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Aus dem Tagebuch eines DDR-Studenten 

Seit meiner Kindheit interessiere ich mich für Geschichte, Politik, Sport und Musik. Besonders gern lese ich dabei Berichte von Zeitzeugen. So kam mir das Buch „Spurensicherung. Zeitzeugen zum 17. Juni 1953“ gerade gelegen.

Damals, am 17. Juni 1953, war ich fast auf den Tag genau 6 Jahre alt. Auf dem Weg in den Kindergarten sah ich unter den „Meißener Elibbrücken“ den ersten Panzer in meinem noch jungen Leben. Ich wußte mit dem „Eisenkoloß“ nichts anzufangen, hatte aber ein unheimlich beängstigendes Gefühl.

In den nachfolgenden Schul- und Studienjahren erfuhr man ja nur sehr „Parteigewogenes“ zu den damaligen Ereignissen. Auch deshalb ließen mich nun die Zeitzeugenberichte um den 17. Juni 1953 nicht los. Das Buch legte ich erst nach durchlesener Nacht aus der Hand. Ich war innerlich aufgewühlt. Brauchte Wochen, um alles zu verarbeiten und manches neu zu verstehen.

Verklärt sich nicht der Blick ins Gestern, wenn man aus dem Heute das Vergangene zu beurteilen versucht? Nach der Antwort suchend, nahm ich, als Tagebuchschreiber seit 1964, eines meiner „Büchlein“ zur Hand, um nachzulesen, was ich als Student spontan, frei von jeglichem Dogma, ganz für mich niederschrieb.

Manches weiß ich noch heute genau, anderes hatte ich vergessen, und plötzlich stellte ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge fest: „... Mensch du warst ja auch Zeitzeuge - sowohl bewußt gelebter, als auch mitgestalteter DDR-Geschichte!“ 

Warum wähle ich nun bei meiner „Wortmeldung“ gerade das Jahr 1969?

Vielleicht deshalb, weil ich mich am 13. August 1969 verlobte. Mir dieses Datum in bleibender Erinnerung ist.

Wie eben jener 13. August 1961. Nur die Vorzeichen können konträrer nicht sein.

Ich sehe heute noch unseren Vizedirigenten Uhlig kreidebleich in die Internatsunterkunft des IfL Erfurt kommen, um uns Mitgliedern des Pionierblasorchesters zu verkünden: „Jungs, ich glaube wir stehen kurz vor dem dritten Weltkrieg ...!“ Damals verstand ich 14jähriger stolzer Trompeter „Bahnhof“, verspürte Angst, statt Freude auf die bevorstehenden „Erfurter Tage“ des Zentralen Pioniertreffens.

Für den „Jahrgang 1969“ entschied ich mich auch deshalb, weil ich in meinen Tagebuchnotizen über dieses Jahr manches „DDR-Typische“ kurz und prägnant wiederfand. Also keine Bange, ich behandle hier nicht die Frage „.. .warum der Abfall der Basizität beim Anilin gegenüber den aliphatischen Aminen logisch ist oder aber, warum Chloressigsäure wesentlich stärker sauer reagiert als Essigsäure“. Dies mußte ich beispielsweise 1969 während meines physikalisch-chemischen Praktikums ganz genau wissen. (Heute fragt mich danach keiner mehr. Beide Kinder sind aus der Schule.)

 Doch nun einige meiner undogmatischen Notizen aus dem Jahr 1969:

 

Montag, 6. Januar:

Erster Studientag im neuen Jahr. Hoffentlich komme ich gut durch das Semester. Mittwoch steht Klausur in Finanzen an. Nicht mein Ding! Vorher am Dienstag FDJ-Versammlung. Noch so’ne Kiste wie meine „Antimeinung“ zum Truppeneinmarsch von NVA-Soldaten im August '68 in die ČSSR kann ich mir nicht mehr leisten. Exmatrikulationsgefahr ...!!!

 

Mittwoch. 8. Januar:

Mit „Karlchen N“ bekomme ich eine private Studentenbude. Glück gehabt. Heute waren wir bei der Wohnraumlenkung, fühlen uns wie „der Kaiser von China“! Finanzklausur mit „Spicken“ - bei meinem Kumpel Kalle M. gut „gepackt“!

 

Donnerstag, 9. Januar:

Sind aus dem „4-Doppelstockbettzimmer-Internat“ ausgezogen. Endlich hören wir die Mäuse nachts nicht mehr „hecken“! Mann, fühlen wir uns stolz in der „noblen Studentensuite“, Gustrenaerstraße 5 bei Eckerts! Karlchen schläft im Bett, ich betrat später das „Heiligtum“ und muß mit dem buckligen Sofa vorlieb nehmen. Je 2 Keramikwaschschüsseln, dazu 1 Keramikkrug fürs Wasser. Ein schnuckliger „Kanonenofen“, Luxustoilette „Außenbordplumpsklo/Hofluftlage neben dem Kohlenschuppen“. Brrr, spür jetzt schon die „Frostzapfen am A...“! Naja ... 30 ALU-Mark muß jeder berappen. Kohlen und Holz nicht inbegriffen. „Ganz schöner Mietwucher ...“, meint Karlchen. Stimmt, meine ich auch, bei 150 Stipendium! Egal, ham’ne eigne Bude...!

 

Sonnabend, 11. Januar:

Mein Schatz kommt erstmals auf meine Studentensuite. Habe den Kanonenofen mächtig eingeheizt. Kuschlig warm und Rosi hat frische Bettwäsche bei. Mann, war das ein „heißer“ Winterabend, echt toll dieses 2. „Week-End“ im neuen Jahr. So kann's weitergehen.

 

Freitag, 4. Februar:

Bin klamm zwischen den Fingern. Gehe freiwillig zum Arbeitseinsatz ins Bernburger Sodawerk. Von 15 Uhr bis 23 Uhr in der Produktion „gekläscht“, so sagen’s hier zum Arbeiten. Am Montag kann ich mir den Lohn, 30 Mark abholen. Muß aber nochmals gehen, will mir 'ne Dederonhose für 75,-Eier kaufen. Dann brauche ich nicht mehr bügeln.

 

Montag, 17. Februar:

Alle Studenten beteiligen sich an der nicht genehmigten 45minütigen „Faschings-Polonaise“ durch das Hochschulgebäude! Konsequenz des Spaßes: Die Hochschulleitung streicht uns vom verlängertem Wochenende 1 Tag und setzt Vorlesung in Verfahrenstechnik für den kommenden Freitag an! Hirnrissige Geistesscheiße!!!

 

Sonnabend, 8. März:

Frauentag, ich schenke meinem Schatz eine Stange Nougat (1,44) und eine schöne Flasche „Rubin“. Ojeh, der Wein war schwer, schmeckte süß und heizte die Liebe mächtig an! Der geile Bock, Herr E. unser Vermieter, hat alles durchs Parterrefenster beobachtet. Verdammt peinlich. Beim Pinkelngehen habe ich ihn gerade noch wegrennen sehen. Kismet, das nächste Mal Gardinenvorhang zuziehen! War trotzdem wieder eine herrliche Nacht!

 

Mittwoch, 26. März:

Die „Bundis“ spielen gegen Wales nur 1:1! Konzertgitarre „unter der Hand“ gekauft. Dafür Klausur in Physikalischer Chemie wahrscheinlich total vergeigt.

 

Ostersonntag, 6. April:

Mit meinem Schatz „stummer“ Morgenspaziergang 6 Uhr zur Quelle. Alte Familientradition. Findet Annerose auch gut. Bloß das blöde Frühaufstehen nicht. Kommen in eine tolle Windhose bei Schneetreiben. Anschließendes Eierverstecken und Suchen war „entspannend lustig“!

 

Mittwoch, 16. April:

WM-Qualifikationskrimi gegen Wales. Rock von Jena schießt in der 90. das 2 : 1 Siegtor für uns. Abschlußklausur in Russisch lief prima. Frau Eckert, die Vermieterin bringt mir abends für’s gestrige „Holzhacken“ eine echte Banane. Wo hat die das Ding bloß her, ist doch „Krautsaison“ bei uns im Sozialismus!?

 

Sonnabend, 26. April:

Das Praktikum in Anorganischer Chemie vom 21. bis 26.4. gemeistert. Protokolle alle geschrieben. Testat bestanden. O. K. Klamotten packen für die 2. Grundausbildung, die am 7. Mai in Bertingen beginnt. Dann 1 Woche Ferien - hurraaaa!

 

Pfingstmontag, 26. Mai:

Volle Gefechtsausbildung bei über 30 Grad Hitze. Da jagen die uns noch über die Sturmbahn. 2 Schlaffi’s kippen um. 23.00 Uhr noch Nachtschießen. Mir brummt die Birne vom Stahlhelm. Hasse diese scheinbar notwendigen „Spielchen“. Bringt doch eh nix.

 

Sonntag, 1. Juni:

Liege in der Sanibaracke, mit 38,8 °C Fieber. Mein Cousin fährt heut nach Sotschi. Ob ich mir das auch mal leisten kann? Tante Edith hat Geburtstag und wir 5 Kranken werden vom „Spieß“ beim verbotenen Westfernsehen (ARD-Sportschau) erwischt. Das kann schlimme Folgen haben. Mir geht die Muffe ...!!

 

Freitag, 6. Tuni:

9.30 Uhr bis 10.30 Uhr bei strömendem Regen und naßkalten 13 °C erfolgt die Vereidigung. Darauf haben wir alle hingearbeitet. Denn mit der Vereidigung wird unsere 2mal 6wöchige Grundausbildung als geleistete Armeedienstzeit anerkannt. Wir sind der letzte DDR-Studentenjahrgang der in diesen „Genuß“ kommt. Für alle nachfolgenden Jahrgänge, zählen die zu absolvierenden 2x6 harten Wochen nur als „vormilitärische Ausbildung“!

Wir „5 Westfernsehkieker“ werden als einzigste nicht befördert sondern als „Soldat“ mit gültigem Wehrpaß entlassen. Egal! Trotzdem 18 Monate gespart! Dafür ziehen wir auf der „Hütte“ noch 'nen echten Mannerstrip zur Feier des Tages ab. Als „Galadiner“ bekommt jeder ein halbes Hähnchen und 2 Flaschen Bier. Mächtig spendabel, die Herren ... Die Zeit bei „Zirkus Plewe“ ist nun auch gemeistert!

 

Sonnabend. 7. Juni:

Ich überrasche meinen Schatz! Komme für immer zum „Heimaturlaub“. Drei Kreuze! Bayern und Vorwärts Berlin Meister. Hoffentlich treffen die mal im Europapokal aufeinander. Komisch, daß das noch nicht geklappt hat!?

 

Montag. 21. Tuni:

Ein High-Light in meinem Leben! Bin beim ZDF 3.56 Uhr MEZ Augenzeuge, wie N. Armstrong u. Aldrin als erste Menschen auf dem Mond landen. Ganze Nacht am Bildschirm gehangen. So was darf man nicht verpennen. Bin begeistert, ärgere mich aber, weil das DDR-Fernsehen es nicht original überträgt. Ist das etwa weniger wert als Gagarins erster Flug ins All?? Unmöglich, wo doch sonst alles im Sport aus dem Westen übertragen wird. Also an der Technik kann’s nicht liegen! Zum Glück war ich „alter Sachse aus dem Tal der toten Augen“ originaler Fernseh-Augenzeuge. Im „Halleschen“ kann man halt ungehindert den Westen empfangen. G. s. D! 5.30 Uhr geht’s per Bahn wieder zum Fachpraktikum ins Deutsche Hydrierwerk nach Rodleben bei Dessau. War ganz schön k. o.!

 

Mittwoch, 13. August:

Heute habe ich eigentlich geheiratet! Am „Allröder“ Felsen gegen 18.35 Uhr mit meiner Annerose Verlobung gefeiert. Eltern und Schwiegereltern in spe wissen noch nichts. Wird Urlaubsrückreiseüberraschung. Vater wird die Augen verdrehen ... Wo halt die Liebe hinfällt!

Die „Billigringe“ kaufte ich heute heimlich während des Stadtbummels im schönen Wernigerode. Der Clou war aber die „Wortmeldung“ meiner „Jenny“! Beim Aufstecken des Ringes auf die Hand meines Schatzes platzte wie aus heiterem Abendhimmel die G-Seite meiner am Baum gelehnten Gitarre! Was soll das bloß bedeuten? G-Seite, G-Punkt, G-Gemeinsamkeit, G-Gefangen ... Ich lege mich auf G- wie Glück fest! Die Zukunft wird’s zeigen ...! Für mich bedeutet dieser 13. August meinen Hochzeitstag. Es gibt kein Zurück, ich liebe Dich Annerose!!!

 

Dienstag,.21. August:

Heute mit Vati über mögliche Hochzeit gesprochen. Soll 1970 nach Studienende erfolgen. Er meinte nur: „...mußt Du wissen, ob sie die Frau Deines Lebens ist...!“ Ja, wenn Söhne ausziehen ...

 

Dienstag, 2. September:

Herrliches Wetter! Erstmals mit Anne in Berlin. Tierpark besucht und den „antifaschistischen Schutzwall“! Letzteres war nicht „schützend“ sondern beklemmend für unsere Seelen. Sprechen abends bei Glas „Roten“ drüber. Wollen die Mauer nicht, muß aber wohl z. Z. so sein. Mist, würde gern mal HERTHA live sehen. Muß wohl Rentner werden ...

 

Freitag, 3. Oktober:

Am Vorabend des 20. Jahrestages der DDR wird das zweithöchste Bauwerk in Europa, nämlich der Berliner Fernsehturm eingeweiht 365 m hoch, toll. Den muß ich irgendwann „kennenlernen“! Jetzt haben wir auch ein zweites Fernsehprogramm und Farbfernsehen. Kann ich mir noch lange nicht leisten ...! Ich muß erst mal die letzten zwei Studiensemester schaffen und meine Ing.arbeit aufs „Papier“ bringen.

 

Montag, 13. Oktober:

Die 13 ist meine Glückszahl. Mein Schatz ist am gleichen Tag wie ich, an einem 13. Juni geboren. Unsere erste Verabredung fand am 13. Dezember statt. Verlobten uns am 13. August und heute flattert mir ein Arbeitsangebot mit Wohnung aus dem Zehdenicker Isolierwerk in die „Studentenklause“! Für 650 DM könnte ich ab 1.9.1970 zu arbeiten beginnen. 50 Mark mehr als in Berlin-Erkner und das noch mit Wohnungsangebot. Muß mit Annerose reden. Ich glaub das wäre was!

 

Freitag, 24. Oktober:

Ich weine! Ein schwarzer Freitag! Daß ich die Klausur in organischer Chemie verhauen hab, ist nicht der Rede wert. Aber meine Annerose liegt mit einer Fehlgeburt im Krankenhaus. Sehr unfreundlicher Empfang in ihrem Elternhaus!

 

Freitag, 21. November:

Nach manch schlaflosen Nächten voller Angst und Sorgen scheint heute für mich und meinen Schatz wieder symbolisch die Sonne! Gemeinsam waren wir beim Frauenarzt zur Nachuntersuchung. Sind glücklich. Alles ist in Ordnung. Mein Schatz kann noch Kinder bekommen! Aber nur mit mir, bitte.

 

Sonntag, 30. November:

1. Advent, wir sehen das „Weiße Rössel“ im Dessauer Theater! Ich bin froh, daß mein Rössel wieder springen kann ...!

 

Mittwoch, 3. Dezember:

Fahre zum 48. Geburtstag meines kranken und gebrochenen „alten Herren“. Wir philosophieren wie so oft in den Stunden unseres Zusammenseins bis früh 3.00 Uhr. Was hat die Gesellschaft und er selbst aus seiner Intelligenz gemacht? Was wird sein, wenn ich mal so alt bin wie er? So gebrochen möchte ich allerdings dann nicht zurückblicken!

 

Donnerstag, 18. Dezember:

Endlich gibt es Stipendium! Was bleibt von den 160.- Mark für mich? Zum Fest schenke ich meinem „Herz“ eine Handtasche (55 Mark). Vati bekommt 'nen Binder und ein Hemd (50 Mark), Kalle seine geliehenen 15 Mark. Da bleibt noch die Zugkarte für 3,55 Mark ohne Eil- bzw. D-Zugzuschlag. Und die Miete mit 30 Mark nicht vergessen. Summasummarum, das war’s mit der „Kohle“! Frohes Fest!

 

Im Nachhinein find’ ich’s schon ganz amüsant aber auch interessant, was man so gedacht, gefühlt und geschrieben hat, oder nicht?! Ich sehe schon manchen Leser sich selbst fragend oder auch feststellend: So oder so habe ich das auch erlebt, nichts Besonderes. Richtig, den Nagel auf den Kopf getroffen! Hier hat kein Systemjubler oder Systemkritiker Heldenhaftes zu berichten! Er hat einfach die Tagebuchnotizen von einst kommentarlos sprechen lassen!

Und doch, beim genauen „Hinlesen“ entdeckt man den einstigen „DDR-Studentenalltag“ und, darüber hinaus, zwischen den Zeilen, auch mehr!

Aus einer Arbeiterfamilie stammend, und einer, dessen Vater nach dem Musikstudium als „rasender Reporter“ einer Lokalredaktion der heute noch existierenden „Sächsischen Zeitung“ begeisterter Journalist war, mußte ich als 12jähriger über eineinhalb Jahre „Arbeitslosigkeit ohne jeglichen finanziellen Zuschuß“ erleben. Mein „alter Herr“ studierte wegen illegalem Waffenbesitz in dem DDR-bekannten „Gelben Ghetto“ Bautzen „Zellengitterkunde“. Allein darüber zu berichten, würde ein Buch für sich ergeben. Das Paradoxe dabei, wie mir mein Vater später erklärte: die Waffe mit 16 Patronen erhielt er 1949 zum Selbstschutz von den damals Regierenden, als einer der „Männer der ersten Stunde“!

Und trotzdem: Als Kind aus einem jetzt systemkritischen Elternhaus bestand ich die Aufnahmeprüfung an der Ingenieurhochschule „Joliot Curie“, Köthen, und die nachfolgenden Examina. Aber ich erinnere mich auch daran, daß während meiner Schul- und Studienzeit so manches hochintelligente Kind nicht das Abi bzw. Examen an Hoch- bzw. Fachschulen ablegen durfte. Dafür hatte ich gestern wie heute kein Verständnis. Gerade zu solch Betroffenen pflegte ich stets freundschaftliche Bande, und vielleicht ist es gerade das gewesen, weshalb ich allen gesellschaftlichen Ereignissen kritisch gegenüberstand. So schrieb ich beispielsweise schon am 24. Juni 1965: „... Es hat sich schon mit der sogenannten persönlichen Freiheit in unserem Sozialismus ...!“ Damals war ich 18 und mußte erleben, wie unser Klassenprimus aufgrund kirchlicher Bindung nicht zum Studium zugelassen wurde ...!

Ich hatte Ideale und meinte immer, verändern kannst du nur, wenn du dich in die Gesellschaft einbringst. Die spätere Zukunft lehrte mich aber zunehmend Gegenteiliges. Meine Ideale von einer humanistischen Welt habe ich nicht verloren, sie sind eher noch stärker in meinem Denken verwurzelt! Kein Widerspruch, sondern logischer Schluß spannender Lebensjahre, die mein bewußtes Sein prägen.

Heute bin ich, wem auch immer, dankbar, daß ich in der DDR-Zeit eine unbestritten gute Schul-, Lehr- und auch sehr solide Fachschulausbildung erhalten habe. Ich hatte wirklich großes Glück, nie auf sogenannte Parteidogmatiker (bis auf eine abstoßende Ausnahme!) zu treffen.

Natürlich waren die Lehr- und Studienjahre keine „Herrenjahre“! Von meinem Elternhaus bekam ich keine müde Mark finanzielle Unterstützung. Das Stipendium war sehr knapp. Aber dank der Preise des „täglichen Bedarfs“, wie es so schön hieß, mußte ich nicht hungern. Der Tisch war halt mit „Billig-Produkten“, wie z. B. Buttermilch (halber Liter zu 14 Pf.), 5-Pfennig-Brötchen, Tomatensaft (90 Pf.), Bockwurst/Brötchen (85 Pf.), einem Knickei (24 Pf.), 100 Gramm Tatar (1,02 Mark), mehr oder weniger schmackhaft gedeckt. Fachliteratur konnte ich mir kaum leisten. Dafür den kostenlosen Bibliothekbesuch an der Hochschule. Im „Studentensommer“ verdiente dann auch ich manche „harte“ Mark auf dem Bau und begann so, neben der geistigen vor allem auch die materiell-produktive Arbeit besonders zu achten!

Ich erinnere mich noch gut daran, wie stolz ich war, als ich erstmals ein bügelfreies Nylonhemd zu 80 M erstand und dies mit meiner schon erwähnten knitterfreien „Dederonhose“ kombinierte. Wie stolz ich da bei meinem Mädel „antrabte“, weiß meine Frau noch heute genau ...!

Da ich ein „gesellschaftlich aktiver“ Lehrling und Student war, gab es ein stetes Werben um meine Person, Kandidat der SED zu werden. Ich bin ehrlich, das schmeichelte einerseits, aber es konnte auch verdammt lästig werden! Lästig vor allem dann, wenn man, wie ich, einen festen und auch eingehaltenen Grundsatz hatte: „Nein, mit dem Parteibuch schließt du Lehre und Studium nicht ab.“ Das Werben nannte man „Kandidatengespräche“!!!

Mein Vater, einst ein kritischer, ehrlicher Genosse, flog ja aus der Partei und wir sprachen oft auch über dieses „Kapitel“! Wenn ich mich organisierte, dann aus Überzeugung und nicht der sogenannten Kariere wegen. „Sepp“, so sprach mich mein „alter Herr“ an, wenn er gut auf mich zu sprechen war, „laß die Hand vom Parteibuch, egal wie die Partei sich nennt...!“ Hab’ ich sie gelassen oder nicht?

Ich fasse mich kurz: Ja, ich ging in die heute vor allem von den Medien so verteufelte SED! War auch einer von über 3 Millionen ehemaligen Genossen, deren große Ideale sich vor allem vom Kampf gegen den Faschismus und um soziale Gerechtigkeit herleiteten! Und meine damalige freie Entscheidung hat noch heute glücklichen Bestand.

Nie vergesse ich Tag und Ort der „Kandidatenaufnahme“, so nannte sich das damals. Fast ein Paradoxon: In der „Nationalen Gedenkstätte Ravensbrück“, dort, wo ich mit weiteren 25 jungen Menschen als Kandidat der SED aufgenommen wurde, war meine Mutter einst KZ-Häftling gewesen. Wurde hier von den braunen Menschenschlächtern mehrere Jahre inhaftiert, gequält und vergewaltigt!! Nein, bei allem „Wenn und Aber“, diese Partei, in die ich bewußt eintrat, ist nicht mit der NSDAP vergleichbar, obwohl nicht selten versucht wird, gerade dies der heutigen Öffentlichkeit als „Geschichtswahrheit“ weiszumachen.

Nicht zuletzt wegen dieser familiären Tragödie glaubte ich mich - gegen den väterlichen Rat - gesellschaftlich organisieren zu müssen. Und es war beileibe nicht überall so, daß man in der DDR eine berufliche Karriere nur als Mitglied der SED starten konnte.

Als Leiter des Büros beim Betriebsdirektor oder auch anfänglich als junger Direktor für Sozialökonomie im Kombinat Mikroelektronik war ich parteilos! Hielt also mein mir selbst gegebenes Wort, ohne frühzeitigen Parteieintritt eine berufliche Karriere zu machen. Nebenbei bemerkt, auch unser Direktor für Materialwirtschaft (gleichzeitig Leiter der Zivilverteidigung des Betriebes) sowie der Leiter für Forschung und Entwicklung waren parteilos. Und dies in einem Betrieb der Mikroelektronik mit über 1.800 Mitarbeitern (der heute leider nicht mehr existiert) ...!

Wie recht hatte doch der kluge Albert Einstein, als er einst den wissenschaftlichen Nachweis erbrachte, daß es eigentlich keine absolute, sondern vielmehr nur eine relative Wahrheit gibt. Dies trifft, wie ich meine, vor allem auf das Denken, Handeln und Fühlen von sowie zwischen Menschen zu! So gesehen, bin ich nicht“gewendet“, wenn ich heute in einem „alten Bundesland“ arbeite und wohne. Ich versuche nur, meine Ideale im Sinne meines „alten Herren“, an einem anderen Ort und nunmehr parteilos, weiter umzusetzen.

Denn: „Es gibt nichts Gutes, außer, man tut es ...!“ so formulierte treffend Erich Kästner. Besser konnte er mein Lebensmotto seit frühester Jugend nicht auf den Punkt bringen!

 

Michael Röber


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