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Eine gute Grundlage für mein Leben

 Ich gehöre zum Jahrgang 1948 und habe meine Schulerkarriere 1954 in Wismar unter recht günstigen Bedingungen begonnen. Wir wurden nämlich in einem Neubau eingeschult, während unsere Vorgänger noch Unterricht in einer Baracke hatten. Diese heute noch als Förderschule genutzte Einrichtung trägt leider den Namen von Karl Marx nicht mehr.

Sehr viele meiner Schulbücher besitze ich heute noch, die Fibel der ersten Klasse allerdings nicht. Aber ich kann mich noch an die erste Geschichte erinnern, die von einem kleinen Jungen handelte, der viele gute Taten vollbracht hat (welche, weiß ich nicht mehr). Am Ende dieser Story stand in Sperrschrift: Dieser kleine Junge war Jossif Wissanonowitsch Stalin. Was im Namen Stalins und vieler kleiner Stalins, die den Sozialismus befleckt haben, für Verbrechen begangen wurden, erfuhren ausgewählte Genossen 1956, die Masse erst viel später, manches leider erst nach der Implosion der sozialistischen Staaten.

Da ich als Kind gesundheitliche Probleme hatte, blieb meine Mutter während meiner gesamten Schulzeit Hausfrau. Ich kann also auf keine eigenen Erfahrungen mit Kindergarten und -hort verweisen.

Meine Eltern waren zwar Kirchenmitglieder, entwickelten aber keinerlei religiöse Aktivitäten. Ich bin bis zum sechsten Schuljahr zur Christenlehre gegangen, die in den ersten beiden Jahren noch im Schulhaus stattfand. Mitglied der Pionierorganisation wurde ich erst in der vierten Klasse. Das Wichtigste an der Pionierorganisation war für mich das Pionierhaus, in dem ich, angeregt durch die Arbeit meines Vaters, der auf der Matthias-Thesen-Werft in Wismar als Schiffselektriker arbeitete, einen Elektrotechnikzirkel besuchte. Hier war auch eine Kinder- und Jugendbibliothek untergebracht, der ich meine ersten Literaturerlebnisse - über die in unserem Haushalt vorhandenen wenigen Bücher hinaus - verdanke.

Großen Einfluß auf meine Entwicklung hatte der Besuch einer Klasse mit erweitertem Russischunterricht. Das bedeutete, daß wir ab dem dritten Schuljahr Russischunterricht hatten, der allgemein ja erst im fünften Schuljahr begann. Wir wohnten in der Nähe von Offiziersfamilien der Sowjetarmee, wo ich schon als Steppke versuchte, mit den Kindern in Kontakt zu kommen. Später verbrachte ich einen großen Teil meiner Freizeit im Haus der Offiziere der Sowjetarmee. Wir hatten eine hervorragende Russischlehrerin, die uns nicht nur quasi spielerisch ausgezeichnete Sprachkenntnisse beibrachte, sondern uns die Freundschaft auch vorlebte. Sie war mit einem Offizier liiert, von dem sie ein Kind hatte, den sie aber nicht heiraten durfte. Sie sorgte dafür, daß wir unsere Schulhefte und anderes im Magazin der Garnison einkaufen konnten und viele Kontakte zu Sowjetmenschen bekamen.

Diese Lehrerin legte die Grundlage dafür, daß ich mich später auch für andere Fremdsprachen interessierte und leichten Zugang zu diesen hatte. Vor kurzem las ich den Artikel eines Frankfurter Anglisten, der dafür plädierte, Englisch nicht als erste Fremdsprache zu lernen. Wer sich vor dem Englischunterricht mit einer „schwereren“ Sprache auseinandersetzt, kommt bei einer späteren Beschäftigung mit Englisch zu besseren Ergebnissen.

Aber auch andere Lehrer hinterließen natürlich ihre Spuren. In der dritten und vierten Klasse hatten wir eine altere Klassenlehrerin. Sie war ein mütterlicher Typ und erleichterte uns damals den Übergang zur Klasse mit erweitertem Russischunterricht wesentlich. Es war ein großes Hallo, als wir sie, 94jährig und immer noch sehr vital, 1986 zu einem Klassentreffen begrüßen konnten.

Unser damaliger Direktor, ein ehemaliger Neulehrer, war als Sportlehrer sehr beliebt, aber auch etwas autoritär. Er unterrichtete bei uns in Sport und Geschichte. Ich hatte in der 6. Klasse mal einen Disput mit ihm, in dem er wenig souverän reagierte und mir einen Tadel verpaßte, der sich dann auf die Betragensnote im Zeugnis auswirkte. Allerdings zeigte er damit nur seine eigene Unsicherheit und hatte an Autorität eingebüßt.

Seit dem sechsten Schuljahr besaß unsere Klasse ein Theateranrecht. Die Begegnung mit Schauspiel und Musiktheater war für mich sehr prägend, da ich von meinen Eltern in dieser Richtung keine großen Impulse erhielt. Die Beschäftigung mit Sprache und Musik hat sehr zur Entspannung beigetragen, aber meine aktive Mitwirkung im dramatischen Zirkel der Schule und dann in der Studentenbühne der TU Dresden half auch, daß mir freies Sprechen vor Publikum später nie schwerfiel.

In meiner Schulzeit erlebte ich die Einführung des polytechnischen Unterrichts, der hauptsächlich auf der Werft stattfand und bei vielen von uns den Berufswunsch mit bestimmte. Apropos Berufswunsch: In Vorbereitung der Jugendweihe hatten wir eine Veranstaltung mit unserem Physiklehrer. Danach stand für mich fest, daß ich Physiker werden wollte. Es war die Zeit der Euphorie in bezug auf die friedliche Anwendung der Kerntechnik, aber auch die der ständigen Kernwaffenversuche in der Atmosphäre und der gegenseitigen Drohung mit dem Einsatz von Kernwaffen. Seitdem las ich mit Begeisterung alles, was ich an populärwissenschaftlicher Literatur über die Physik der Atomkerne kriegen konnte und arbeitete auf mein Ziel Physikstudium hin, obwohl mein Vater mich sicher lieber als Diplomingenieur für Elektrotechnik oder Elektronik - womit ich später doch noch zu tun bekam - gesehen hätte. (In der Beurteilung meiner schriftlichen Physikarbeit zum Abitur wurden dann auch überdurchschnittliche Kenntnisse hervorgehoben, aber über meine schon damals erkennbaren eklatanten Mathematikschwächen hinweggesehen. Wahrscheinlich hätten hier doch schon Achtungszeichen für meinen Berufswunsch gesetzt werden sollen, denn ich absolvierte die Matheausbildung an der Uni auch „gerade so“, mit einer Vier.)

Nach dem achten Schuljahr erhielten wir die große Chance, als geschlossene Klasse an die erweiterte Oberschule zu gehen. Das war natürlich ein großer Vorteil, da wir schon seit sechs Jahren zusammen waren. Zum Schluß hatte unsere Klasse nur 15 Schüler: ideale Verhältnisse für Lehrer und Schüler! Wir konnten damals wählen zwischen einem mathematisch-naturwissenschaftlichen, einem sprachlich orientierten (mit der dritten Fremdsprache Französisch) und einem altsprachlichen Zweig (mit Latein als dritter Fremdsprache). Außerdem waren wir der erste von vier Jahrgängen der EOS, der bis zum Abitur einen Beruf erlernte. So bekam ich 1966 mit dem Abiturzeugnis auch den Facharbeiterbrief als Schiffselektriker und bin deshalb schon seit 1964 Mitglied einer Gewerkschaft. Selbst wenn danach nicht jeder seinen eigentlichen Berufswunsch verwirklichen konnte, hatten wir doch den Vorteil, mit Beginn des Studiums nicht nur die sterile Atmosphäre der Penne, sondern auch die Probleme der Leute in der materiellen Produktion kennengelernt zu haben.

Trotz meines frühzeitig ausgeprägten Studienwunsches sollte ich doch noch Lehrer werden. Da schon in den sechziger Jahren absehbar war, daß immer weniger männliche Lehrer ausgebildet wurden, gab es auch an unserer EOS Kampagnen zur Gewinnung des maskulinen pädagogischen Nachwuchses. Zum Beispiel sollte ich schon nach der 11. Klasse an die PH Güstrow wechseln, um als Mathe-Physik-Lehrer ausgebildet zu werden. Da ich mich aber immer noch als zukünftigen Mini-Einstein sah, kam das nicht in Frage.

Natürlich wurden wir auch mit den politischen Verhältnissen unserer Zeit konfrontiert. Ich kann mich erinnern, daß wir nach dem Tod des ersten Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, Ehrenwache vor seinem Bildnis hielten. Bis zum Bau der „Mauer“ fehlten in regelmäßigen Abständen Mitschüler, die mit ihren Eltern in den Westen gegangen waren. Ganze Werftbelegschaften wurden so in Hamburg mit gut ausgebildeten Fachleuten aus Wismar aufgebaut, erlebten aber auch frühzeitig das, was den Wismarer Werft-Arbeitern erst 1990 blühte: die Unsicherheit des Arbeitsplatzes.

Die Nachricht von der Ermordung Kennedys erreichte uns auf einem Schulfest. Darauf brachen einige Mädels in Tränen aus, schickten auch Beileidsbriefe in die USA, von denen ich aber nicht glaube, daß sie je angekommen sind.

1964 machte ich ausgerechnet am 8. Mai, dem Tag der Befreiung, eine Wandzeitung über die Beatles. Da ich vorher schon eine Wandzeitung „Schöne deutsche Heimat“ (und das so kurz nach dem „Mauerbau“!) abgeliefert hatte, war eine ausführliche Aussprache mit dem Stadtschulrat fällig. Es hatte für mich aber keine weiteren Konsequenzen.

Freya Klier berichtet in ihren von der Adenauer-Stiftung bezahlten Vorträgen (ich habe sie am Gymnasium meiner Tochter gehört) davon, daß ihr Bruder wegen einer Beatles-Wandzeitung im Gefängnis gesessen hätte. Mag ja sein, ich habe jedenfalls andere Erfahrungen gemacht! Leider bestimmen heute solche Fälle, in denen auch Kindern von Pfarrern usw. der Zugang zum Abitur verwehrt wurde, das in den Medien vorherrschende Bild von der DDR-Schule. Aber die heutige Oberbürgermeisterin von Wismar, ebenfalls eine Pfarrerstochter, hat in meiner Parallelklasse das Abitur gemacht und danach ein - auch in der DDR nicht einfach zu erreichendes - Medizinstudium absolviert.

Der von vielen Kritikern der DDR-Schule bemängelte Zwiespalt zwischen westlichem Einfluß und sozialistischer Erziehung in der Schule war für mich eventuell sogar produktiv. Meine Eltern hörten zwar nur Westsender, waren mir gegenüber aber tolerant. Ich konnte das in der Schule Gelernte an den West-Nachrichten spiegeln und lernte so auch, an vielen Dingen zu zweifeln.

Die Verwandten meiner Mutter lebten in Köln. Ich hatte also vor 1961 sogar die Möglichkeit, mir das Leben im Westen anzusehen. Sicher gab es viele materielle Dinge, die mich damals reizten, aber mir fiel schon als Kind das geringe Bedürfnis meiner Verwandten auf, sich mit lebenswichtigen Fragen auseinanderzusetzen.

Trotz einer frühzeitigen, auch emotionalen Bindung zur russischen Kultur trat ich erst gegen Ende meines Studiums in die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft ein. Während der Schulzeit erhielt ich aber trotzdem die Herder-Medaille der DSF in Bronze und Silber für gute Leistungen in Russisch.

An meiner EOS gab es eine für die Absolventen sehr bewegende Tradition. Und nach einem Gang mit Kerzen durch das unbeleuchtete Schulhaus erreichte auch unsere Abiturfeier um Mitternacht ihren Gipfel: In der Aula wurde auf der damals noch vorhandenen Orgel „Gaudeamus igitur“ gespielt, und im Klassenzimmer überreichte jeder Schüler unserer Klassenlehrerin eine Rose. Das war für alle ein emotionaler Höhepunkt, der die Schulzeit würdig beendete. Leider waren wir der letzte Jahrgang, der dieser Überlieferung folgen konnte. Die Aula wurde umgestaltet und dabei die Orgel entfernt. Man versuchte krampfhaft, neue, angeblich sozialistische Traditionen zu installieren, die aber kaum wahrgenommen wurden. Damals wurde dasselbe praktiziert, was nach der sogenannten „Wende“ mit vielem Bewahrungswürdigem aus der DDR-Schule passierte.

Ich hatte immer ein sehr breites Spektrum von Interessen. Die meisten Anregungen dafür bekam ich in der Schule. Aber auch die vielen Möglichkeiten außerschulischer Bildung, ich erwähnte bereits das Pionierhaus, den Besuch von Theater- und Kulturveranstaltungen und den dramatischen Zirkel an der EOS, bewahrten mich vor „Fachidiotentum“.

In meiner Familie war ich der erste, der das Abitur und einen Hochschulabschluß erreichte. Und ich kann für mich feststellen, daß die Schule der DDR nicht nur einen guten Grundstein für meine solide berufliche Ausbildung, sondern auch für die Ausprägung meiner ethisch-moralischen Haltung legte. Sie hat mir nach der „Wende“ geholfen, mein Mäntelchen nicht in den sich drehenden Wind zu halten. Deshalb geriet ich auf die „schwarze Liste“ des sächsischen Wissenschaftsministers und wurde (trotz eines Zusatzstudiums 1991-1993) von der TU Dresden entfernt, an der ich mein gesamtes Berufsleben (u.a. in den Wissenschaftsbereichen Physik und Elektroniktechnologie) verbracht hatte.

Heute organisiere ich für die gleich mir abrupt aus dem Berufsleben entfernten Kolleginnen und Kollegen ein breites Angebot an Veranstaltungen im Rahmen des Bezirksverbandes Dresden der GEW.

Ich finde, die Geschichte der Volksbildung der DDR sollte nicht zuletzt von denen geschrieben werden, die sie erlebt und mitgestaltet haben.

Peter Müller 


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