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Zur
Arbeiter-und-Bauern-Fakultät
Mein Studium und meine Lehrtätigkeit an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF) in Halle haben meine politische und persönliche Entwicklung bis heute entscheidend mitgeprägt. Wie war das damals?
Im Gründungsjahr der DDR studierte ich bereits ein Jahr an der Philosophischen Fakultät der Martin-Luther-Universität in Halle. Ich erinnere mich noch gut an meine erste Zwischenprüfung in Literatur, nach der Professor F. J. Schneider baß erstaunt war, daß ABF-Studentinnen auch etwas konnten und durchaus nicht die schlechtesten Ergebnisse erzielten. Für die Professoren älter Schule war der Umgang mit uns natürlich Neuland - man begegnete uns mit vielen Vorbehalten; denn unser bisheriger Bildungsgang war nach bürgerlichen Vorstellungen tatsächlich ungewöhnlich und neu.
1946 waren auf Beschluß der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) an den Universitäten der sowjetischen Besatzungszone mit ihrer Wiedereröffnung nach dem Zweiten Weltkrieg auch Vorstudienanstalten bzw. Vorsemester (die späteren ABF) eingerichtet worden. Sie waren - ebenso wie die antifaschistisch-demokratische Schulreform 1946, mit der für alle Kinder die achtklassige Schulausbildung gesichert wurde - die ersten Schritte, um das bürgerliche Bildungsprivileg zu brechen. Wie schon der Name sagt, wurden diese Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten geschaffen, um Kindern aus sozial benachteiligten Schichten und antifaschistischen Elternhäusern Möglichkeiten zu geben, die Hochschulreife zu erwerben.
Ich selbst stamme aus einem antifaschistischen Elternhaus. Mein Vater war 1944 wegen „Wehrkraftzersetzung“ vom Volksgerichtshof angeklagt worden, saß im Halleschen Zuchthaus, dem „Roten Ochsen“, in Untersuchungshaft und entging dem sicheren Todesurteil nur dadurch, daß der Hauptzeuge, ein SS-Offizier, zur Verhandlung nicht erschien; er war offenbar an der Ostfront verschollen. Die antifaschistischen Positionen meines Vaters haben auch für meine politische Entwicklung den Grundstein gelegt. Durch die Freie Deutsche Jugend wurde ich zur ABF delegiert. Mein alter Lehrer hatte mich gut auf die Aufnahmeprüfung vorbereitet: Erstmals machte er mich mit Lessings „Nathan der Weise“ bekannt, erschloß mir als einer Siebzehnjährigen den humanistischen Gehalt dieses Dramas. Im Aufnahmegespräch waren diese Gedanken dann das Hauptthema.
So wie ich nutzten damals viele junge Menschen diese neue Chance. Die ersten Jahrgänge der ABF-Studenten (ich studierte von November 1946 bis März 1948) waren bunt zusammengewürfelt was Alter, bisherigen Bildungsgang, Herkunft und Ziele anbelangte. Auch viele Umsiedlerkinder, viele Neulehrer erhielten auf diese Weise eine Bildungs- und Lebensperspektive. Uns einte aber eine starke Motivation für das Studieren: Uns wurde das Tor zur Wissenschaft aufgestoßen, wir lernten, Selbstbewußtsein zu entwickeln, Schwierigkeiten zu überwinden, fleißig und diszipliniert zu sein, solidarisch miteinander umzugehen und in dieser Aufbruchstimmung nach dem Kriege unsere Interessen zu vertreten. Deshalb haben später viele ABF-Absolventen erfolgreich in Lehre und Forschung, in Wirtschaft, Kultur und Politik gearbeitet. Ich habe damals gelernt, Bildung als ein Menschenrecht zu begreifen; in diesem Sinne habe ich dann auch ein Leben lang im Lehrerberuf gearbeitet.
Zunächst aber legte ich 1952 mein Staatsexamen ab und hatte den Wunsch und das Glück, an meine eigene Ausbildungsstätte, die ABF Halle, als Deutschdozentin zurückzukehren. Dort war ich bis 1960 tätig. Diese Jahre waren für mich erfüllt von ständigem Lernen; denn es klaffte schon eine Lücke zwischen meinem Universitätswissen und den schulpraktischen Anforderungen. Die Arbeit der Dozentinnen und Dozenten war in Fachgruppen organisiert; meine Fachgruppe Deutsch wurde von einem sehr erfahrenen Pädagogen geleitet, damals mindestens 50 Jahre alt, während ich als jüngste Lehrkraft gerade 23 Jahre alt geworden war. Der Erfahrungsaustausch über Unterrichtsvorbereitungen und viele gegenseitige Hospitationen zwischen den Kolleginnen und Kollegen waren unser täglich Brot, deren Auswertungen in den Fachzirkeln halfen mir in den ersten Jahren sehr, den Anforderungen der Lehrprogramme zu entsprechen. In den Fachzirkeln unterstützten sich die Fachdozenten, die in einem Studienjahr unterrichteten. Viele Stunden Vorbereitung waren nötig, um den Stoff auch methodisch so aufzubereiten, daß die vielen Deutschstunden in einer Woche (Literatur, Grammatik, Orthographie) für die Studentinnen und Studenten auch interessant wurden und sie anregten, ihre Kenntnisse in der Muttersprache selbständig zu verbessern. Viel Wert legten wir auf die Erziehungsarbeit in den Seminargruppen, die aber im wesentlichen von den Studenten selbst in die Hand genommen wurde. Denn ich gehörte in den ersten Jahren meiner Lehrtätigkeit mit zu den Jüngeren in meiner Seminargruppe, ein Teil der Studenten war bis zu zehn Jahren älter als ich, ihre Gruppendozentin. Das war manchmal gar nicht so einfach, es verschaffte mir aber auch einen guten Zugang zu ihren Problemen und Vorstellungen. Keiner wurde zurückgelassen, alle halfen sich gegenseitig. Mir hat diese Arbeit sehr viel Freude gemacht, weil diese jungen Menschen einen ähnlichen Entwicklungsweg wie ich gehen wollten, die so wie ich die Kriegs- und Nazizeit erlebt hatten, die z. T. bereits Berufserfahrung besaßen und wußten, was sie wollten. Viele Abende habe ich im Studentenwohnheim verbracht, weil es immer etwas zu besprechen, zu klären, auch zu schlichten gab. Im wesentlichen ging es um folgende Kernprobleme: Wie können wir im Kollektiv den Drang nach Wissen auch bei den Studentinnen und Studenten wachhalten, die noch wenig Erfahrung mit geistiger Arbeit haben? Wer kann wem in welchem Fach am besten helfen? Wie organisieren wir die Vorbereitungen auf die Zwischen- und Abiturprüfungen? Wer führt die nächste Buchlesung durch? Wer will im ABF-Kulturensemble mitarbeiten (Tanzgruppe, Spielmannszug, Chor etc.)? Wie bereiten wir uns auf den nächsten Ernteeinsatz vor?1 Die Freie Deutsche Jugend - alle Studenten waren Mitglied des Jugendverbandes - war die wichtigste Partnerin für mich als Gruppendozentin. Wir haben auch viel gemeinsam unternommen: Exkursionen, Theaterbesuche, Sportveranstaltungen. Unser Verhältnis zueinander war respektvoll und freundschaftlich, eine echte Partnerschaft.
Wenn ich mit meinen heutigen Erfahrungen diese Jahre der Lehr- und Erziehungsarbeit an der ABF in Halle bewerte, dann kann ich guten Gewissens sagen: Wir haben alle unser Bestes gegeben, Lehrkräfte und Studenten, wenngleich wir z. B. bei der Kontrolle des erreichten Wissensstandes vielleicht ein bißchen über das Ziel hinausschossen. Die Mehrzahl der Studentinnen und Studenten hatte drei Jahre Zeit, sich auf das Abitur vorzubereiten; die mit sehr guter Vorbildung zwei Jahre. Und am Ende des ersten und des zweiten Studienjahres wurden in einer größeren Zahl von Lehrfächern Zwischenprüfungen durchgeführt - Deutsche Literatur war immer dabei. Vor der mündlichen Zwischenprüfung war ein Prüfungsaufsatz zu schreiben. Die Korrekturen fraßen mich vor den Zwischenprüfungen fast auf, so daß die über zwei Wochen verteilten mündlichen Prüfungen wie eine Erholung erschienen. Alle waren wir glücklich, wenn wir es geschafft hatten! Die Sommerferien jedenfalls hatten wir uns redlich verdient.
Ein Vergleich des Niveaus der Bildungs- und Erziehungsarbeit mit der heutigen Schule muß uns nicht erröten lassen. Das Arbeitsklima war von gegenseitiger Achtung geprägt - sowohl zwischen den Lehrkräften als auch zwischen den Lehrkräften und den Studenten. Jeder war von dem Willen beseelt, das selbstgesteckte Ziel zu erreichen. Eine größere Zahl von Studentinnen und Studenten erreichte hervorragende Abiturergebnisse. Die in den zwei oder drei Jahren erworbene Fähigkeit, sich selbständig Wissen anzueignen, sich Selbständigkeit im Denken zu bewahren, Nachschlagewerke zu nutzen, das alles befähigte ABF-Absolventen, dann auch in den verschiedenen Studienrichtungen an den Universitäten und Hochschulen der DDR zu bestehen und später im gesellschaftlichen Leben eine herausragende Rolle zu spielen. ABF-Absolventen waren in den Jahrzehnten der DDR-Entwicklung ein wichtiger Bestandteil der Intelligenz unseres Landes.
Die politische Erziehungsarbeit, die an den Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten geleistet wurde, hat natürlich wesentlich dazu beigetragen, daß ihre Absolventen hohes Ansehen genossen. Die ABF waren eine Art „Kaderschmiede“ für die DDR-Entwicklung; gut ausgebildete junge Menschen wurden überall gebraucht - und besonders auch bei der Erneuerung des Hochschulwesens in der DDR spielten sie eine große Rolle.
Hinzu kam, daß die ABF von Beginn an den internationalistischen Gedanken der Arbeiterbewegung hochhielten; denn in Halle arbeitete auch die ABF II, eine eigenständige Einrichtung neben der Arbeiter-und-Bauern-Fakultat „Walter Ulbricht“. An der ABF II bereiteten sich sowohl ABF-Studentinnen und Studenten nach dem 2. Studienjahr als auch Oberschüler nach der 11. Klasse in nur einem Studienjahr auf ein Studium im sozialistischen Ausland vor. Die meisten wollten in der Sowjetunion studieren; aber auch Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, die Mongolei, die Tschechoslowakische Republik u. a. Länder waren Studienländer. Es waren durchweg gute Studentinnen und Studenten, die diesen Weg gehen wollten, und alle hatten verstärkt Fremdsprachenunterricht zu absolvieren. Es erfolgte auch eine zusätzliche Ausbildung in den Naturwissenschaften, wenn sie ein solches Studium favorisierten. Ich wurde im Oktober 1957 an die ABF II versetzt und habe dort bis 1960 als Deutschdozentin gearbeitet. Grund für diesen Wechsel waren politische Auseinandersetzungen im Lehrkörper der ABF II zu den Ereignissen in Polen und Ungarn 1956, die in der blutigen Niederschlagung der „Konterrevolution“ endeten. Einige Lehrkräfte der ABF II verteidigten die Reformbestrebungen in Ungarn und mußten deshalb diese Bildungsstätte verlassen.
Ich habe zu dieser Zeit noch nicht erkannt, daß der „Kalte Krieg“, der in den fünfziger Jahren zweifellos mit zunehmender Aktivität vom Westen aus gegen die sozialistischen Länder geführt wurde, nicht als Argument herhalten durfte, um innerparteiliche demokratische Entwicklungen in der SED zu ersticken. So wie mir ging es sicherlich vielen anderen ABF-Absolventen, die auch später als „Rückgrat“ der DDR-Intelligenz nur wenig oder kaum dazu beigetragen haben, die Verkrustungen in der SED durch innerparteiliche Auseinandersetzungen aufzubrechen und mit dafür zu sorgen, daß z. B. das Demokratiedefizit in der DDR abgebaut wurde. Doch über dieses Verhalten muß sich jeder selbst Rechenschaft ablegen.
Die politische Arbeit an der ABF II war deshalb von so hoher Brisanz, weil das Auslandsstudium es mit sich brachte, daß die Studentinnen und Studenten viel auf sich allein gestellt waren. Darauf mußten sie vorbereitet sein Zwar funktionierte ein Betreuungssystem des Ministeriums für das Hoch- und Fachschulwesen recht gut, aber viel Zeit blieb bei Hunderten von Auslandsstudenten natürlich nicht für individuelle Probleme. Da ging es vorwiegend um Studienangelegenheiten am Studienort und um den späteren Einsatz in den verschiedensten Wissenschaftsbereichen der DDR. Jeder Auslandsstudent brauchte deshalb ein hohes Maß an Persönlichkeitsreife - und deren Herausbildung zu unterstützen, war unsere Aufgabe. Es war eine doppelt anspruchsvolle Arbeit - einmal, was den Ausbildungsstoff anbelangte und das Erschließen seiner erzieherischen Potenzen, zum anderen aber auch das Anspruchsniveau an die Dozenten, das die Studentinnen und Studenten verlangten. Ich erinnere mich noch gut an Unterrichtsdebatten zu Goethes „Faust“, zu seinem Vermächtnis „ ... Ein Sumpf zieht am Gebirge hm ... Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß ... Auf freiem Grund mit freiem Volke steh’n ...“, die uns in philosophische Regionen führten, aber auch Pragmatisches erforderten. Es bereitete sehr viel Freude, solche Debatten zu führen, zeigten sie doch, in welch hohem Maße die Studentinnen und Studenten interessiert waren und was sie auch an Fähigkeiten entwickelt hatten. Natürlich war es auch an der ABF II erforderlich, trotz des hohen Grades an selbständiger Arbeit der Freien Deutschen Jugend, daß die Gruppendozenten ein hohes Maß an Zeit in den Studentenwohnheimen investieren mußten. Die meisten Studenten waren das erste Mal vom Elternhaus getrennt, und besonders die siebzehnjährigen Mädchen brauchten schon hin und wieder den Rat einer etwas erfahreneren Dozentin. Da auch an der ABF II das Verhältnis zwischen Lehrkräften und Studentinnen und Studenten eher partnerschaftlich war, baute sich trotz der kurzen Zeit unserer gemeinsamen Arbeit schnell ein Vertrauensverhältnis auf, ohne das wir das Ausbildungsziel auch nicht erreicht hätten.
Meine Tätigkeit an der ABF II in Halle endete 1960 - ich begann danach, in Bereichen des Ministeriums für Volksbildung zu arbeiten. Die ABF II war aber die Einrichtung, die noch eine Reihe von Jahren länger existierte als die anderen Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten, eben wegen ihres speziellen Auftrages, junge Menschen auf das Studium im sozialistischen Ausland vorzubereiten.
Die Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten hatten ihre Aufgabe erfüllt, als das einheitliche Bildungssystem der DDR aufgebaut war, als erreicht war, daß die Forderungen auch fortschrittlicher bürgerlicher Pädagogen wie Staatlichkeit, Weltlichkeit, Einheitlichkeit des Bildungswesens, Wissenschaftlichkeit des Bildungsgutes und Gleichheit der Bildungschancen Wirklichkeit geworden waren. Die Kinder von Arbeitern und Bauern und junge Werktätige hatten nun die Möglichkeit, über verschiedene Wege die Hochschulreife zu erwerben. Damit war das bürgerliche Bildungsprivileg endgültig gebrochen und das Recht auf Bildung für alle als Menschenrecht durchgesetzt.
Ada Ahrens
1 Bis in die siebziger Jahre mußten Studenten und die älteren Schüler den Genossenschaftsbauern bei der Hackfruchternte helfen. In Ballenstedt an der Pädagogischen Fachschule für Kindergärtnerinnen gingen die Studentinnen in den Monaten September/Oktober regelmäßig als Helferinnen in die Apfelplantagen zur Ernte, für ein gutes zusätzliches Taschengeld. Und es hat jedes Jahr viel Spaß gemacht!
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