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Sportwunder DDR? 

Ein Wunder war es eigentlich nicht, daß ich 1967 Direktor der Kinder- und Jugend-Sportschule (KJS) Leipzig wurde. Nach einem Geschichts- und Sportstudium, nach fast zehnjähriger Arbeit als Direktor von erweiterten und polytechnischen Oberschulen, nach vierzig Jahren eigener aktiver sportlicher Betätigung als Turner, Leichtathlet und Fußballer (zeitweise in der höchsten Spielklasse) schien mir meine Berufung nicht ganz abwegig. Auch Freunde meinten: „Diese Aufgabe ist dir auf den Leib geschrieben.“

Vom Kollegium der KJS Leipzig wurde ich dagegen anfangs recht kühl empfangen: Ein Unbekannter, noch dazu aus Halle, keiner der bisherigen Stellvertreter ... Aber allmählich begann sich die Skepsis zu legen. Und spätestens, als wir nach gründlicher Analyse der noch nicht ganz zufriedenstellenden „Leipziger“ Ergebnisse bei den Olympischen Spielen von 1968 einen „Zahn zulegten“, d. h. unsere eigene Arbeit, aber auch die Zusammenarbeit mit den Sportclubs noch planmäßiger, differenzierter und effektiver gestalteten, zogen wir nach besten Kräften alle an einem Strang.

Insgesamt gesehen, gehörten die sieben Jahre an der Leipziger KJS zu den anstrengendsten, interessantesten und - bei aller Bescheidenheit - auch erfolgreichsten meiner beruflichen Laufbahn. Konnte ich doch unmittelbar erleben und im Kollektiv „meiner“ KJS dazu beitragen, daß die DDR (mit nur 17 Millionen Einwohnern!) auch durch die herausragenden Leistungen ihrer Sportler zunehmend an internationaler Aufmerksamkeit und Anerkennung gewann.

Spätestens während der Olympischen Sommerspiele 1972 in München mußten selbst die Ignorantesten BRD-Politiker und -Kommentatoren die Existenz der Deutschen Demokratischen Republik zur Kenntnis nehmen; denn sie errang in der Nationenwertung nach der UdSSR und den USA den dritten Platz und verwies die BRD mit großem Abstand auf Platz vier. Unsere Athleten brachten aus der bayerischen Metropole 66 Medaillen (darunter 20 Goldmedaillen) mit nach Hause - und mehr als ein Viertel davon gehörten den Sportlern der Kinder- und Jugendsportschule „Ernst Thälmann“ Leipzig!

Internationale Fachleute sprachen anerkennend vom „Sportwunder DDR.“ Andere, die uns nicht wohlwollten, verleumdeten die KJS als „reine Medaillenschmieden“ Was hatte es damit auf sich?

Die Kinder- und Jugendsportschulen der DDR wurden Ende der fünfziger Jahre gegründet und entstanden dort, wo Sportclubs existierten. Beispielsweise arbeitete unsere Schule mit folgenden Clubs zusammen: SC DHfK (Hochschule für Körperkultur), SC Leipzig, 1. FC Lokomotive Leipzig (Fußball), Armeesportclub „Vorwärts“ und SC der GST (Gesellschaft für Sport und Technik).

Die KJS der DDR waren zweifellos „ein Ding für sich“, und die in Leipzig ein ganz besonderes, schon allein wegen ihrer einmaligen Dimension. Bei uns lernten und trainierten nämlich rd. 1.300 junge Sportler, die von 65 Pädagogen, 38 Internatserziehern und zwei Dutzend technischer Arbeitskräfte betreut wurden. Auch unser Elternbeirat war mit 30 bis 35 Persönlichkeiten ungewöhnlich stark besetzt.

Aufgenommen wurden an der Leipziger KJS Nachwuchstalente für Leichtathletik, Schwimmen, Wasserspringen, Turnen, Künstlerische Gymnastik, Rudern, Kanu, Boxen, Ringen, Judo, Sportschießen, Handball, Volleyball und Fußball.

Vorausgegangen war eine gründliche Sichtung dieser sportlicher Talente in den allgemeinbildenden Schulen nach einem an der DHfK erdachten Sichtungs- und Förderungssystem. Wenn geeignete Schüler Interesse an einer sportlichen Weiterentwicklung hatten, kamen sie mit Zustimmung der Eltern in allgemeine Übungsgruppen, aus denen die Befähigtsten dann in (bereits vorsichtig sportartspezifisch arbeitende) Trainingsgruppen übernommen wurden. Wer dort zu den Besten gehörte, wurde zum geeigneten Zeitpunkt für einen der Sportclubs und damit auch für uns vorgeschlagen. Beispielsweise nahm die Sektion Turnen Zehnjährige auf, Schwimmer und Leichtathleten waren ein bis zwei Jahre, Ruderer in der Regel vier Jahre älter. In der letztgenannten Sportart wurden allerdings „Nachsichtungen“ durchgeführt, denn die körperliche Eignung für Rudern war bei vielen Jugendlichen erst später erkennbar. Sogar Heinz Quermann gewann in einer seiner Fernsehsendungen zwei sechzehnjährige „Recken“, die danach bei uns lernten, im Sportclub der DHfK trainierten - und Olympiasieger im „Vierer/mit“ wurden.

Wichtige Kriterien für die Aufnahme waren außer der körperlichen Eignung die geistigen und vor allem die charakterlichen Voraussetzungen des Bewerbers. Wenn das Persönlichkeitsbild stimmte, sahen wir auch schon mal über eine schwächere Note in einem Fach hinweg.

Eine Bedingung wurde strikt eingehalten:. Bewerber mit nahen Verwandten in der BRD nahmen wir nicht auf. Denn während des Kalten Krieges waren derartige Beziehungen nicht nur zur gezielten Abwerbung unserer Spitzenkönner, sondern auch dazu mißbraucht worden, im Interesse der Sportspionage tiefere Einblicke in den Leistungssport der DDR zu gewinnen.1 Dagegen waren die soziale Herkunft und Religionszugehörigkeit der Kinder ebenso Nebensache wie Bildungsgrad, politische Bindung oder Einkommensverhältnisse der Eltern. Als sich bei den Olympischen Sommerspielen 1972 einer unserer Abiturienten einen 6. Platz vom Himmel schoß, wußten wir, daß er nach dem Architekturstudium Kirchen bauen wollte. Aber wir hatten ihn trotzdem zum Studium delegiert. Und im übrigen hielten wir es so: Jeder mußte vorher wissen, ob er sonntags zum Sportwettkampf oder zum Gottesdienst gehen würde. Jedenfalls konnte niemand ohne die sportliche Leistung im Wettkampf Spitzenathlet werden.

Wir brauchten jedes Talent, nahmen allerdings besonders gern Kinder auf, die noch einige Geschwister hatten - wegen des Nachahmungseffekts. Es gab weder eine Schulgeldzahlung, noch entstanden den Eltern Kosten für die Unterbringung im Internat. Schulbücher waren kostenlos für alle - von Klasse 1 bis 12. Auch die Verpflegung durch die Küche der KJS kostete die Eltern keinen Pfennig. Die Sportkleidung wurde von den Sportclubs zur Verfugung gestellt.

Großen Wert legten wir darauf, daß sich unsere „Zukünftigen“ bereits vor ihrer Einschulung darüber klar waren, was sie im Sport erreichen wollten, mit anderen Worten. Wir setzten auf Zielstrebigkeit von Anfang an. Als ich einen der Steppkes bei seiner Aufnahme fragte, was er werden wolle, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen: „Weltmeister!“ In der Tat, er wurde es: Weltbester im Pferdsprung. Allerdings war es ein weiter und harter Weg bis dahin. Zu Beginn bekam der Bube erst mal Heimweh. Mit zehn Jahren weg von Mutti und Vati und vom kleinen Schwesterchen. Mit drei fremden Jungen in einem Zimmer. Schon schwer, denke ich. Um eine derartige Krise zu überwinden, war eine warmherzige, mütterliche Erzieherin vollauf gefordert, da wurde die elterliche Hilfe ebenso unentbehrlich wie die der Lehrer und Trainer. Aber alle zusammen schafften wir es auch in diesem Fall. (Übrigens wohnten in unserem Internat nur auswärtige Schülerinnen und Schüler. Ortsansässige Jungen und Mädchen lebten selbstverständlich bei ihren Familien.)

Allerdings erwarteten wir von den Jungen und Mädchen nicht nur eine klare Vorstellung von ihren sportlichen Zielen, sondern auch unbedingte Ehrlichkeit. Da gab es einmal eine böse Sache mit einer hochtalentierten Schülerin. Sie war damals vierzehn Jahre alt und stahl einer Zimmergefährtin eine Strumpfhose. Der Tat überführt, wurde sie für ein Jahr Bewährung aus Sportclub und Schule ausgeschlossen. Zu Hause besuchte sie die örtliche POS, trainierte weiter und bewährte sich. Danach kam sie zu uns zurück und wurde einige Jahre später in ihrer sehr schweren Sportart europäische Vizemeisterin.

Natürlich verlangten wir von den Kindern und Jugendlichen auch eine Lebensweise, die streng ihrem sportlichen Ziel diente. Aber beispielsweise verzichteten unsere zierlichen Turnkinder schon freiwillig auf manches Eis und manches Stück Kuchen. Sie waren ja ehrgeizig, wollten gesellschaftliche Anerkennung erringen, unbedingt eines Tages auch „auf dem Treppchen“ stehen und wußten, daß sich jede Gewichtszunahme verheerend auf ihre Leistungen auswirken konnte.

Wir forderten also Selbstbeherrschung, Selbstdisziplin - jawohl, eiserne Disziplin -, aber trotzdem gab es an unserer Schule weder Kadavergehorsam noch Drill. Denn mit solchen Methoden werden keine schöpferischen Kräfte für die Erreichung hoher Lebensziele freigesetzt. (Das wußte ich selbst nur zu gut - ich war Kind und Jugendlicher im Nazistaat gewesen und hatte meine wichtigsten Lebenserfahrungen an den Fronten des Zweiten Weltkrieges sammeln müssen.) Bei einigen Vertretern der Clubs und der Wissenschaft traf meine Auffassung vom offenen Umgang mit unseren Talenten nicht immer auf Verständnis. Aber diese nutzten meine Einstellung, redeten sich ihre Sorgen vom Leibe und schreckten ohne Ansehen der Person auch nicht davor zurück, schlechten Unterricht zu kritisieren oder einen barschen Umgangston zur Sprache zu bringen.

Ehrlichkeit und hohe Disziplin mußten natürlich ebenso von Lehrern und Ausbildern verlangt werden. Von ihrer Vorbildwirkung hing sehr viel ab. Deshalb trennten wir uns rigoros von einem der Lüge überführten Lehrer. Normalerweise setzte ich allerdings auch den Kollegen gegenüber nicht auf einen „harten“ Führungsstil, sondern bemühte mich vor allem ums Zuhören - der Köchin genauso wie der Erzieherin.

Zu Beginn der siebziger Jahre wurde es für unser Leitungskollektiv besonders spannend, als unsere KJS einen Neubau in der Marschnerstraße bekam. Er wurde von Anfang an von uns Pädagogen, sowie von Sportfachleuten, Eltern und Schülern mitgestaltet. Denn woher sollte der Architekt wissen, welche Bedingungen für die Erziehung und Ausbildung von Weltklassesportlern notwendig waren? Internationale Erfahrungen lagen kaum vor. Die Vorfreude auf dieses perfekte Haus multiplizierte bei uns allen die Lust an der Arbeit. Allerdings beobachteten wir mit Beginn des Innenausbaus Autos mit Kennzeichen, die nicht in der DDR ausgegeben worden waren, und wußten: Die Sportspionage hatte aufzuklären, was sich da tat.

Nach allen mit dem Bau verbundenen gemeinsamen Aufregungen und Mühen konnten wir dann endlich eine hochmoderne, zweckmäßige und schöne Einrichtung übernehmen, in der die Arbeit noch mehr Freude machte. Auch unser Internat mit einer Kapazität von reichlich 200 Plätzen befand sich nun unmittelbar neben dem Schulhaus. Anderswo standen weitere 200 Betten zur Verfügung, und alle immer schön getrennt nach Weiblein und Männlein. (Ich bin mir allerdings nicht sicher, daß das nächtlicherweise auch immer so blieb. Denn trotz der hohen physischen und psychischen Belastung verloren unsere Mädchen und Jungen nie die Lust am Leben. Nach einer Abiturienten-Entlassungsfeier „beichtete“ mir denn auch eine bildhübsche Schwimmerin, daß sie in den letzten Wochen schon immer „für zwei“ hätte schwimmen müssen.)

Die Klassenfrequenzen waren ganz unterschiedlich. In den 5. bis 8. Klassen überstiegen sie nie die Zahl 24. Danach wurde der eine oder andere Schüler - meist wegen fehlender sportlicher Perspektive - vom Leistungssport entbunden. In diesem Zusammenhang gab es gelegentliche Auseinandersetzungen mit Trainern, weil deren Sorgfalt bei der Überwachung des sorgfältigen Abtrainierens nachließ. Denn nur so können durchtrainierte Organismen zu den früheren organischen Verhältnissen zurückfinden, ohne Schaden zu erleiden. Natürlich spürten wir nicht nur in dieser Frage, daß die Sportwissenschaft immer stärker auf die Entwicklung Einfluß nahm. Ihre interdisziplinäre Zusammenarbeit, ihre Einwirkung auf die Gestaltung von Unterricht und Training, auf Aktive (und gelegentlich auch auf Eltern) wirkte sich unglaublich fruchtbringend aus.

Die Mädchen und Jungen der KJS Leipzig wurden in einer eigenen medizinischen Praxis regelmäßig vorbeugend untersucht. Alle notwendigen Voraussetzungen dafür waren vorhanden. Von der zu meiner Zeit (1967-1974) praktizierenden Ärztin wurden die erforderlichen Überweisungen an Fachmediziner vorgenommen. Ich hatte mit ihr regelmäßig einmal in der Woche ein Informationsgespräch; bei besonderen Vorkommnissen fanden die Konsultationen sofort statt. Doping- oder Drogenprobleme sind in diesen Jahren niemals aufgetreten. Auch in Gesprächen mit Eltern, den Aktiven selbst, Lehrern oder Trainern und den Mitarbeitern im Internat spielten solche Fragen keine Rolle. Ich habe auch nie von Erkrankungen gehört, die auf die Einnahme unerlaubter Mittel schließen ließen.

Vom 9. Schuljahr an sanken die Frequenzen in den jeweiligen Klassen, d. h. Sportarten, unterschiedlich.2 In der Abiturstufe hatten wir dann oft nur noch zwei bis zehn Schüler. Es gab auch Unterricht für einzelne „hochkarätige“ Könnerinnen und Könner. Bootsbesatzungen beschulten wir gemeinsam, manchmal nach Sonder-Unterrichts-Programm (z. B. die „Quermann-Burschen“ und drei weitere). Solche Miniklassen verlangten vom Lehrer eine pedantische Vorbereitung des Unterrichts. Anschaulich und lebendig mußte er sein, individuell angelegt, durfte nicht ermüden. Für Lernende und Lehrende war diese Methode sehr anstrengend. Es ist einleuchtend, daß es dafür keine DDR-gültige Direktive geben konnte.

Für den Fachunterricht existierten - wie überall - verbindliche Lehrpläne. Wir betrachteten sie allerdings nur als „Leitlinie“, nicht als Dogma. Sie mußten insgesamt erfüllt werden, aber jeder Pädagoge konnte den Unterricht nach seinen eigenen Ideen gestalten. Damit wurden viele schöpferische Kräfte freigesetzt. Manchmal akzeptierten wir im Sinne der „Leitlinientheorie“ sogar Kürzungen des Lehrplanes, der ohnehin vor Fülle oft überquoll. Das nannten wir augenzwinkernd „heroische Amputation“. Zu unserer eigenen „Gesetzgebung“ gehörte es auch, dem Schüler jede Note einleuchtend zu begründen und keine schriftliche Kontrolle ohne vorherige Ankündigung zu schreiben. Wissen wollten wir überprüfen, nicht Unwissen!!

Mit Fahnenappellen gingen wir sparsam um. Drei waren obligatorisch: Zum Gründungstag der DDR, zum Tag der NVA und zum Gedenktag für die Opfer des Faschismus. Sonst wurden unsere Fahnen nur nach den höchsten internationalen Sportwettkämpfen gehißt. Wir ehrten unsere Teilnehmer - nicht nur die Medaillengewinner - und sagten unseren Schülern: Seht sie euch an, die Besten der Besten. Das sind eure Vorbilder, Mädchen und Jungen der KJS!

Es mag Ausnahmen geben; aber bei den meisten der heutigen Weltklasseathleten liegt die wichtigste Motivation für die Quälerei im Hochleistungssport zweifellos in den hohen Startgeldern und den noch höheren Siegesprämien. Das war in der DDR anders. Unsere Spitzensportler von damals bekamen gewiß schneller einen „Wartburg“ als der „Normalbürger“, vielleicht auch „ihre“ Wohnung oder den ersehnten Studienplatz. Großen Anreiz bot natürlich auch die Aussicht auf Auslandsreisen - nicht nur in den europäischen Westen, sondern auch zum amerikanischen Kontinent und in den Fernen Osten. Unbestreitbar aber ist, daß unsere Besten vor allem stolz darauf waren, außer sich selbst auch ihren Club und ihr Land zu repräsentieren. Es war schon ein großes Erlebnis für jeden von ihnen, als die Olympiamannschaft zum ersten Mal hinter der Fahne unseres Landes ins Stadion einzog. Und daß die Nationalhymne der DDR bei der Siegerehrung manchem Sieger die Tränen in die Augen trieb, war nur zu verständlich.

Wir erzogen an unserer KJS allseitig gebildete junge Persönlichkeiten, die hohes Wissen besaßen, zum eigenständigen Erwerb von Wissen befähigt waren und ausgeprägten Leistungswillen bewiesen. Sie lernten, die eigene Leistung in der Schule und in ihrer Sportdisziplin zu beurteilen, Mängel zu erkennen und möglichst selbst zu beheben. Im Kollektiv von gleichgesinnten Lern- und Leistungswilligen entwickelte sich in besonderem Maße ihre Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik. Erwiesenermaßen hatten unsere Schüler in ihrer Persönlichkeitsreife gegenüber den Gleichaltrigen anderer allgemeinbildender Einrichtungen einen Vorsprung von etwa zwei Jahren.

Trotz der spürbaren Erfolge suchten wir ständig neue Wege. Im Mittelpunkt sämtlicher pädagogischen, unterrichtlichen und trainingsmethodischen Aktivitäten mußte immer der Auszubildende entsprechend seines Persönlichkeitsbildes stehen. Mit diesem Ziel bauten wir ein Schüler-Trainer-Lehrer-Eltern-Verhältnis auf. Dazu gehörte auch, daß vor allem die Klassenleiter Sportwettkämpfe ihrer Schüler aufsuchten. Damit bekundeten sie ihr Interesse, gewannen Einblick in die jeweilige Sportart und kamen den Schülern - sowie manchen der bei den Wettkämpfen anzutreffenden Eltern - menschlich näher.

Besondere Anstrengungen unternahmen wir, den Fachunterricht nicht abstrakt durchzuführen, sondern ihn möglichst eng mit den sportlichen Aufgaben zu verbinden. Bei der Hospitation in einer Russischstunde hatte ich nämlich erlebt, daß den Jungen das russische Wort für „Rudern“ nicht bekannt war. Da saß aber eine 11. Klasse junger Ruderer vor mir! Obwohl ich sozusagen „mit langer Leine“ leitete, mir geduldig vieles anhörte und auch annahm - diesmal erhielt der Lehrer nicht das erste Wort. Er leitete unseren Fachzirkel „Russisch“ und bekam von mir den Auftrag, seinen Kollegen mitzuteilen, daß ab sofort auch das Sportvokabular der sowjetischen Sportfreunde zu vermitteln sei. Gleiches veranlaßte ich für Englisch. Nach Diskussion im Pädagogischen Rat wurde dann auch meine Anweisung akzeptiert, möglichst in allen Fächern sinnvolle, d. h. lebensnahe und aktuelle Beziehungen zu den Sportarten herzustellen, in denen die jeweiligen Schüler trainierten.

Die Kompliziertheit der Aufgaben verlangte von unserem Pädagogenkollektiv eine angestrengte, straffe Arbeit, in der für Intrigen und bösartiges Konkurrenzdenken kein Platz war. Unsere Anstrengungen waren auf optimale Erfolge für die weiblichen und männlichen Athleten sowie für unser Land gerichtet. Da es in unserer Arbeit niemals um Profit ging, Geld als Anerkennung für Erfolge eine untergeordnete Rolle spielte, waren wir unbefangen und vorurteilslos - eben eine solide und gefestigte Gemeinschaft. Nur ein Drittel der Pädagogen (einschließlich der Internatserzieherinnen) gehörte der SED an. Es gab auch Mitglieder anderer Blockparteien. Gewerkschaftlich waren wir alle organisiert und mehr als die Hälfte Mitglieder der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft. Das Durchschnittsalter lag bei dreiundvierzig Jahren. Aber auch unsere Damen und Herren über Sechzig wirkten inmitten dieser höchst lebendigen Schülerschaft sowie der jüngeren Kolleginnen und Kollegen noch recht jugendlich. Den Fachzirkel „Deutsche Sprache und Literatur“ leitete ein ausgesprochener Fachmann. Dieser parteilose, modische und insgesamt etwas extravagante Kollege war gleichzeitig für die Anleitung der Deutsch-Zirkelleiter aller KJS der DDR verantwortlich. Dabei ist Deutsch zweifellos ein außerordentlich weltanschaulich bestimmtes Fach. So etwas gab es eben auch bei „Thälmanns“.

Natürlich waren wir, das hart und mit Hingabe arbeitende Kollektiv der KJS „Ernst Thälmann“ Leipzig, unglaublich stolz, als wir 1973 den Vaterländischen Verdienstorden in Bronze erhielten. Aber unsere Erfolge waren eben auch nicht von der Hand zu weisen.

Immer deutlicher spürten wir die Wirkung unseres geduldigen Sichtungs- und Förderungsverfahrens. Anzahl und Qualität des Nachwuchses stiegen auch in den Folgejahren kontinuierlich an. Und noch heute zehrt der Leistungssport dieser jetzigen Republik von unserem System zur Entwicklung sportlicher Talente. Das ist nicht wegzudiskutieren. Deshalb wird auch - nachdem die KJS jahrzehntelang als „Medaillenschmiede“ verleumdet wurden - heute wieder nach dieser Art Schule gerufen.

Konnte oder kann es sie in ähnlicher Form in der BRD geben? Ich behaupte: Nein. - Und gab es in der DDR wirklich ein „Sportwunder“? Abermals nein! Beide Fragen hängen eng zusammen, und die Antworten weiß ich aus eigener Anschauung, seit ich die KJS Leipzig verließ, um eine andere pädagogische Aufgabe zu übernehmen. Denn alle Träger der leistungssportlichen Entwicklung arbeiteten hingebungsvoll und wissenschaftlich begründet. Wir haben großartige Persönlichkeiten erzogen und ausgebildet. Aber wir konnten uns auch frei entfalten und unterlagen zu keiner Zeit dem Druck des Kapitals. Unsere Arbeit war allgemein hoch geachtet und wurde von der Vision einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft getragen. Und, obwohl wir unser Ziel nicht erreichten, wissen wir es besser als die Medienwelt, die unsere „Diplomaten im blauen Trainingsanzug“ bestaunte, bewunderte und beschimpfte: Wir wissen, daß es die gesamtgesellschaftlichen und vor allem die sozialökonomischen Grundlagen unseres Landes waren, die das „Sportwunder DDR“ hervorbrachten. Und deshalb wird es in dieser BRD niemals Kinder- und Jugendsportschulen geben, die sich mit denen der DDR messen können.

Wolfgang Ahrens


1 Allerdings konnte trotzdem nicht verhindert werden, daß einige in die BRD übergetretene Sport-Wissenschaftler, Sportärzte und Techniker unsere Trainingsmethoden dort ausplauderten. Und auch Sportlerinnen und Sportler, die unser Land verließen, obwohl sich herumgesprochen hatte, daß sie mit den „altdeutschen“ Verhältnissen nicht zurechtkommen würden, trugen leider dazu bei. Seit dieser Zeit war die Sperre für Talente mit Verwandtschaft in der BRD unsinnig, weil wir keine sportlichen Geheimnisse mehr hatten. Leider hielten die zentral Verantwortlichen weiter daran fest.

2 Wir strebten an, daß in jeder Unterrichtsklasse möglichst nur eine Sportart vertreten war. Gelegentlich gab es Kombinationen artverwandter Disziplinen, besonders, wenn der Trainingsrhythmus übereinstimmte.


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