Verlagsleiter, Kommunist mit hehrem Anspruch an die gerechte Welt, zehn Jahre Konzentrationslager, kluger Kopf und schlicht und einfach Philanthrop, setzte mich in sein Vorzimmer. Zwei Jahre später delegierte mich eben der Verlag zum Studium an die Humboldt-Universität.
Alles war klar und vorbereitet. Als ich, nun zum zweiten Mal, dies ehrwürdige Haus betrat. Ich war avisiert. Die Professoren hatten mich getestet. Das sähe gut aus, meinten sie. Hispanistik und Anglistik. Das würde ich studieren. Nicht mehr, was ich einst gewählt hatte als Studienrichtung. Dies hier, aber, gefiel mir um so mehr. Am Tage des Studienbeginns war ich nochmals in die Amtsstuben gerufen worden. Man hatte da eine Akte entdeckt. Den Namen, den meinen, hatte es doch schon einmal gegeben. An der Universität. Aufmerksame Geister hatten das herausgefunden. Ganz ohne Computer, noch. Einfach mit Hilfe der Erinnerung. Und der Archive.
„Ach, Sie sind ...“
Fünf Jahre waren vergangen, da ich schon einmal immatrikuliert war an gleicher Stätte. Ich hatte vorgesorgt, für diesen Fall. Eine Telefonnummer, auf kleinem Zettelchen, hatte ich bereits in der Hand. „Bitte, rufen Sie dort an. Es ist schon in Ordnung, daß ich hier stehe.“ Der Staatsanwalt hatte sich den Tag gemerkt, an dem wir beide voraussahen, daß genau dies geschehen würde. Er saß an seinem Telefon und erwartete den Anruf.
Und er beantwortete ihn. Zufriedenstellend, für die Universität.
Ich liebte mein Studium. Und ich genoß meine Studienzeit. Fünf herrliche Jahre. Zwei wunderbare Sprachen. Ich war allein. Bei dem, was ich studierte. Ein extraprivilegiertes Studium. Sprachen, die studierte man, um Lehrer zu werden. Oder Dolmetscher. Etwas anderes gab es nicht. Oder nur, für ganz wenige. Zu denen gehörte ich. Wunderbarerweise. Ich wurde Sprachwissenschaftler. War es Vorsicht? Jemanden wie mich, mit dieser Vergangenheit, dann doch nicht zum Lehrer zu machen? Schließlich weiß man nie! War es etwas wie Wiedergutmachung? Mir war es so egal. Im Englischen gelang mir, was, wie man raunte, noch nie einem Absolventen jenes Hauses, nicht einmal dem Studenten Karl Marx, gelungen war: Man entließ mich, auf Grund eindeutiger Zensuren die fünf Studienjahre hindurch, mit Examen und Diplom, ohne auch nur eine einzige Prüfung abzuverlangen.
Die spanische Sprache wiederum bescherte mich mit der größten Erfahrung meines Lebens. Man hatte mich nach Cuba geschickt. Ein Jahr vor dem Staatsexamen. Erster Austauschstudent der Humboldt-Universität mit der Universidad de La Habana. Drei sollten wir sein. Nach dem Leistungsstand ausgesucht. Ich allein fuhr. Nachdem Instanzen, von denen man wußte, über die man jedoch kaum redete, weil man sie nicht durchschaute, so entschieden hatten. Warum ich diejenige war, ausgerechnet ich, das ist ein Geheimnis, hinter das ich nie gekommen bin.
Cuba lehrte mich, was keine Schulbildung mir je hat geben können. Kein Geschichtsunterricht. Meiner Cuba-Zeit, dem einen Jahr inmitten des kubanischen Volkes, verdanke ich mein Weltbild. Daß alle Menschen gleich sein sollten, nach wohlmeinenden Worten auf bedeutsamen Papieren der Weltgeschichte, und daß sie es dennoch nicht waren, das wußte ich vorher schon. Wie aber ein Land ein anderes, und derer viele, im eisernen Griff halten kann, es so dirigieren, so deformieren, daß es nichts ist als willfähriger Handlanger - im Falle Cuba hieß das kurz vor meinem Eintreffen noch ‚Zuk-kerdose’, für den mit dem guten Griff -, und wie der einzelne Mensch, mit seiner unantastbaren Würde, der angeblichen, überhaupt nicht vorkommt im Denken dessen, der sich der Zuckerdose bedient, wie das dann ausschaut, im Ergebnis, das erfuhr ich auf der anderen Seite meiner kleinen DDR-Welt. Zehn Jahre, nachdem das mutige Cuba sich gewunden hatte aus diesem eisernen Griff, sah ich in das Gesicht des neuen Kubaners. Dem egal war, ob er schwarz war oder weiß. Ob er Professor war oder Machetero auf dem Zuckerrohrfeld. Gelungen, in zehn kurzen Jahren. Ob sich das einer vorstellen kann? Rassendiskriminierung, einfach nicht mehr da, im Herzen der Menschen. Und der Weiße machte der schwarzen Oma Platz. Im Bus. Die er vor kurzem nicht einmal hineingelassen hätte. In den Bus. Und alle hatten nicht viel, doch alle hatten Würde nun und Hoffnung auf ein Leben, genau, wie es da formuliert stand in jenen erhabenen Schriften. Und der Kubaner war alsbald hoch gebildet, der schwarze wie der weiße. Und er hatte seine Ärzte, egal, welche Hautfarbe aus dem Kittel herausschaute, die kein Kind mehr sterben ließen, egal auch ob weiß oder schwarz.
Cuba war gut. Hätte man Cuba machen lassen. Doch ließ man es nicht. Und es geriet, klein und abhängig, zwischen die Mühlen der Weltgeschichte. Die am meisten jetzt mit den Fingern zeigen auf das elende Leben der Insel von heut’, es sind genau jene, die das Elend herbeigeführt haben. Und herbeigewünscht obendrein. Aus machtpolitischem Kalkül.
Ein neues Jahrzehnt. Anders stand ich jetzt im Leben. Vorbei die Zeit, da ich mich ducken mußte. Ich sprach nie mehr von der vergitterten Phase, mit der man meine Jugend ausklingen ließ. Es war mir, im Innern, sogar gelungen, zu vergeben. Nicht zu verdrängen, das nicht. Bewußt aber, und wahrhaft, zu vergeben. Das begann ganz allmählich und fand seinen Schlußpunkt mit Cuba. Der holprige Anlauf des Lebensweges war eben geworden. Eigene Leistung auch half, ihn zu glätten. Die Instanzen sahen mich vielleicht geläutert. Es hat mich niemand gefragt. Meine Gefangenschaft blieb, hätte einer es wissen wollen, Unrecht in meinen Augen Und meine Familie bestand immer noch aus zwei Teilen und das Miteinander war reglementiert Doch nicht man hatte mir vergeben. Ich hatte vergeben. So war meine Sicht, und sie war intuitiv. Doch sie war in der Tat die beste, das weitere Leben zu gestalten. Ohne Mißmut. Der hätte meine Mentalität verbogen. Ein Leben lang herumlaufen mit Gram und hängenden Mundwinkeln, das wäre die schlimmere Tortur gewesen. Es galt, klarzukommen mit den Gegebenheiten. Neun Monate Gefangenschaft. Der Grund, die Familientragödie. Zerrissene Familienbande. Um sie ging es mir allein, wenn ich Richtung Westen dachte. Nicht um Kino oder modische Klamotten. Wie oft, wohl, sollte ich das Spiel wiederholen? Wenn ich auch keinen Folterern begegnet bin. Doch die Lösung war es nicht. Das Leben draußen, vor den Gittern, vorbeieilen zu lassen.
Das Dreinfügen in die deutsche Teilung, bei weniger subjektiver Bewertung und zunehmend historischem Verständnis, auch wenn ich und die Meinen zu den traurigen Opfern gehörten - und als die Großmutter starb im anderen Teil der Stadt, war dem Vater, ihrem Sohn, selbst die Teilnahme am Begräbnis verwehrt, von mir als dem Enkel ganz zu schweigen -, das Dreinfügen in die Teilung bedurfte nicht zwangsläufig der marxschen Thesen. Von der Einsicht in die Notwendigkeit. Irgendwie war das alles klar. Und irgendwie war wohl nicht nur die eine Seite schuld am Stand der Dinge. Und irgendwie hatte wohl mein ganzes Volk einen Anteil daran, was da so geschah in Europa und eben auch dem eigenen Land. In der zweiten Hälfte jenes zwanzigsten Jahrhunderts. Und irgendwie, gehörte wohl auch ich dazu.
Ich war nun Philologe. Und die Universität hatte mich behalten. Ich saß sogar in der Leitung. Das Ausländerstudium war das Ressort, das ich über eine Reihe von Jahren gestaltete. Und es waren die Jahre, da ging es so sichtbar auf- und vorwärts im Land. Man fing an, uns wieder zu mögen. Außerhalb deutscher Grenzen. Vielleicht auch redeten wir, auf östlicher Seite, uns das ein, daß man gerade uns so besonders mochte. Wir wollten das andere Deutschland sein. Das Leben war nicht unangenehm, in den siebziger Jahren. Ich, mit meinen Hunderten ausländischen Studenten und Gastdozenten, mit meiner seit kubanischer Zeit bewußt weltoffenen Haltung, ich war kein eingesperrter DDR-Bürger mehr. Ich fühlte mich gut. Ich kann auch nichts anfangen mit den Argumenten neuerer, nun bundesdeutscher Zeit, die Ausländerfeindlichkeit betreffend. Weil wir nicht nach Schwarz-Afrika reisen durften, jagen wir nun Menschen mit dunkler Haut und krausen Haaren durch die Straßen? Diese Ausrede ist nichts als primitiv. Und fatal zudem. Nicht nur ich hatte, beruflich nun, reichlich Kontakt mit anderer Hautfarbe, anderer Sprache, anderer Mentalität. DDR-weit, vielleicht nicht im entlegensten Dorf, doch um die zahlreichen Bildungsstätten herum, später auch in so vielen Betrieben, gehörten anders-sprechende, anders-farbige Kommilitonen und Kollegen ins DDR-Bild. Ich erinnere mich an keinen einzigen Fall, da, irgendwo im Lande, jemandem aus anderem Land Feindschaft entgegengeschlagen wäre. Zurückhaltung, sicher. Vielleicht Schüchternheit Doch das wohl mentalitätsbedingt. Von anderem habe ich nie gehört.
Die Haltung zu einem Fremden, das war nichts als die Frage des persönlichen Herangehens. Die meine hatte sich lange vor dem Jahr auf Cuba, in den Hörsälen der Berliner Universität und den Seminarräumen, offenbart. Georgina saß da. Ein bildhübsches, tiefschwarzes Mädchen. Sie studierte Anglistik wie ich. Abseits saß sie. Allein. Auch in der nächsten, der übernächsten Vorlesung. Auch ich bin niemand, der dem anderen auf die Schulter haut, und schon ist der Abend gelaufen. Gewiß würde ich nie ein Gespräch von allein beginnen, um lange Bahnfahrt zu überbrücken. Deutsch, eben, und wie. Niemand springt über seinen Schatten. Doch Georgina, so verloren in der Bankreihe, da sträubte sich einfach mein menschenfreundliches Wesen. Mein Empfinden sagte mir, daß da einer nicht so sitzen konnte. So allein. Und da keiner kam, sie an seinen Tisch zu holen, tat ich es dann alsbald. Wir wurden Freunde. Unzertrennlich, während aller Studienjahre. Ihre Freunde und meine Freunde, wir waren bald ein buntes Völkchen. Unsere Studentenparties schwarz-weiß gemischt, und nach wenigen Wochen fiel es keinem mehr auf. Als ich nach Cuba kam, im vierten Studienjahr, da war das Gemisch der Hautfarben, wie ich es dort antraf, für mich, den ‚eingesperrten DDR-Bürger’, längst das Normalste der Welt.
Und ich war kein anderer DDR-Mensch als alle um mich herum. Niemand, in meiner Umgebung, reagierte anders. Die uns sahen, mich, und meine schwarze Freundin. Die Nachbarn, die meine afrikanischen oder indischen Freunde ein- und ausgehen sahen, in der Wendenschloßstraße. Die Familie, die Leute in der Straßenbahn, die am Badestrand, auf dem Zeltplatz, wo wir die Sommer verbrachten. Sie alle sahen etwas ganz Normales. Kein Wort, keinen Blick hatte es je gegeben, über den wir uns hätten wundern müssen. Oder ängstigen gar. Wieso weiß man das heute nicht mehr?
Die Studenten dann aus aller Herren Länder, Hunderte, aus Dutzenden Ländern von überall her, waren in meiner beruflichen Laufbahn die logische Folge. Zu gern nahm ich diese Aufgabe an. Und wachte, daß die Dinge gut liefen. An der Universität. Und während ihres Aufenthalts. Im Gastland DDR. Beidseits waren Rechte und Pflichten zu wahren. Leere Bierflaschen aus dem zehnten Stock im Internat werfen, nur weil einer zu ‚blau’ war, noch zu wissen was er tat, und da konnte er schon aus dem Innersten von Ghana sein und nun bald promovierter Ökonom und egal welcher Hautfarbe, das ließ ich ebenso wenig angehen wie das rapide Absacken von Zensuren, weil die Dozentin Rachegelüste ausspielen wollte gegen einen ihrer glutäugigen ausländischen Schützlinge, mit dem sie ein kurzzeitiges Liebesabenteuer verband, welches der dann jedoch zugunsten einer jugendlicheren Kommilitonin abbrach. In der Regel aber gab es weniger aufreibende Pflichten in meinem Arbeitsalltag. Unsere Gaststudenten einzubinden in das universitäre Leben und vor allem zu gewährleisten, daß sie gute Fachleute wurden, daß ihr Alltag vernünftig und problemlos verlief, daß ein kultureller Austausch stattfand mit den deutschen Gastgebern als auch untereinander, all das waren interessante, erfahrungsreiche Bestandteile meiner Arbeit. Sie machte mir Spaß, sie nervte auch, hier und da, wie eine jede Arbeit dies tut. Und in jedem Falle formte sie mich.
Als, zum Ende dieser Dekade, mein Kind geboren wurde, saß es, sobald es sitzen konnte, auf dem Schoße aller möglichen Landsleute. Angesprochen in -zig verschiedenen Sprachen, angeschaut von Augen aus vietnamesischen Gesichtern oder denen von Indios, von Ägypterinnen, Norwegern und Angolanerinnen. Und alle, die heute ihre Sprüche klopfen, kann ich ganz beruhigen: Julia hat, gehalten von diesen Händen in weiß oder braun oder rabenschwarz, nicht ein einziges Mal gebrüllt wie am Spieß.
Das Jahrzehnt war durchweg positiv. Ganz sicher auch, weil es, subjektiv und in meinem persönlichen Leben, ein sehr schönes war. Da war der Mann fürs Leben. Den gab es schon lang, doch nun war klar, daß er blieb. Da kam das Kind, das lange ersehnte. Alles schien aufwärts zu streben. Der Alex wurde bunter. Es kamen die Blumenrabatten. Das Eis schmeckte besser. Die Menschen hatten Gärten. Der DDR-Alltag, so richtig einfach war er vielleicht nie, doch er war ganz gut zu meistern. So manch gutes Buch kam hinzu. Manch guter Schluck stand auf dem Tisch. Die Ostsee war immer nah und im Winter die Skier und das Erzgebirge.
Das, was nicht war, da hatte man, ein jeder für sich, seine Strategie entwickelt, damit umzugehen. Und wenn ich dann dachte, an das Kind in den Slums von Rio, das da saß im verkeimten Wasser der Pfütze, in der es spielte und auch noch draus trank, da mochte ich noch weniger gern jammern über die Schlange freitags am Fleischerstand oder das nicht gerad’ üppige Gemüseangebot.
1983
Man begann aber, sich zu fragen, warum? Warum, nur Rot- und Weißkohl, den Winter hindurch. Warum, war es so schwer, außerhalb von Sommermonaten die Schnittblume für die Vase zu finden. Warum, konnte die Schwester im Krankenhaus kein freundliches Gesicht machen. Zu der Mutter und den anderen, die da hilflos lagen. Warum, sollte es uns nicht möglich sein, ein paar Fliesen herzustellen. Warum, mußte man überall jemanden kennen, wollte man teilhaben an den Freuden des Lebens. Warum nur, hat man dem Handwerker beinah’ die Füße geküßt. Und man sah es ihm an, wie ihm das gut tat. Warum, allerdings, waren dann ebendie, denen es am besten ging im mängelbehafteten DDR-Leben, haargenau die, die am meisten schimpften? Die am ehesten alles hinwerfen wollten?
Wenn ich heute sehe, wie, für die gleiche Arbeitsstunde, ich, die ich Sprachen lehre und wissenschaftliche Vorträge halte, ein Viertel oder Fünftel gar verdiene im Vergleich zu dem, der das Leck in der Telefonleitung findet oder das Gewinde neu schmiert, damit es aus dem Hahn nicht mehr tropft, wie ich jeden Kilometer selbst finanziere zu meinem Unterricht, während er enorme Kosten berechnet, nur um anzukommen am Platz seines Viertelstunden-Auftrags und für die Rückfahrt hernach, da verstehe ich schon den Weitblick von einst. Vielleicht hätte ich ja auch bei meinen Emailleblechen bleiben sollen. Das Handwerk, und sein goldener Boden, der Spruch ist zeitlos. Ich, jedenfalls, sehe: So ist Freiheit. Neu definiert.
Waren die Siebziger eher die zuversichtliche Dekade, da sogar die Eltern, leidgeprüft in ihrer ersten Lebenshälfte und betrogen von Politik, nicht mehr ganz überzeugt waren von ihrem dereinst getätigten Vergleich mit dem ‚schmutzigsten Geschäft’, und gelang uns Zufriedenheit, und sei es auch, weil die Ansprüche nicht zu hoch hingen und der Blick in die Welt, auch wenn wir nicht fuhren, ihn doch wohl hatten und dieser dann half, das Maß zu finden - und die Spannbreite war weit, zwischen dem Kristall, das die Kusine im Westen aus einem Schliff im Schranke stehen haben mußte und sich dafür trennte, in Mengen, von geschliffenen Stücken, die ihrem Anspruch nicht mehr genügten und die, wie ich fürchtete, wohl in den Abfall wanderten, zwischen diesem Lebensniveau, und eben jenem Kind, so alt wie meines, doch irgendwo in der Welt, das Milch nicht kannte und nicht das Gefühl von Satt-Sein -, bewegten wir so die Gedanken in der ein oder anderen Richtung, in den Siebzigern, und hatten unsere Welthaltung scheinbar gefunden, so kamen alsbald die Achtziger, und mit ihnen deutlich und vermehrt das Gefühl, daß da irgend etwas nicht mehr recht stimme.
Das eben noch Aufwärtsstrebende schien, schleichend, einer Abwärtsbewegung Platz zu machen. Nicht so sehr in Wohlstandsfragen. Gewöhnung, Erfahrung, das Einstudieren von Lebenstricks, man kam schon klar. Auto, Haushalttechnik, Telefon ... wir hatten ordentlich aufgeholt. Auch, wenn die Tante, die nun schon lang’ wieder kommen konnte so wie sie mochte - gegen Eintritt, ja, aber man sah sich doch immerhin -, auf die Frage nach der Probefahrt mit mir, ihrer autofahrenden Ostnichte, in ganz frühen Besuchsjahren schon den unvergeßlichen Spruch getan hatte „... na ja, man kommt schon auch vorwärts. Damit.“ ‚Damit’, das war der Trabant. Und es war nicht Überheblichkeit. Denn die Tante war im Wesen eine wahrhaft Bescheidene.
Nein, das Problem war nicht, daß unser Auto sich so sehr unterschied von den Autos anderswo. Auch das Reisen war nicht das Problem. Ich hatte mich dran gewöhnt, daß ich, die Hispanistin, Spanien nicht zu sehen bekommen würde. Daß die Verwandten von der anderen Seite statt dessen fuhren ein ums andere Jahr und alle Bekannten um sie herum. Und ich hatte mich auch damit abgefunden, daß sie Mallorca eben so aussprachen, wie sie es taten, mit den zwei kräftigen L, und von mir, der Hispanistin, nicht einmal annehmen wollten, es so zu sagen, daß ein Mallorquiner sie wenigstens verstehen würde. All das waren keine Themen, die das DDR-Land zu Fall bringen sollten.
Wie wir aber immer öfter saßen, in Freundeskreis, in Kollegenkreis, selbst unter Fremden, und immer häufiger Probleme berieten, die sichtlich die Substanz dieses Landes angriffen, wie versucht wurde, die Dinge anzusprechen dort, wo Entscheidungen fallen sollten, doch man hielt Ohren und Augen geschlossen, das wurde zunehmend bedrückend. Der Mann, der meine, auf dem Platz im Lande, Schwachstellen aufzuspüren, sie der Besserung zuzuführen, der sich schließlich fragte, warum, wohl, er überhaupt noch prüfe und melde, wenn doch nicht zur Kenntnis genommen wird, wo es nicht funktioniert, wenn sogar abgeblockt wird nach dem Vorbild der drei Affen, das trübte zunehmend das Vertrauen in eine wirkliche Weiterentwicklung dessen, das da doch unser Land war. Das Problem war gar nicht so sehr das Nicht-Sagen-Können als vielmehr das Nicht-Hören-Wollen.
Die Wahrnehmung dann, wie in bedrohlicher Form sich auf Kosten des Gemeinwesens ausgeruht wurde, dies eher zu einer Art Selbstbedienungsladen wurde mit immer weniger Neigung, es mit eigener Leistung auch zu erhalten, und wie man, um des lieben Friedens willen, nicht gegensteuerte gegen diese Art von Selbstzerstörung, diese Wahrnehmung war das Markante jenes Jahrzehnts. Gepaart mit rasant zunehmender Gleichgültigkeit, einem schonenden Sich-Dreinfügen und Ja-doch-nichts-ändern-Können. Und jeder war sich selbst der Nächste. Vorbei alle rührenden Utopien einer edlen menschlichen Gemeinschaft. In der einer für den andern stand.
Da war das große Jubiläum der Hauptstadt Berlin. Das Jahr 1987. 750-Jahrfeier einer großen Stadt. 1500-Jahrfeier, meinten die Spaßvögel. 750 Jahre feierte der Osten, schön für sich, 750 Jahre der Westteil. Dito. Uns Berlinern war bei diesem Witz noch immer nicht zum Lachen zumute.
Bürgermeister aus aller Herren Länder waren geladen, es sich in der Hauptstadt der DDR gutgehen zu lassen. Eine Woche lang. Und zu schauen und zu staunen, vor allem, welch grandiose Entwicklung dieses stolze Ländchen des Sozialismus genommen hat so über die Jahre. Als Sprachenmensch, war auch ich gebeten worden, hilfreich zur Seite zu stehen. So war ich dem Oberbürgermeister von La Habana beigegeben in jenen Tagen und seiner kleinen Delegation. Wie gut hatten sie erkannt, welch Theaterstück wir da vollführten. Parodie unserer selbst. Parodie eines Landes, das nicht so war, wie es sich gab. Ihre Warnung, nur zu mir gesagt und nicht in die Ohren der Offiziellen, ‚glaube uns, wir betrachten mit Sorge, was ihr da tut, mit eurem Land ...’ sie war für mich das letzte Achtungszeichen.
Da wir alle sahen, wohin wir drifteten, da aber doch niemand reagierte, war, was dann geschah, ganz folgerichtig. Und es war gehörig unfair, später, nur vier oder fünf der ganz Oberen die Schuld an allem zu geben.
Ein Versuch der Geschichte ist zu Ende gegangen. Er ist nicht geglückt. Schade drum.
Christel Weiß
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