vorhergehender Beitrag

Inhaltsverzeichnis

nächster Beitrag


Und da sind Sie noch hier, im Osten?! 

Das Leipziger Café Centra, in dem ich mich an jenem Vorfrühlingstag im Jahr 1952 nach einem Einkaufsbummel zu einer Tasse Kaffee und einem Stück Torte hingesetzt hatte, war überfüllt. Ich saß allein an einem der kleinen Tische, und wohl deshalb fragte die mir völlig unbekannte Dame, ob sie sich zu mir setzen dürfe. Ich weiß nicht mehr, wie wir miteinander ins Gespräch gekommen sind, was mich veranlaßte, ihr aus meinem Leben zu berichten, meiner Kindheit als Tochter zweier jüdischer Ärzte in Frankfurt/Main, unserer Emigration 1933 nach der Tschechoslowakei, die wir 1938, kurz vor dem Münchener Abkommen zwischen Hitler, Mussolini, dem englischen Ministerpräsidenten Chamberlain und dem französischen Premier Daladier, verließen. Ich erzählte von unserem Leben als Flüchtlinge in England und, daß ich 1946 mit einer Gruppe von Antifaschisten als einzige meiner Familie nach Deutschland zurückgekommen war.

Ich hatte die Tatsache, daß ich Jüdin bin, nie verheimlicht, aber auch nie an die große Glocke gehängt. Oft ergab es sich schon, wenn ich meinen Namen „Rahel“ nannte. Biblische Namen waren den meisten meiner Gesprächspartner unbekannt. Da in der DDR in keinem Fragebogen - und Fragebogen gab es reichlich - nach der Religion gefragt werden durfte, war ich auch nie veranlaßt, mich offiziell als Jüdin zu bekennen. Aber gerade die Tatsache, daß ich Jüdin bin, veranlaßte meine Gesprächspartnerin zu dem entsetzten Ausruf: „Und da sind sie noch hier, im Osten?!“ Sie erzählte von jüdischen Bekannten, die in den Westen gegangen waren und wollte offensichtlich auch mir klar machen, daß das meine einzige Rettung sei. Ich verstand sie nicht. Mir waren in den sechs Jahren, die ich in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. in der DDR lebte, aus meiner jüdischen Herkunft keinerlei Nachteile entstanden.

Im September 1952 nahm ich das Studium an der Leipziger Universität auf. Mein Wunsch wäre es gewesen, an der Philosophischen Fakultät Geschichte zu studieren, mit dem (geheimen) Ziel, einmal eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Aber im Vorgespräch zur Immatrikulation wurde mir erklärt, es hätte für mich keinen Sinn, Fachhistoriker zu werden, denn mit meiner „westlichen“ Vergangenheit könne ich doch weder in einem Museum noch in einem Archiv arbeiten, da eine solche Arbeit ohne die Teilnahme an Kongressen auch im westlichen Ausland nicht möglich sein wurde und mir als ehemaliger Westemigrantin unter den damaligen Umstanden eine solche Reise nicht gestattet werden würde. Mir wurde vorgeschlagen, meine Ausbildung als Neulehrerin für Geschichte durch ein Universitätsstudium zu vervollständigen. Bis heute bin ich den Verdacht nicht losgeworden, daß die Mitarbeiterin in der Studienabteilung den Auftrag hatte, Lehrerstudenten zu werben und mich auf diese Weise dafür gewinnen wollte. Ich liebe Kinder und beschäftige mich gern mit ihnen. Aber ich war, wohl als Folge der Emigration, psychisch angeschlagen und wußte nicht, wie lange ich eine Arbeit mit Kindern aushalten wurde. Sie versicherte mir, ich könne nach einem Lehrerstudium ja auch an einem Institut für Lehrerbildung unterrichten. So sagte ich zu und kam in das Seminar 7 der Pädagogischen Fakultät. Das Studium machte mir Freude, und der Kontakt zu meinen Kommilitonen war gut.

Meine Mutter lebte damals, zusammen mit meinem jüngsten, behinderten Bruder, in London, der andere Bruder war verheiratet und wohnte ebenfalls in England. Mein Vater hatte als Arzt bei der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Association = Hilfs- und Rehabilitationsvereinigung der Vereinten Nationen) gearbeitet und hielt sich mal in diesem, mal in jenem Land auf - ich erinnere mich an Griechenland, Ägypten, Frankreich, zeitweilig wohl auch Westdeutschland.

Bevor ich das Studium antrat, riet mir ein Genosse, der im Ministerium für Staatssicherheit arbeitete, nicht immer und überall zu erzählen, wo mein Vater sich gerade aufhielt - was ich häufig auch gar nicht wußte. Es genüge, meinte er, wenn ich sage, daß meine Familie in England lebe, da die Hauptwohnung meiner Eltern in London war, mein Vater ja keinen ständigen Wohnsitz hatte. Mir leuchtete das ein, und ich berichtete nur dem Parteisekretär der Fakultät von der Arbeit meines Vaters. Der war, nach der Auflösung der UNRRA, in verschiedenen internationalen medizinischen Organisationen tätig, zuletzt als Managing Director bei der Internationalen Organisation gegen Tuberkulose, mit Hauptsitz in Paris. Eines Tages erhielt ich einen Brief von ihm aus einem westdeutschen Tuberkulose-Heilbad, den ich aus irgend einem Grund jemandem in meiner Seminargruppe zeigte. Was daraufhin geschah, hatte ich allerdings nicht vorausgesehen. Man warf mir vor, die Partei belogen zu haben, als ich erzählte, meine Eltern lebten in England. All meine Erklärungsversuche fruchteten nichts, aus dem Vorwurf der Lüge ergab sich die - nicht offen ausgesprochene - Beschuldigung, möglicherweise ein imperialistischer Spion zu sein. Es gab unzählige Aussprachen, in denen es um meine politische Einstellung ging, die Motive meiner Rückkehr nach Deutschland, mein Verhältnis zu meinen Eltern und warum diese nicht mit mir nach Deutschland zurückgekommen seien. Ich weiß heute nicht mehr, was für Fragen mir alles gestellt wurden, aber die Stimmung war so, daß ich fürchten mußte, aus der Partei ausgeschlossen und exmatrikuliert zu werden. Und dann, ebenso plötzlich wie die „Verhöre“ angefangen hatten, endeten sie, und die genannten Probleme wurden während meiner ganzen Studienzeit nicht wieder erwähnt. 1990 traf ich zufällig eine damalige Kommilitonin, zehn Jahre jünger als ich, die mir sagte, sie und die anderen „Jungen“ (das heißt die, welche direkt nach der Oberschule und nicht über die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät zum Studium gekommen waren) hätten überhaupt nicht verstanden, was man eigentlich von mir wollte.

In all den Aussprachen stand meine Westemigration im Mittelpunkt, nicht ein einziges Mal tauchte ein Hinweis darauf auf, daß ich Jüdin bin. Und ich selber wäre nie auf die Idee gekommen, hier einen Zusammenhang zu sehen. Nach der Wende, als das Archiv der Bezirksleitung der SED aufgelöst wurde, informierte mich die Archivarin, sie habe ein Schriftstück über mich gefunden, ob ich es mir ansehen wolle. Es handelte sich um einen Brief des Parteisekretärs unserer Fakultät (es war nicht mehr derselbe, mit dem ich gesprochen hatte, als ich mein Studium begann) an die Bezirksparteikontrollkommission, der damit begann, daß im Zusammenhang mit dem Prozeß gegen Slansky in der CSSR ein Bericht über die Genossin Rahel Gellner angefordert worden sei, der nun vorliege. Da wurde mir zum ersten Male klar, daß der Brief meines Vaters nur der willkommene Auslöser, keineswegs die Ursache für die vielen Gespräche mit mir gewesen war.

Auf Argwohn, der mit meiner Westemigration zusammenhing, traf ich in meinem Leben in der DDR öfter. Diesem - teilweise wohl übertriebenen - Sicherheitsbedürfnis waren aber nicht nur ich und andere aus der Emigration zurückgekehrte jüdische Bürger ausgesetzt, sondern ebenso nichtjüdische Genossen, die in westlicher - englischer, amerikanischer oder französischer - Kriegsgefangenschaft waren. Ich kannte einen Genossen, Spanienkämpfer, der nach seiner Rückkehr aus Frankreich in der Kleinstadt, in der er lebte, die Volkspolizei aufgebaut hatte und dann plötzlich aufgefordert wurde, seine Waffe abzugeben Dieses Mißtrauen war für alle Betroffenen sehr schmerzlich, und viel Leid hätte bei gründlicher „Einzelfallprüfung“ sicher vermieden werden können. Aber unverständlich war das Mißtrauen nicht, auch für uns, die wir darunter litten. Wir hatten keine Illusionen darüber, daß die imperialistischen Mächte alles versuchten, um Agenten gegen die Staaten, die eine sozialistische Entwicklung anstrebten, anzuwerben.

Hier ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung: Meine Mutter hatte während des Krieges ihre Zulassung als praktizierende Ärztin bekommen. Nach dem Krieg beschäftigte sie sich dann mit einem wissenschaftlichen Spezialgebiet: den Ursachen des kindlichen Schwachsinns und Methoden zu seiner Überwindung. Auf diesem Gebiet gab es in den USA weit bessere Forschungsmöglichkeiten als in Großbritannien, deshalb nahm sie das Angebot an, ihre Arbeit in einer Schule für Behinderte im USA-Staat Colorado weiterzuführen. Dazu brauchte sie, obwohl sie inzwischen englische Staatsbürgerin war, ein Besuchervisum, das regelmäßig verlängert werden mußte. Anfang der fünfziger Jahre wurde ihr plötzlich die Verlängerung verweigert. Eine Begründung gab man nicht. Sehr deprimiert nach dieser Mitteilung, kehrte sie in ihre Wohnung zurück, wo sie von zwei Herren erwartet wurde, die sich als Mitarbeiter des FBI auswiesen Diese Herren fragten nach ihrer Tochter in Ostdeutschland und forderten sie auf, alle Briefe von mir an ihre Behörde weiterzugeben. Mutter erwiderte, ich sei Lehrerin und weder Ministerpräsident noch Mitarbeiter eines Geheimdienstes der DDR, und unser Briefwechsel trage rein persönlichen Charakter Das müsse sie schon ihnen überlassen, erwiderten ihre Besucher. Obwohl Mutter klar war, daß sie bei einer Zusage sofort die Verlängerung ihres Visums bekommen würde, lehnte sie ab. Sie mußte ihre, auch für die USA interessanten und wichtigen, Untersuchungen abbrechen und die USA verlassen. Alle Bestrebungen ihrer wissenschaftlichen Kollegen, die Wiedereinreise in die USA für sie zu erreichen, blieben über zehn Jahre lang fruchtlos. Erst danach erhielt sie wieder Einreise-, Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für das freieste Land der Welt. Natürlich hätten meine Briefe keine Staatsgeheimnisse enthalten, aber welche noch so privaten Mitteilungen dem FBI (oder der CIA) dazu hätten dienen können, mich vielleicht erpreßbar zu machen, das konnten weder sie noch ich einschätzen. Diese Episode berichte ich hier nur, um zu zeigen, daß die Westmächte durchaus nicht zimperlich waren bei ihren Versuchen, Agenten anzuwerben.

Noch ein anderes Ereignis fiel in meine Studienzeit, welches mich zwar die Note „Sehr Gut“ im Staatsexamenszeugnis kostete (ich hatte die Zwischenprüfungen nach dem 1. und 2. Studienjahr mit dieser Note abgeschlossen), aber mehr für mich bedeutete, als wenn ich das Große Los gewonnen hätte - ich lernte meinen Mann kennen

Im August 1954 fand ein Lager der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) der Karl-Marx-Umversität statt. Ich kam mit vier anderen Studentinnen erst wenige Minuten vor Abfahrt des Zuges zum Bahnhof, eilig stiegen wir in das letzte Abteil, in dem bereits zwei junge Männer saßen. Eine Gruppe junger Menschen bleibt sich nicht lange fremd, und als wir an unserem Bestimmungsort ankamen, waren wir sieben bereits gute Freunde. Ich war, dreißigjährig, mit Abstand die Älteste unter den Mädchen, einer der jungen Männer war ein zwei Jahre älterer Medizinstudent, Ernst Springer, der gerade das Vorphysikum hinter sich hatte. Er stammte aus einer Arbeiterfamilie, und obwohl er als Kind in der Schule stets sehr gute Leistungen vollbrachte, wäre an ein Studium nie zu denken gewesen. In der DDR machte er in der Abendoberschule das Abitur - einen Besuch der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät mit relativ geringem Stipendium konnte sich der Vater von drei Kindern nicht erlauben. Seine Frau war etwa neun Monate zuvor verstorben, seine Mutter versorgte den Haushalt und betreute die Kinder. Ernst und ich verstanden uns sehr gut. Zu Semesterbeginn zurück in Leipzig, besuchte ich ihn, lernte seine Familie kennen, und am 15. Oktober, drei Tage vor dem 5. Geburtstag seines jüngsten Sohnes Rainer, zog ich zu ihnen.

Inzwischen war meine Mutter aus den USA nach Europa zurückgekommen und wollte den Mann, mit dem ihre einzige Tochter zusammenlebte, gerne kennenlernen. Wir trafen uns in Berlin und meine Mutter erklärte mir, sie könne ihre Schwiegertochter, die Frau meines in England lebenden Bruders John, gut leiden, aber sie hatte sie niemals für ihn ausgesucht. Wenn sie für mich einen Mann hätte aussuchen können, so wäre kein anderer als mein Ernst in Frage gekommen. Während dieses Treffens beschlossen wir, möglichst bald zu heiraten. Wenn sich auch durch eine Ehe an unserem Verhältnis nichts ändern würde, hatte ich den Wunsch, daß die Kinder, die mich bis dahin, ebenso wie die jungen Kommilitoninnen ihres Vaters, beim Vornamen nannten, Mutti zu mir sagen sollten. Und so wurde ich am 23. Dezember 1954 Frau Springer und Mutter von drei Kindern - dem fünfjährigen Rainer, der zehnjährigen Ingrid und dem zwölfjährigen Ernst. Den Termin so kurz vor Weihnachten wählten wir, weil wir während des Semesters einfach keine Zeit hatten. Wir bekamen sogar, sozusagen als Hochzeitsgeschenk, von der Universität einen einwöchigen Urlaubsscheck der Gewerkschaft nach Thüringen. Während Ernst und ich auf dem Standesamt waren, sprach Ernsts Mutter mit den Kindern. Sie konnten doch jetzt nicht mehr „Rahel“ zu mir sagen, ich sei doch jetzt ihre Mutti. Aber mich „Mutti“ zu nennen, weigerten sich die beiden Großen, die sich ja noch lebhaft an ihre vor etwas über einem Jahr verstorbene Mutter erinnerten. Meine Schwiegermutter, die von allen „Großmutti“ genannt wurde, wußte sofort Rat. Sie schlug vor, sie sollten mich „Mutti“ nennen. Und dabei ist es geblieben. Während dieses Gesprächs brachte der fünfjährige Rainer zwei aus Pappe gebastelte Pantöffelchen, die sie im Kindergarten zum Nikolaustag mit Bonbons gefüllt bekommen hatten. Die Bonbons waren natürlich nicht mehr da, aber die Schuhchen wollte er „der Rahel zur Hochzeit schenken“. Auf die Frage, was ich denn damit solle, erwiderte er, wenn ich jetzt Vatis Frau sei, würde ich doch bestimmt auch ein Baby bekommen und da hätte ich gleich etwas zum Anziehen für das Kleine. Die Frage eines Babys beschäftigte Rainer überhaupt sehr - er legte Zucker für den Klapperstorch aufs Fensterbrett und erzählte das auch in der ganzen Straße. Das führte dazu, daß sich Frauen aus der Nachbarschaft nach einiger Zeit an meine Schwiegermutter wandten, wieso man mir „noch nichts ansähe“. Wir waren aber der Meinung, drei Kinder seien genug.

Wenn ich oben schrieb, daß diese Veränderung meiner Lebensverhältnisse mich die Note „Sehr Gut“ im Staatsexamen kostete, so nicht etwa wegen zusätzlicher Arbeit - den Haushalt leitete nach wie vor meine Schwiegermutter. Aber mit drei Kindern kann man nicht, wie ich vorher in meiner „Studentenbude“, stundenlang ungestört über den Büchern sitzen, eine Mutter ist dazu da, daß man ihr die Erlebnisse aus der Schule und dem Kindergarten erzählt, daß gemeinsam gespielt oder spazierengegangen wird. Wenn ich auch zuerst ein wenig unglücklich war, als ich feststellte, daß die Staatsexamensnote nur „2“ sein wurde, selbst für ein „Super-Sehr-Gut“ hätte ich meine Familie nicht eingetauscht.

Wenn ich an mein Gespräch mit der fremden Dame im Café Centra zurückdachte - ich hatte wahrhaftig keinen Grund, „den Osten“ zu verlassen.

1955 schloß ich mein Studium ab. Ich wurde an einer Leipziger Schule eingesetzt unterrichtete in erster Linie Geschichte, aber auch Deutsch und Geographie. Ich beschäftigte mich auch außerhalb des Unterrichts viel mit den Schülern der 6. Klasse, deren Klassenlehrerin ich war, unterstützte die Arbeit der Pioniergruppe, besuchte mit ihnen Museen. An Pioniernachmittagen erzählte ich ihnen aus meinem Leben, von meiner Zeit als Flüchtling in der Tschechoslowakei und in England. Nicht wenigen der Kinder erschien dieses Leben interessant und abenteuerlich, sie beneideten mich darum, schon als Kind so viel von der Welt gesehen zu haben. Ich erinnere mich noch gut an meine Antwort: „Reisen ist eine schöne Sache, wenn man ein Zuhause hat, in das man nach dem Ende der Reise zurückkehren kann. Die Reisen von Flüchtlingen aber führen jedes Mal ins Ungewisse, weder die Eltern noch die Kinder wissen, wie und wovon sie in Zukunft leben werden.“ Von dieser Seite hatten meine Schüler das natürlich noch nie gesehen. Heute hoffe ich, wenigstens einige von ihnen mögen sich an unser damaliges Gespräch erinnern, wenn Innenminister Schily das Flüchtlingsdasein als eine Art paradiesischen Lebens hinstellt, das sich 97 Prozent der in die BRD Geflohenen unrechtmäßig zu erschleichen suchen.

Leider konnte ich die Arbeit an der Schule nicht lange durchhalten. Das Ungewisse Leben der Emigrantin war an mir nicht spurlos vorübergegangen. Ich litt an Depressionen, die meist dann auftraten, wenn ich gar keinen Grund hatte, deprimiert zu sein. So ging es mir auch jetzt wieder, und meine Ärztin riet mir, aus gesundheitlichen Gründen die Arbeit mit Kindern aufzugeben und in die Erwachsenenbildung zu wechseln. So kam ich als Lehrerin für Gesellschaftswissenschaft an die Fachschule für Gastronomie in Leipzig. Die Arbeit mit Erwachsenen war weniger nervenaufreibend als die mit Kindern. Gesellschaftswissenschaft ist zwar umfassender als Geschichte, die ja mein Studienfach gewesen war. Aber ich hatte mich bereits in England während der Emigration ziemlich eingehend mit Marxismus-Leninismus befaßt, vor allem im Selbststudium zusammen mit meiner indischen Freundin Vidya Kanuga, aber auch in einem Fernkurs des „Karl-Marx-House" in London. Und natürlich hatte mir das Gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium an der Universität auf diesem Gebiet viel gegeben. So machten mir auch dialektischer und historischer Materialismus und marxistische politische Ökonomie keine Schwierigkeiten. Ich gewann ziemlich schnell das Vertrauen meiner Genossen an der Schule und wurde zur Parteisekretärin gewählt. Anfang 1957 schlug ich vor, zum Internationalen Kindertag am 1. Juni ein Internationales Kinderfest, das dem Charakter unserer Schule entsprach, durchzuführen. Einzelne Klassen bauten gastronomische Einrichtungen verschiedener Nationalitäten auf, z. B. eine Chinesische Teestube, ein Wiener Kaffeehaus, es gab eine Internationale Märchenstube, und wir machten uns mit Spielen aus verschiedenen Ländern vertraut. Zu dieser Veranstaltung luden wir die Kinder aus der Umgebung der Schule ein, aber auch ausländische Kinder, die in Leipzig lebten und Kinder aus binationalen Familien.

Gegen Ende der fünfziger Jahre wurden in den Großbetrieben Betriebsakademien eingerichtet, in denen die verschiedenen Formen der betrieblichen Erwachsenenbildung zusammengefaßt wurden. Ich hatte ja bereits vor meinem Studium in den Leipziger Eisen- und Stahlwerken (LES) gearbeitet und freute mich daher, als man mir anbot, dort die Betriebsakademie aufzubauen. Ich hatte mich an der Fachschule für Gastronomie wohlgefühlt, aber irgendwie empfand ich das Zurückkommen zu LES als eine Heimkehr. Viele der Arbeiter kannten mich noch, mancher junge Arbeiter war einmal mein Schüler an der Betriebsberufsschule gewesen. Und alle betrachteten mich, die jüdische Hochschulabsolventin, als eine der Ihren. Ob es noch andere jüdische Kollegen im Betrieb gab ? Ich fragte nicht danach und wurde nicht danach gefragt. Ich unterrichtete Gesellschaftswissenschaften, hatte aber die Aufgabe, Kurse zu organisieren, für die Bedarf bestand. Das waren in erster Linie Kurse auf den verschiedenen Gebieten der Gießereitechnik und anderen Bereichen der Metallbearbeitung - Dinge, von denen ich nichts verstand. Es war jedoch kein Problem, im Betrieb Ingenieure zu finden, die diese Fächer unterrichten konnten. Schwieriger wurde es, als eine Gruppe Jugendlicher mit der Bitte zu mir kam, an der Betriebsakademie einen Lehrgang der russischen Sprache einzurichten. Es gab zwar eine Reihe Hochschulkader, die in der Lage waren, russische Fachliteratur zu lesen, aber keiner traute sich zu, Russisch zu unterrichten. Ich erinnerte mich an eine Kollegin, Russischlehrerin, aber sie hatte aufgehört zu arbeiten, als ihr Töchterchen geboren wurde und hatte niemanden, um das Kind zu betreuen, wenn sie den Unterricht bei uns übernahm. Ich organisierte, daß unser vollbesetzter Betriebskindergarten die Kleine jeweils für die Stunden aufnahm, in denen ihre Mutter bei uns arbeitete. Auf solche und ähnliche Weise gelang es, so gut wie alle Fortbildungswünsche zu befriedigen.

Die Tatsache, daß die Arbeiter mich als völlig Gleiche betrachteten, hatte manchmal auch amüsante „Nebenwirkungen“. Ich erinnere mich an einen heißen Sommertag, als nach einer Diskussionsrunde mit einer Brigade in der Graugießerei der Vorschlag gemacht wurde, im Betriebsklubhaus „Arthur Nagel“ noch ein Glas Bier trinken zu gehen. Es wurde als selbstverständlich vorausgesetzt, daß ich mitgehe. Nun lag mir schon damals nicht besonders an Bier, und außerdem war ich in der Stadt mit meiner Tochter verabredet, aber ich hatte Durst und noch etwa eine Stunde Zeit. Als dann jemand noch eine zweite Runde bestellte, wollte ich mich drücken, meine Kollegen ließen es aber nicht zu. Als ich schließlich in die Stadt kam, begrüßte mich Ingrid mit den Worten: „Mutti, wie läufst du denn?“ Ich war aber doch noch in der Lage, die Dinge, die sie brauchte, mit ihr einzukaufen.

1957 beendete mein Mann sein Medizinstudium, wenige Tage zuvor war seine Mutter gestorben. Anfang 1960 wurde er nach Berlin bestellt - wir konnten uns denken, daß es darum gehen wurde, ihn im Staatsapparat einzusetzen. Ich fuhr mit, und als die Frage seines Einsatzes in Berlin auftauchte, stellte ich meine Bedingung. Ich fragte nicht nach Gehalt - wir hatten mit drei Kindern von zwei Stipendien gelebt, inzwischen hatte unser Ältester eine Lehre in der Landwirtschaft aufgenommen, finanziell würde uns nichts fehlen. Aber ich forderte, daß die ganze Familie nach Berlin ziehen könne, und zwar bevor mein Mann seine Arbeit dort aufnahm. „Ganz so schnell wird es nicht gehen“, wurde mir erwidert, „ein paar Monate werdet ihr schon warten müssen.“ „Nicht einen Tag“, gab ich zur Antwort, „wenn mein Mann einmal angefangen hat zu arbeiten, dann arbeitet er 12 bis 14 Stunden am Tag und hat keine Zeit, sich um Wohnung zu kümmern. Eine Wochenendehe aber bin ich nicht bereit zu führen.“ Und siehe, es ging. Im September 1960 zogen wir in ein, für unsere Familie eigentlich zu kleines, dafür aber idyllisch gelegenes Häuschen in Müggelheim.

So kam es, daß ich am 13. August 1961, dem Tag, an dem die Sicherungsmaßnahmen gegenüber Westberlin getroffen wurden, in Berlin lebte Da ich keine Verwandten irgendwo in Deutschland hatte, war ich vom Bau der Berliner Mauer emotional nicht negativ betroffen. Aus zwei Gründen aber fand ich den Abschluß gegen Westberlin positiv. Unser Jüngster ging damals in die 5. Klasse, und obwohl er nach drei Wochen berlinerte wie ein „Eingeborener“, fühlte er sich ausgegrenzt, weil wir ihm nicht erlaubten, mit seinen Klassenkameraden nach Westberlin ins Kino zu gehen. Was er uns von den Filmen erzählte, die seine Freunde gesehen hatten (man ließ die „armen“ Kinder aus dem Osten kostenlos in die Kinos), veranlaßte uns, dieses Verbot streng aufrechtzuerhalten - wir waren nicht bereit, unser Kind all dem Schund, der dort geboten wurde, auszusetzen. Aber wir konnten nicht wissen, wann die Erzählungen seiner Freunde ihn dazu verleiten würden, unsere Anweisung zu durchbrechen. Dem war nun ein Riegel vorgeschoben. Der zweite Grund betraf den umgekehrten Weg - den von Westberlin zu uns. Westberliner, welche die D-Mark zum Schwindelkurs von 1 zu 5 oder noch höher gegen die Mark der DDR eintauschten, erhielten die bei uns preisgestützten Lebensmittel, z. B. Butter, fast geschenkt und machten von diesem Vorteil reichlich Gebrauch. Friseurtermine waren in Ostberlin so gut wie gar nicht zu bekommen. Jede Frau, die sich an die Preise für Haarschneiden, Kaltwelle usw. vor der „Wende“ erinnert, wird verstehen, warum Westberliner Frauen diese Dienstleistungen gern bei uns in Anspruch nahmen. Auch damit war nun Schluß.

Meine Mutter hatte uns, seit sie aus den USA hatte zurückkehren müssen, jedes Jahr zusammen mit meinem behinderten Bruder in Leipzig besucht. Pfingsten 1961 kam sie zu uns nach Berlin und traf dort auch unseren ersten, gerade sechs Wochen alten Enkelsohn. Das war das letzte Mal, daß ich sie sah - aber damit hatte nicht die Berliner Mauer zu tun - als Engländerin hatte sie jederzeit zu uns gekonnt. Aber gerade zu dieser Zeit erhielt sie die Genehmigung, wieder in die USA zu gehen und ihre wissenschaftliche Arbeit dort fortzusetzen Als sie 1966 wieder nach England kam, war sie bereits zu krank, um weitere Reisen zu unternehmen. Aber mein jüngster Bruder kam jährlich, später, bis zu seinem Tod 1988 sogar zweimal im Jahr, zu uns zu Besuch.

Als „Verfolgte des Naziregimes“ (VdN) genoß ich seit meiner Rückkehr aus der Emigration eine Reihe Vorzüge, die sich allerdings immer nach den in der SBZ bzw. DDR gegebenen Möglichkeiten richteten. Wir bekamen die Schwerarbeiterkarte, mehr war in den ersten Jahren gar nicht drin. Später wurde in jeder Kreisverwaltung bei der Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen ein Referat VdN eingerichtet, wir wurden jährlich gründlich untersucht, es gab vorbeugende Kuren in speziellen VdN-Heimen und schließlich eine, sich in der Höhe auch nach den gegebenen Möglichkeiten richtende, Ehrenpension für Kämpfer gegen den Faschismus und für Verfolgte des Naziregimes. Dabei lag diese Rente für „Kampfer“ stets etwas höher als für „Verfolgte“ - in den letzten Jahren um dreihundert Mark. Ich hielt das allerdings für berechtigt, nach allem was ich über Konzentrationslager wußte, schien mir selber die Emigration, trotz aller Erschwernisse, damit nicht vergleichbar. Wenn aber bei der Beratung über die Entschädigungsrente im Bundestag 1992 ein Abgeordneter der CDU/CSU-Fraktion behauptete, daß „zur Erlangung dieser Pensionen eine besondere Staatstreue, ja sogar die Verdienstmedaille des Arbeiter- und Bauernstaates die Voraussetzung war“ (Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode, Drucksache 12/2224), so ist das ausgemachter Blödsinn. Bei einer Untersuchung in Berlin stellte der Arzt meine nervlichen Probleme fest, schickte mich zum Psychiater, und ich erhielt fortan eine Teilrente von 50 Prozent der vorgesehenen Rente. Die Verdienstmedaille der DDR habe ich übrigens nie bekommen!

Ich fuhr alle zwei bis drei Jahre zu einer prophylaktischen VdN-Kur, zu der mich mein Mann begleiten konnte, und als unser Ältester schließlich das Studium aufnahm, erhielt er als Sohn einer anerkannten Verfolgten des Naziregimes monatlich 100 Mark der DDR als Zusatz zu seinem Stipendium, die er, der inzwischen Vater von drei Kindern war, gut gebrauchen konnte.

Ich hatte ursprünglich die Absicht gehabt, in Berlin eine Weile nicht arbeiten zu gehen, mich nur meinem Haus und dem Garten zu widmen. Ich stellte aber sehr schnell fest, daß ich dafür nicht geschaffen war, und bereits nach wenig mehr als einem Monat bemühte ich mich um eine Lehrerstelle am Institut für Lehrerbildung. 1966 bekam ich die Möglichkeit, wieder an einer Parteischule der SED zu unterrichten.

Mein Mann, der in Berlin kurze Zeit im Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen, dann am Zentralinstitut für Arbeitsmedizin der DDR und im Ministerium für Gesundheitswesen gearbeitet hatte, wurde 1970 an die Karl-Marx-Universität Leipzig als Ordentlicher Professor und Direktor des Instituts für Arbeitsmedizin berufen. So kamen wir zurück nach Leipzig, wenn uns auch die meisten unserer Bekannten rieten, das Haus in Müggelheim nicht aufzugeben. Aber ich hatte nicht die Absicht, allein in Berlin zu bleiben - unsere Kinder waren inzwischen verheiratet - und wir tauschten das Haus, in dem wir ja Mieter waren, gegen eine Wohnung in Leipzig. Beruflich änderte sich für mich nicht viel, anstatt an der Bezirksparteischule Berlin arbeitete ich nun an der Bezirksparteischule Leipzig.

In verschiedener Hinsicht aber spürten wir doch gravierende Unterschiede zwischen Berlin und Leipzig. Wir hatten uns nie besonders als „Hauptstädter“ empfunden und uns darauf gefreut, wieder nach Leipzig zurückzukehren. Jetzt aber stellten wir hier eine Provinzialität fest, die uns früher nie aufgefallen war. Meine Mutter hatte uns 1965 über Genex ein Auto geschenkt, einen Renault. Damit fuhr mich mein Mann zur Bezirksparteischule, damit fuhr er zum Ministerium für Gesundheitswesen - nie nahm irgend jemand Anstoß daran, daß es sich um einen französischen Wagen handelte. Anders in Leipzig, hier wurde mir sofort vorgehalten, wie ich als Parteischullehrerin einen Westwagen fahren könne. Ich hatte in Berlin, nachdem unser ältester Sohn sein Studium für ein Jahr ausgesetzt hatte, das VdN-Referat nicht von der Wiederaufnahme seines Studiums benachrichtigt. Daraufhin wurde ich von dort angerufen und auf dieses Versäumnis aufmerksam gemacht. In Leipzig wurde ich gefragt, (nicht vom Referat VdN) ob ich es für richtig halte, daß ein junger Mann, der nicht mein leiblicher Sohn sei (ich hatte ihn allerdings, seit er zwölf Jahre alt war, großgezogen) von der Tatsache, daß ich vor den Nazis hatte fliehen müssen, profitiere. Das „Lustigste“ (jedenfalls im Rückblick betrachtet) war die Sache mit den Tapeten. Da sich in Leipzig meine endogenen Depressionsanfälle wieder häuften, riet uns der Arzt, eine Wohnung außerhalb des Stadtgebiets zu suchen. Wir fanden schließlich ein 1935 in einer Arbeitslosensiedlung von den Arbeitslosen gebautes Haus in Großpösna. Die Handwerker, welche die Renovierungsarbeiten für uns durchführten, wiesen uns darauf hin, daß die Wände unseres Hauses innen mit einer weichen, dicken Pappe isoliert seien, die bereits überall Risse aufweise, die eine einfache Tapete nicht verdecken könne. Ob es uns nicht möglich sei, Rauhfasertapeten zu bekommen. Mein englischer Bruder stellte fest, daß diese Tapeten bei Genex nicht geführt wurden und bat, ohne sich mit mir zu beraten, einen entfernten, mir gänzlich unbekannten Verwandten in Westdeutschland um Hilfe. So erhielt ich eines Tages ein großes Paket Tapeten aus Stuttgart und kurz darauf einen erklärenden Brief meines Bruders. Daß wir unser Haus mit Westtapeten vorrichten ließen, brachte mir eine ähnliche Flut von „Aussprachen“ ein wie 1953 an der Uni. Ich war gerade für die Verdienstmedaille der DDR vorgeschlagen worden - der Vorschlag wurde sofort zurückgezogen.

Aber in all diesen kleinlichen Problemen habe ich, um noch mal auf mein Gespräch im Café Centra zurückzukommen, nie einen Anlaß gesehen, den „Osten“ zu verlassen.

Sehr interessante Begegnungen hatte ich während meines Lebens in der DDR mit Menschen aus den verschiedensten Erdteilen. Ich komme darauf zurück, weil heute über den untergegangenen deutschen Staat die Lüge verbreitet wird, es hätte eine offizielle Ausländerfeindlichkeit bei uns gegeben. Anfang der fünfziger Jahre fand in Nigeria ein großer Bergarbeiterstreik statt. Unsere Regierung bot daraufhin an, einer Anzahl von Jugendlichen, Kindern von gemaßregelten oder umgekommenen Streikteilnehmern, ein kostenloses Studium bei uns zukommen zu lassen. Etwa 15 junge Afrikaner nahmen danach ein Studium an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Leipzig auf. Sie sprachen alle Englisch, aber kein Wort Deutsch. Sie erhielten den gleichen Unterricht wie die deutschen ABF-Studenten, allerdings in englischer Sprache und mit Schwerpunkt auf dem Erlernen der deutschen Sprache. Zufällig lernte ich zu dieser Zeit den Direktor der ABF kennen, und er schlug mir vor, den Unterricht in Gesellschaftswissenschaft auf Englisch zu übernehmen. Ich fand schnell ein gutes Verhältnis zu den jungen Menschen, und die Arbeit mit ihnen machte mir außerordentliche Freude. Besonders mit dem einzigen Mädchen der Gruppe, der damals sechzehnjährigen Jetunde, die später Medizin studierte, hielt die Freundschaft weit über die ABF-Zeit hinaus an. Das waren meine ersten Bekannten aus einem anderen Kontinent, seit ich nach Deutschland gekommen war - es blieben aber keineswegs die letzten.

1959 kamen indische Studenten nach Leipzig. Sie stammten aus Westbengalen, und meine in Kalkutta lebende indische Freundin hatte einem von ihnen einen Brief an mich mitgegeben. Ich erinnere mich noch, wie eines Tages mein Rainer ins Zimmer kam und sagte: „Mutti, da sind zwei schwarze Männer, die zu dir wollen.“ Nun, schwarz waren Subrata und sein Freund wirklich nicht. Die Freundschaft mit unserer Familie half ihnen, sich in Deutschland einzugewöhnen. Anfangs kamen sie fast jeden Sonntag zu Besuch, und wir gewöhnten uns schnell an die von ihnen zubereiteten indischen Speisen.

Indien war 1947 von Großbritannien unabhängig geworden und damals in zwei Staaten geteilt, das mehrheitlich hinduistische Indien und das mehrheitlich muslimische Pakistan. Zu Pakistan gehörte auch Ostbengalen, das mit dem westlich von Indien liegenden Hauptteil des Landes keine Verbindung hatte. In vieler Hinsicht behandelte die Regierung den bengalischen Teil wie eine Kolonie, und das führte Anfang der siebziger Jahre zu einem Kampf um Unabhängigkeit und schließlich zur Ausrufung des selbständigen Staates Bangla Desh (Land der Bengalen). Die DDR kam dem jungen Staat zu Hilfe, unter anderem dadurch, daß 16 junge Mädchen am Krankenhaus St. Georg in Leipzig eine Ausbildung als Krankenschwestern erhielten. Gerade zu dieser Zeit war meine indische Freundin Vidya mit einer Delegation der Nationalen Vereinigung Indischer Frauen als Gast des Demokratischen Frauenbundes Deutschland (DFD) in der DDR, sie besuchte mit mir das Krankenhaus, und die Mädchen waren begeistert, jemanden zu treffen, mit dem sie Bengalisch sprechen konnten. Von diesem Tag an hatten wir guten Kontakt zu den Mädchen, und vor allem die achtzehnjährige Noorjahan schloß sich uns so eng an, daß sie bald ständig bei uns wohnte und von uns aus täglich ins Krankenhaus zur Arbeit fuhr. Nach einiger Zeit folgte ihr eine zweite, Rokeya. Nun hatten wir zwei mohammedanische bengalische „Töchter“, und für fast zwei Jahre war Schweinefleisch von unserem Küchenzettel verbannt. Da die Mädchen meist das Kochen übernahmen, gewöhnten wir uns daran, vorwiegend Reis und überhaupt bengalische Gerichte zu essen. Über ein Wochenende besuchten wir mit ihnen die Familie unseres ältesten Sohnes in Thüringen, und unsere vier Enkel waren ganz begeistert von den fremdländischen älteren Freundinnen.

Die engsten und bis heute andauernden Beziehungen aber bestanden zur Tochter einer Bekannten meiner Freundin Vidya. Sie war in Dresden zur Ausbildung als medizinisch-technische Assistentin, konnte aber an die Leipziger Medizinische Fachschule wechseln und wohnte fast vier Jahre bei uns. Ihr Verlobter, der an der Hochschule für Polygraphie in Leipzig studierte, war in dieser Zeit sehr oft bei uns zu Besuch, und so hatten wir wieder zwei bengalische Kinder, diesmal allerdings keine Muslime. Obwohl sie der Herkunft nach Hindus waren, hatten sie keine Hemmungen, Rindfleisch zu essen, es gab also keine Tabus für unsere Mahlzeiten, trotzdem aber sehr häufig indisches Essen. Während uns in Deutschland selbst Vierzehnjährige gewöhnlich mit Rahel und Ernst ansprechen, wäre es für indische Jugendliche ganz undenkbar, ältere Menschen beim Vornamen zu nennen. So waren wir - und sind bis heute - für Chitra und Bhaskar Tante und Onkel und für ihre beiden Kinder „Tante-Oma“ und „Onkel-Opa“.

Mit all diesen ausländischen Freunden und „Adoptivkindern“ erlebten wir zwischen 1950 und 1980 nie irgendwelche Ausländerfeindlichkeit. Unsere Kinder, Enkel und heute auch Urenkel betrachten Freundschaft mit dunkelhäutigen Menschen als etwas ganz Selbstverständliches. Unser sechzehnjähriger, sehr schreibfreudiger Urenkel Christian unterhält einen regen Briefverkehr mit Chitras Tochter Bhaswati, die er während ihres Besuches bei uns 1998 kennenlernte und mit dem gleichaltrigen Enkel meiner Freundin, mit dem ihn eine Brieffreundschaft verbindet.

Um noch einmal auf den Ausgangspunkt meiner Betrachtungen zurückzukommen: ich hatte, trotz mancher Schwierigkeiten, keinen Anlaß, den „Osten“ zu verlassen.

Rahel Springer


vorhergehender Beitrag

Inhaltsverzeichnis

nächster Beitrag